Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorübergehende Tätigkeit iS von § 788 RVO
Orientierungssatz
1. Eine Tätigkeit "in der Landwirtschaft" liegt immer dann vor, wenn sie in einem Betrieb verrichtet wird, der ein Unternehmen der Landwirtschaft iS des § 776 Abs 1 Nr 1 RVO ist.
2. Die Richtzahl von 21 Tagen, die nach Übereinkunft zwischen den berufsgenossenschaftlichen Verbänden zur Abgrenzung der "vorübergehenden Tätigkeit" iS des § 788 RVO von der Tätigkeit eines dauernd in der Landwirtschaft Beschäftigten dienen soll, hat keine absolut verbindliche Bedeutung (vgl BSG 1969-06-27 2 RU 52/67 = SozR Nr 1 zu § 780 RVO). Sie ist zudem auf ein landwirtschaftliches Unternehmen mit einem ganzjährigen durchschnittlichen Arbeitsanfall zugeschnitten, als Maßstab mithin ungeeignet, wenn in dem Mitgliedsbetrieb im Hinblick auf seine Größe und Bewirtschaftung nicht ganzjährig in durchschnittlichem Umfange Arbeiten anfallen. Auch eine unter der Richtzahl von 21 Tagen liegende und damit zeitlich geringere Tätigkeit in der Landwirtschaft ist daher nicht allein schon deshalb eine Tätigkeit "vorübergehender Art" iS des § 788 RVO, wenn der geringe zeitliche Umfang auf den beschränkten Arbeitsanfall des landwirtschaftlichen Unternehmens zurückzuführen ist.
Normenkette
RVO § 788 Fassung: 1963-04-30, § 776 Abs 1 S 1 Nr 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 25.03.1982; Aktenzeichen L 7 U 1133/81) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 08.05.1981; Aktenzeichen S 3 U 977/79) |
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagte aus Anlaß des Unfalls des Beigeladenen zu 2) (S.) auf Ersatz nach § 788 Reichsversicherungsordnung (RVO) in Anspruch.
Die Mutter des S. ist als Eigentümerin eines 500 qm großen Grundstücks Mitglied der Klägerin. S. erlitt am 15. Oktober 1977 beim Äpfelpflücken auf diesem Grundstück einen Unfall, der von der Klägerin als Arbeitsunfall anerkannt wurde; er bezog von der Klägerin wegen der Unfallfolgen eine Verletztenrente, die zum 30. September 1979 entzogen wurde. Der Rentenberechnung hatte die Klägerin den tatsächlichen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 32.947,60 DM zugrunde gelegt. Zur Zeit des Unfalls war S. bei der Firma B. GmbH in S., einem Mitgliedsbetrieb der Beklagten, als Betriebswirt beschäftigt.
Die Beklagte lehnte den von der Klägerin beantragten nach § 788 RVO vorzunehmenden sog Lastenausgleich ab: Das Grundstück, auf dem sich der Unfall ereignet habe, sei kein landwirtschaftliches Unternehmen, sondern ein Kleingarten.
Der daraufhin von der Klägerin erhobenen Klage hat das Sozialgericht (SG) Stuttgart mit Urteil vom 8. Mai 1981 entsprochen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. März 1982). Das LSG hat ausgeführt: § 788 RVO setze ua voraus, daß der Verletzte vorübergehend in der Landwirtschaft tätig geworden sei. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei diese Voraussetzung nicht erfüllt. S. helfe praktisch ständig mit; seine Arbeitsleistung erreiche dabei etwa diejenige seiner durch eine Behinderung in den Armen in der Arbeit beeinträchtigten Mutter. S. werde jährlich etwa acht- bis zehnmal auf dem Grundstück tätig und sei damit mitarbeitender Familienangehöriger. Daß er die in der Übereinkunft zwischen den berufsgenossenschaftlichen Verbänden (vgl Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften VB 61/68 vom 4. April 1968, Rundschreiben des Bundesverbandes der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften V 11/68 vom 24. April 1968) festgelegte Richtzahl von 21 Tagen nicht erreicht habe, sei unerheblich. Zum einen sei die Richtzahl nicht absolut verbindlich, zum anderen seien, da nur eine Formalversicherung bestehe, andere Maßstäbe anzuwenden. Selbst wenn man aber die unfallbringende Tätigkeit des S. als vorübergehende ansehe, könne der Berufung nicht der Erfolg versagt werden. Denn bei einer Formalversicherung sei der Anspruch nach § 788 RVO nicht durchsetzbar. Bei dem Baumgrundstück handele es sich nicht um ein landwirtschaftliches Unternehmen, sondern um einen Kleingarten iS des § 778 RVO. Zum einen werde bei weitem nicht die übliche Höchstgrenze von 25 ar erreicht, zum anderen erfolge weder eine regelmäßige noch eine intensive Bewirtschaftung. Die Erzeugnisse würden zudem nicht überwiegend verkauft. Hiernach bestehe bei der Klägerin nur eine sog Formalversicherung, in deren Rahmen S. nach § 539 Abs 2 RVO versichert gewesen sei. Zwar handele es sich bei der am Unfalltag verrichteten Tätigkeit nur um eine Gefälligkeitshandlung, aber gerade solche geringfügigen Tätigkeiten seien Gegenstand der Formalversicherung. Im übrigen ergebe die anzustellende Gesamtschau, daß S. im Rahmen der Bewirtschaftung des Baumgrundstücks regelmäßig und etwa in gleichem Umfang tätig geworden sei wie seine Mutter, so daß von einer Gefälligkeitshandlung nicht mehr gesprochen werden könne. Das Rechtsinstitut der Formalversicherung begünstige allerdings nur die Anspruchsverfolgung durch den Verletzten. Es sei nicht dazu bestimmt, Vertrauenstatbestände zu Lasten dritter Versicherungsträger zu schaffen oder die Anspruchsverfolgung nach § 788 RVO zu erleichtern oder gar erst durchsetzbar zu machen.
Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen (Beschluß vom 28. Juli 1982 - 2 BU 102/82 -) - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 776, 778, 788 RVO. Zur Begründung trägt sie ua vor: § 788 RVO erfülle den mit dieser Regelung verfolgten Zweck unabhängig davon, ob der Unfallbetrieb materiell- oder formalrechtlich versichert sei. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts sei S. - insoweit bestehe zwischen der Klägerin und der Beklagten Übereinstimmung - auch vorübergehend tätig geworden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nicht richtig, daß S. etwa in gleichem Umfange wie seine Mutter tätig geworden sei. Denn die Mutter des S. sei nach ihrer Aussage "sehr viel auf dem Grundstück oben" gewesen, S. aber im Jahr nur ca fünf- bis sechsmal oder etwa acht- bis zehnmal und dann jeweils nicht mehr als zwei bis drei Stunden. Wie sich aus den Verwaltungsakten ergebe, habe es sich um eine gelegentliche Tätigkeit an sieben Tagen seit Mitte 1977 gehandelt, vorher um eine höchstens zwei- bis dreimalige Mithilfe im Jahr, wenn S. zufällig bei seiner Mutter zu Besuch gewesen sei. Letztlich komme es darauf aber nicht an, da der Umfang der Tätigkeit des Unternehmers keinen Maßstab dafür darstelle, ob die Tätigkeit des Helfers als vorübergehende zu werten sei. Ausschlaggebend sei vielmehr, daß S. nur relativ selten auf der Baumwiese seiner Mutter gearbeitet habe. Der Grasbewuchs und die Pflege und Aberntung von 17 oder 18 Obstbäumen erforderten einen wesentlich häufigeren und zeitlich umfangreicheren Arbeitsaufwand; deshalb seien wohl auch der benachbarte Landwirt und eine Tochter der Unternehmerin mit in Anspruch genommen worden. Damit aber sei S. ganz beträchtlich unter dem Richtwert von 21 Tagen geblieben.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. März 1982 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 8. Mai 1981 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie meint, daß das Merkmal der "Landwirtschaft" in § 788 RVO nicht erfüllt sei.
Der Beigeladene zu 1) stellt keinen Antrag. Er schließt sich der Auffassung der Klägerin an und meint, daß die Voraussetzungen des § 788 RVO zweifelsfrei gegeben seien.
Der Beigeladene zu 2) hat sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Das LSG hat im Ergebnis zu Recht einen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte nach § 788 RVO verneint. Danach hat der Träger der allgemeinen Unfallversicherung der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft die an den Verletzten erbrachten Leistungen zu erstatten, soweit sie über das hinausgehen, was für einen mit gleichen Arbeiten dauernd in der Landwirtschaft Beschäftigten zu leisten ist; Voraussetzung dafür ist, daß der Verletzte nur vorübergehend in der Landwirtschaft tätig und zur Zeit des Unfalls hauptberuflich bei einem Träger der allgemeinen Unfallversicherung versichert ist.
Eine Tätigkeit "in der Landwirtschaft" liegt immer dann vor, wenn sie in einem Betrieb verrichtet wird, der ein Unternehmen der Landwirtschaft iS des § 776 Abs 1 Nr 1 RVO ist. Es kann hier dahinstehen, ob das Grundstück der Mutter des S. gem § 778 RVO nicht als landwirtschaftliches Unternehmen gilt und ob - wie das LSG meint - für den sog Lastenausgleich nach § 788 RVO dem Umstand, daß die Mitgliedschaft des Unternehmers ohne Rechtsgrund geführt wird, Bedeutung beizumessen ist. Denn bei der Tätigkeit des S. im Garten seiner Mutter handelte es sich nicht um eine Tätigkeit vorübergehender Art iS des § 788 RVO. Dies gilt ungeachtet dessen, daß die Beklagte im Verwaltungsverfahren bestätigt hat, auch sie sehe die unfallbringende Tätigkeit des S. als eine vorübergehende Aushilfe an. An die übereinstimmende Rechtsauffassung der Beteiligten zu den Voraussetzungen des streitbefangenen Anspruchs ist das Gericht bei seiner rechtlichen Beurteilung nicht gebunden. Auch ein Schuldanerkenntnis ist durch diese Erklärung nicht begründet worden; ein derartiger öffentlich-rechtlicher Vertrag müßte nämlich die Anerkennung eines Schuldverhältnisses zum Inhalt haben (vgl § 781 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Das Bestehen eines Ersatzanspruchs der Klägerin wird aber von der Beklagten gerade nicht anerkannt, sondern verneint.
Nach den von der Revision insoweit nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG war S. jährlich etwa acht- bis zehnmal auf dem Grundstück tätig. Der zeitliche Umfang dieses Arbeitseinsatzes liegt zwar weit unterhalb der vom BSG als "brauchbar" angesehenen Richtzahl von 21 Tagen (BSG SozR Nr 1 zu § 780 RVO; BSGE 47, 137, 139), die nach der Übereinkunft zwischen den berufsgenossenschaftlichen Verbänden zur Abgrenzung der "vorübergehenden Tätigkeit" iS des § 788 RVO von der Tätigkeit eines dauernd in der Landwirtschaft Beschäftigten dienen soll (im Wortlaut abgedruckt bei Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 788 RdNr 2). Danach ist eine Tätigkeit von 21 Tagen im Jahr vor dem Arbeitsunfall ohne Rücksicht auf die tägliche Arbeitsdauer noch als eine vorübergehende Tätigkeit anzusehen (vgl BSGE aaO). Der Frage, ob die - vom LSG nicht näher begründete - Auffassung zutrifft, daß bei einer Formalversicherung ein anderer Maßstab anzuwenden sei, braucht jedoch nicht weiter nachgegangen zu werden, denn die 21-Tage-Grenze darf hier aus anderen Gründen, die das LSG bei seiner Entscheidung unberücksichtigt gelassen hat, nicht zugrunde gelegt werden.
Die Richtzahl von 21 Tagen hat keine absolut verbindliche Bedeutung (BSG SozR Nr 1 zu § 780 RVO). Sie ist zudem auf ein landwirtschaftliches Unternehmen mit einem ganzjährigen durchschnittlichen Arbeitsanfall zugeschnitten, als Maßstab mithin ungeeignet, wenn in dem Mitgliedsbetrieb im Hinblick auf seine Größe und Bewirtschaftung nicht ganzjährig in durchschnittlichem Umfange Arbeiten anfallen. Auch eine unter der Richtzahl von 21 Tagen liegende und damit zeitlich geringere Tätigkeit in der Landwirtschaft ist daher nicht allein schon deshalb eine Tätigkeit "vorübergehender Art" iS des § 788 RVO, wenn der geringe zeitliche Umfang auf den beschränkten Arbeitsanfall des landwirtschaftlichen Unternehmens zurückzuführen ist (Noell/Breitbach, Landwirtschaftliche Unfallversicherung, 1963, § 787 Anm 2 Buchst a).
Das bedeutet jedoch nicht, daß vorliegend im Hinblick auf die vom LSG festgestellte geringe Größe und nicht intensive Bewirtschaftung des Gartens "andere Maßstäbe" herangezogen werden müssen als die 21-Tage-Richtzahl. Denn die Anwendung einer - anderen - Richtzahl, die als Abgrenzungskriterium zwischen der vorübergehenden und der dauernden Tätigkeit in der Landwirtschaft dienen soll, erübrigt sich dann, wenn der Arbeitsanfall in etwa zu gleichen Teilen von dem Unternehmer und seinem Helfer bewältigt wird. Ausgehend von der Relation zwischen der 21-Tage-Richtzahl und dem ganzjährigen Arbeitsanfall in einem landwirtschaftlichen Unternehmen ist, wenn die Tätigkeit des Helfers die Hälfte oder in etwa die Hälfte des Arbeitsanfalls umfaßt, die Grenze zwischen der vorübergehenden und der dauernden Tätigkeit jedenfalls weit überschritten, so daß sich die Tätigkeit des Helfers nur als dauernde qualifizieren läßt. Dies entspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des BSG. Der Senat hat in seinem Urteil vom 27. Juni 1969 (SozR Nr 1 zu § 780 RVO) als entscheidend für eine nicht nur vorübergehende Mitarbeit angesehen, daß es sich um eine regelmäßige Mitarbeit gehandelt hat, mit deren Verrichtung der Unternehmer ständig rechnen konnte. Ebenso hat der Senat in seinem Urteil vom 31. Oktober 1978 (BSGE 47, 137, 139) ausgeführt, durch die regelmäßige Tätigkeit, mit welcher der Unternehmer ständig rechnen kann, unterscheidet sich die der mitarbeitenden Familienangehörigen iS des § 780 Abs 2 RVO von einem Familienangehörigen, der nur vorübergehend, etwa während der Ernte, im elterlichen landwirtschaftlichen Unternehmen beschäftigt wird. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG entsprach die Arbeitsleistung des S. in etwa der seiner Mutter, und S. half "praktisch ständig mit". Danach konnte die Mutter des S. mit der Mitarbeit des S. und dem Umfang seiner Mitarbeit ständig rechnen. Auch insoweit war das Tatbestandsmerkmal der nur vorübergehenden Tätigkeit iS des § 788 RVO nicht erfüllt. Die von der Revision dagegen erhobene Rüge, daß dies nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht richtig sei, die Mutter vielmehr "sehr viel auf dem Grundstück oben" tätig gewesen sei, richtet sich gegen die freie richterliche Beweiswürdigung des LSG (s § 128 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), die grundsätzlich nur eingeschränkt, zB auf Verstöße gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze, nachprüfbar ist.
Auch der weitere Einwand der Revision, die Arbeitsleistung des Unternehmers sei ein unzulässiger Maßstab für die Bewertung der Tätigkeit des Helfers als vorübergehende, greift nicht durch. Richtig an dieser Auffassung ist zwar, daß die Tätigkeit des Helfers nicht in Relation zu der Arbeitsleistung des Unternehmers gesehen werden darf, sondern in Relation zu dem tatsächlichen Arbeitsanfall gestellt werden muß. Den Feststellungen des LSG läßt sich aber entnehmen, daß die Arbeitsleistungen von Mutter und Sohn gemeinsam dem tatsächlichen Arbeitsanfall auf dem Grundstück entsprachen. Das Revisionsvorbringen, der Grasbewuchs und die Pflege und Aberntung von 17 oder 18 Obstbäumen hätten einen wesentlich häufigeren und zeitlich umfangreicheren Arbeitsaufwand erfordert, so daß der benachbarte Landwirt und die Tochter in Anspruch genommen worden seien, ist ein neuer Tatsachenvortrag, der in der Revisionsinstanz grundsätzlich unbeachtlich ist. Nach den bindenden Feststellungen des LSG bewältigte S. den Gesamtarbeitsanfall regelmäßig und praktisch gemeinsam mit seiner Mutter, so daß es sich nicht um eine vorübergehende Tätigkeit handelte, wie auch das LSG im Ergebnis zutreffend entschieden hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen