Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne. Kieferanomalie
Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Frage des Anspruchs auf Ersatz der vollen Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung bei Kindern. 2. Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne ist ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder - zugleich oder ausschließlich - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Als regelwidrig ist ein Körperzustand anzusehen, der von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm abweicht. Der nicht leicht zu umschreibende Begriff der "Gesundheit" ist für die Rechtspraxis ausreichend mit dem Zustand gleichzusetzen, der dem einzelnen die Ausübung der körperlichen Funktionen ermöglicht.
Nicht jede Abweichung von der morphologischen Idealnorm des Gebisses, der Kiefer sowie des Mund- und Rachenraumes stellt schon eine "Regelwidrigkeit" iS des Krankheitsbegriffs dar. Dies gilt dann, wenn die Funktionstauglichkeit des Gebisses nicht nennenswert beeinträchtigt ist und begründete Aussicht besteht, daß die gestörte Funktion sich auch ohne ärztliche Hilfe normalisiert.
Zur Prüfung der Wahrscheinlichkeitsprognose sind alle Umstände des Einzelfalles zu verwerten, insbesondere statistische Erkenntnisse über die Entwicklung bestimmter Anomalien, Dispositionen in der Personen des Patienten, die eine Verschlimmerung begünstigen oder ihr entgegenstehen und bedeutsame Umstände in der Familie.
Die gemäß RVO § 368p erlassenen Richtlinien zur Sicherung der kassenärztlichen Versorgung haben keine normative Bedeutung; sie bewirken aber eine Selbstbindung der Verwaltung. 3. Bei einer Abweichung von der morphologischen Idealnorm des Gebisses und der Kiefer liegt insbesondere dann keine Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne vor, wenn die Funktionstauglichkeit des Gebisses nicht nennenswert beeinträchtigt ist und auch - ohne ärztliche Behandlung - in Zukunft keine Funktionsstörungen zu befürchten sind.
4. Nicht jede Abweichung von der morphologischen Idealform des Kiefers stellt schon einen regelwidrigen Körperzustand iS des versicherungsrechtlichen Krankheitsbegriffes dar; ein solcher regelwidriger Körperzustand ist nur dann gegeben, wenn der Kiefer in einer seiner wesentlichen Funktionen, nämlich dem Beißen, dem Kauen oder dem Artikulieren der Sprache, beeinträchtigt wird.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1967-12-21, § 368p Abs. 1 Fassung: 1955-08-17
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 26. Januar 1972 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Ersatz der vollen Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung.
Der Kläger ist freiwillig weiterversichertes Mitglied der beklagten Ersatzkasse mit Anspruch auf Familienhilfe. Er reichte am 14. Oktober 1969 bei der Beklagten einen Behandlungsplan des Kieferorthopäden Dr. B für seine am 17. Mai 1958 geborene Tochter R ein und beantragte kieferorthopädische Behandlung wegen eines Schmalkiefers mit frontalem Engstand bei Distal- und Tiefbiß. Die Beklagte erklärte sich mit Schreiben vom 21. Oktober 1969 bereit, von dem Gesamthonorar, das 1.800,- bis 2.000,- DM betrug, ihm gemäß § 15 Nr. 6 ihrer Versicherungsbedingungen (VB) und den vom Vorstand erlassenen Richtlinien eine Beihilfe von 460,- DM zu gewähren.
Der Widerspruch des Klägers, mit dem er die Übernahme der gesamten Behandlungskosten begehrte, blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen: Die Zahn- und Kieferfehlstellung sei im Falle der Tochter des Klägers keine Krankheit i. S. des § 182 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 13 Nr. 1 Buchst. a) i. V. m. § 15 Nr. 1 der VB. Die von der Rechtsprechung des erkennenden Senats des Bundessozialgerichts (BSG) hinsichtlich des Begriffs der Krankheit aufgestellten Kriterien, denen es folge, seien im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Das ergebe sich aus der Verwertung des kieferorthopädischen Behandlungsplans des Dr. ..., der Kiefermodelle, der Röntgenaufnahmen sowie des schriftlichen Gutachtens des medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. H und seiner Ausführungen in der mündlichen Verhandlung. Der behandelnde Arzt Dr. B. ... habe lediglich einen Schmalkiefer geringen Grades angenommen und die Auffassung vertreten, voraussichtlich entstünden ohne Behandlung keine späteren Körperschäden. Diese Auffassung habe im Ergebnis auch der medizinische Sachverständige Prof. Dr. H. ... vertreten. Er habe darauf hingewiesen, daß bei dem Stand der Gebißentwicklung mit abgeschlossenem Zahnwechsel nicht mit einer weiteren Verschlechterung oder gar mit späteren Körperschäden zu rechnen gewesen sei. Dieser Befund hätte bei Nichtbehandlung auch nicht zu psychischen Schäden bei der Tochter des Klägers führen können.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger die zugelassene Revision eingelegt. Er ist der Auffassung, daß jede Kieferanomalie behandlungsbedürftig sei.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des SG Hamburg vom 9. September 1970 sowie des Bescheides der Beklagten vom 21. Oktober 1969 idF des Widerspruchsbescheides vom 23. März 1970 die Beklagte zu verurteilen, die Kosten der kieferorthopädischen Behandlung bei seiner Tochter R unter Anrechnung des bereits gezahlten Zuschusses zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision ist unbegründet.
Nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO i. V. m. § 205 RVO sowie § 13 Nr. 1 Buchst. a) und § 15 Nr. 1 VB haben Versicherte für bestimmte unterhaltsberechtigte Angehörige Anspruch auf Krankenpflege, die u. a. ärztliche und zahnärztliche Behandlung vom Beginn der Krankheit an umfaßt. Voraussetzung für den Anspruch auf Krankenpflege ist mithin eine Krankheit. Die RVO selbst enthält keine Legaldefinition dieses Rechtsbegriffs.
Im zahnmedizinischen Bereich ist nach § 1 Abs. 2 des Zahnheilkundegesetzes (ZHG) vom 31. März 1952 (BGBl I 221) Krankheit jede von der Norm abweichende Erscheinung im Bereich der Zähne, des Mundes und der Kiefer einschließlich der Anomalien der Zahnstellung und des Fehlens von Zähnen. Wie der Senat jedoch in BSG 11, 102, 111 f ausgeführt hat, verfolgt diese Vorschrift einen anderen Zweck als die Bestimmungen der RVO. Diese weite Fassung des ZHG kann mithin nicht auf den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung übertragen werden. Es ist vielmehr von dem Krankheitsbegriff der RVO auszugehen.
Im Anschluß an die ständige Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts - RVA - (AN 1916, 341; 1920, 319; 1937, IV 265), die der des Preußischen Oberverwaltungsgerichts entspricht (PreußVerwBl 23, 602), hat der Senat als Krankheit einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand angesehen, der ärztlicher Behandlung bedarf oder - zugleich oder ausschließlich - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BSG 13, 134; 26, 240; 30, 151). Als regelwidrig hat der Senat einen Körperzustand beurteilt, der von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm abweicht (BSG 26, 240, 242). Der seinerseits nicht leicht zu umschreibende Begriff der "Gesundheit" ist dabei für die Rechtspraxis ausreichend mit dem Zustand gleichzusetzen, der dem einzelnen die Ausübung der körperlichen Funktionen ermöglicht (vgl. BSG 30, 151, 153).
Wie der Senat in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom selben Tage - 3 RK 93/71 - entschieden hat, ist von der Funktionstauglichkeit her auch der Krankheitswert von Kiefer- und Zahnanomalien zu beurteilen. Nicht jede Abweichung von der morphologischen Idealnorm des Gebisses, der Kiefer sowie des Mundes und Rachenraumes stellt schon eine "Regelwidrigkeit" i. S. des aufgezeigten Krankheitsbegriffs dar. Kann jedoch der Kiefer eine seiner wesentlichen Funktionen, nämlich das Beißen, Kauen und Artikulieren der Sprache, nicht in befriedigendem Umfang erfüllen, liegen also Funktionsstörungen vor, dann ist ein regelwidriger Körperzustand gegeben.
Eine Krankheit im Rechtssinn (so RVA u. a. in AN 1936, GE 4992, S. IV 332; 1937, GE 5115, S. IV 265) oder eine Krankheit i. S. der Krankenversicherung (so RVA in AN 1920, 320) liegt allerdings nur dann vor, wenn der regelwidrige Körperzustand einer Behandlung bedarf. Diese Behandlungsbedürftigkeit hat der Senat dann bejaht, wenn ein regelwidriger Körperzustand ohne ärztliche Hilfe nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, mindestens aber gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt werden kann oder wenn ärztliche Behandlung erforderlich ist, um Schmerzen oder sonstige Beschwerden zu lindern (BSG 13, 134; 26, 240, 243; 28, 114, 115).
Hiernach entfällt das Bedürfnis nach Behandlung, wenn begründete Aussicht besteht, daß die gestörte Körperfunktion sich auch ohne ärztliche Hilfe normalisiert. Eine Kiefer- oder Zahnstellungsanomalie ist somit nicht behandlungsbedürftig, wenn eine Selbstregulierung der Fehlstellung der Zähne hinreichend wahrscheinlich ist.
Besteht diese begründete Aussicht aber nicht, so erfordert die Anomalie zahnärztliche Behandlung schon dann, wenn auf diese Weise die Beeinträchtigung einer oder mehrerer der genannten Funktionen des Kiefer- und Zahnsystems ganz oder teilweise behoben werden kann. Das Ziel der Herstellung oder Wiederherstellung der Funktionstauglichkeit rechtfertigt bereits für sich allein das Behandlungsbedürfnis.
Regelmäßig wird daneben auch der Gefahr von Verschlimmerungen begegnet werden müssen, sei es, daß sich unbehandelt die Funktionsstörung immer stärker ausprägt, sei es, daß sich Folgeerkrankungen - wie Parodontose oder Störungen im Magen- und Darmtrakt - einstellen. Entgegen einer vielfach vertretenen Auffassung darf die zahnärztliche Behandlung in einem solchen Falle nicht als eine nur vorbeugende Maßnahme "zur Verhütung von Erkrankungen" i. S. des § 187 Nr. 4 RVO angesehen werden. Vielmehr ist bei diesem Sachverhalt die Erkrankung bereits eingetreten. Die Gefahr der Verschlimmerung verstärkt nur noch das Bedürfnis nach Behandlung, das schon aus dem Gesichtspunkt der Herstellung der Funktionstauglichkeit begründet ist. Dabei muß eine Verschlimmerungsgefahr nicht in der Weise "unmittelbar" drohen, daß ohne sofortige Behandlung mit dem alsbaldigen Eintritt einer wesentlichen Verschlimmerung zu rechnen ist. Das Leiden braucht den Betroffenen auch (noch) keine besonderen Schmerzen oder Beschwerden zu bereiten, es genügt vielmehr, daß es sich unbehandelt wahrscheinlich verschlimmern wird und daß dem Eintritt einer solchen Verschlimmerung am besten, d. h. mit der größten Aussicht auf Erfolg, durch eine möglichst frühzeitige Behandlung entgegengewirkt wird (BSG 30, 151, 153 mit weiteren Nachweisen, u. a. auch Bayer. LSG in Breith. 1968, 725, wo die kieferorthopädische Frühbehandlung vor dem Eintritt von Beschwerden zur Verhinderung einer Verschlimmerung als Krankenpflege i. S. der RVO angesehen wird).
Zur Prüfung der Wahrscheinlichkeitsprognose sind alle Umstände des Einzelfalles zu verwerten, insbesondere statistische Erkenntnisse über die Entwicklung bestimmter Anomalien, Dispositionen in der Person des Patienten, die eine Verschlimmerung begünstigen oder ihr entgegenstehen und bedeutsame Umstände in der Familie (so zutreffend Schlüter, SGb 1971, 465, 470). Ist eine Behandlungsbedürftigkeit im obengenannten Sinne gegeben, so ist die zahnärztliche Behandlung i. S. des § 182 Abs. 2 RVO notwendig. Unter Beachtung dieser Gesichtspunkte ist die kieferorthopädische Behandlung als Sachleistung zu gewähren.
Inwieweit die "Ergänzung der Richtlinien für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kassenzahnärztliche Versorgung" vom 23. August 1971 (Bundesanzeiger 1972 Nr. 167 S. 1), die vom Bundesausschuß der Zahnärzte und Krankenkassen beschlossen und vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung am 25. August 1972 bekanntgegeben wurde, den vorstehend entwickelten Rechtsgrundsätzen entspricht und insbesondere den Kreis der Kiefer- und Zahnfehlstellungen mit Krankheitswert richtig abgrenzt, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Abgesehen davon, daß diese Richtlinien den vorliegenden Sachverhalt schon deswegen nicht erfassen, weil die kieferorthopädische Behandlung des Kindes des Klägers vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossen war, sind sie auch nicht in der Lage, das gesetzliche Leistungsrecht der RVO zu ändern (vgl. dazu Schlüter aaO S. 471 unter Hinweis auf Langkeit in Pharmazeutische Zeitung 1970, 1450). Den Richtlinien zur Sicherung der kassenzahnärztlichen Versorgung kommt keine normative Bedeutung zu (vgl. zu einem ähnlichen Sachverhalt BSG 6, 252 und Urteil vom 30. September 1966 in SozR Nr. 18 zu § 35 BVG mit weiteren Nachweisen sowie BSG in SozR Nr. 5 zu § 5 VwZG). Sie sind insofern von Bedeutung, als sich die Verwaltung dadurch selbst bindet, d. h. wenn die in den Richtlinien genannten Kieferanomalien vorliegen, ist die Kasse auf jeden Fall verpflichtet, kieferorthopädische Maßnahmen als Sachleistung gemäß § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO zu gewähren.
Nach den Feststellungen des LSG, die sich auf den Behandlungsbericht von Dr. ... sowie auf das Gutachten des Direktors der Kieferorthopädischen Abteilung der Universitäts- und Poliklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten in Hamburg, Prof. Dr. H. stützen, hat bei der Tochter des Klägers zu Beginn ihrer Behandlung zwar eine Abweichung von der morphologischen Idealnorm des Gebisses und der Kiefer vorgelegen, die jedoch die Funktionstauglichkeit des Gebisses nicht nennenswert beeinträchtigte und - unbehandelt - auch nicht in Zukunft Funktionsstörungen befürchten ließ. Eine solche leichte Kiefer- und Zahnfehlstellung stellt, wie dargelegt, keinen "regelwidrigen Körperzustand" im Sinne des versicherungsrechtlichen Krankheitsbegriffs dar, weil sie sich noch innerhalb der Bandbreite des "Leitbildes des gesunden Menschen" hält. Sie mag zwar - mit dem Ziel, eine "ideale" Gebißstellung zu erreichen - behandlungsfähig sein, wie der vorliegende Sachverhalt zeigt, ist jedoch nicht durch das Erfordernis der Herstellung oder Wiederherstellung der Gesundheitsgerechtfertigt. Sie hat demnach keinen Krankheitswert.
Nach alledem hat der Kläger keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Ersatz der Kosten für die kieferorthopädische Behandlung seiner Tochter Regina.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen