Leitsatz (amtlich)
Der Grundsatz, daß Unfallrenten nicht gewährt werden können, wenn der Verletzte schon vor dem Eintritt einer auf einen Unfall oder einer Berufskrankheit beruhenden - unfallrentenrechtlich relevanten - Minderung der Erwerbsfähigkeit durch ein von dem Unfall bzw der Berufskrankheit unabhängiges Leiden völlig erwerbsunfähig war, ist bei der Entscheidung über die Erhöhung einer Unfallrente wegen eingetretener wesentlicher Verschlimmerung nicht anwendbar.
Normenkette
RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 581 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 561 Fassung: 1925-07-14
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Juni 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Rente des Klägers zu erhöhen ist. Die Beklagte erkannte bei dem im Jahre 1902 geborenen Kläger mit Bescheid vom 23. Januar 1958 eine Staublungenerkrankung als Berufskrankheit an und gewährte ihm vom 19. August 1957 an eine Teilrente von 40 v. H. der Vollrente. Auf einen vom Kläger am 24. September 1970 gestellten Antrag, seine Rente zu erhöhen, weil sich die Berufskrankheit verschlimmert habe, holte die Beklagte ein Gutachten des Facharztes für innere Medizin Dr. H vom 9. Dezember 1970 ein. Dr. H stellte keine wesentliche Änderung in Befund der Silikose fest. Mit Bescheid vom 15. Januar 1971 lehnte darauf die Beklagte eine Erhöhung der bisher gewährten Rente ab, weil sich die Berufskrankheit nicht wesentlich verschlimmert habe. Unabhängig von der Silikose sei eine Bronchitis bei Lungenemphysem vorhanden. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Duisburg und legte ein Gutachten des Facharztes für Lungenkrankheiten Dr. St vom 21. Januar 1971 vor. Nach Ansicht von Dr. St hat sich der Befund gegenüber dem sich aus den im Jahre 1957 angefertigten Röntgenaufnahmen ergebenden Befund verschlimmert; nach dem jetzt vorhandenen Befund sei die sich daraus ergebende Erwerbsminderung mit 50 v. H. zu beurteilen. Das SG holte noch ein Gutachten mit einem lungenfunktionsdiagnostischen Zusatzgutachten von dem Medizinaldirektor Dr. O vom 26./27. August 1971 ein. Hiernach hat sich der Befund seit dem im Jahre 1947 erstatteten Gutachten insofern verändert, daß der Staublungenprozeß im Röntgenbild allmählich fortgeschritten sei und die funktionellen Folgeerscheinungen der Silikose im Vergleich zu damals wesentlich ungünstiger zu beurteilen seien. Die berufskrankheitsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei seit dem Zeitpunkt des Eintritts der Verschlimmerung um 10 v. H. höher, also mit 50 v. H. einzuschätzen. Die Beklagte legte darauf eine gutachtliche Äußerung von Dr. R/Dr. U vom 25. Oktober 1971 vor, nach deren Ansicht neben der Silikose eine erhebliche schicksalhafte, chronische Emphysembronchitis vorliegt, die als wesentliche Teilursache der festgestellten Erhöhung des Atemwiderstandes anzusehen sei. Unter Berücksichtigung der langjährigen Konstanz des Röntgenbefundes und der sich daraus ergebenden insgesamt günstigen Verlaufsform der Silikose sei die bisher gewährte Entschädigung nach einer MdE um 40 v. H. weiterhin angemessen.
Das SG Duisburg hat mit Urteil vom 16. März 1972 den Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 1971 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 21. Januar 1971 eine Teilrente von 50 v. H. der Vollrente zu zahlen. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 15. Juni 1972 zurückgewiesen.
Das LSG stellt zur Begründung seines Urteils fest, daß die im rechten Oberfeld vorhandenen Konfluenzerscheinungen allmählich zugenommen und Anlaß zu der nunmehr bestehenden, wenn auch noch wenig festen Ballung gegeben hätten. Auch in den Mittel- und Unterfeldern seien die Staubknötchen näher aneinandergerückt, wodurch mehrere kleine Konfluenzbezirke entstanden seien. Schließlich habe sich neben der rechten Lungenwurzel ein knapp kirschgroßer Knoten gebildet. Hieraus habe Dr. O überzeugend gefolgert, daß die Silikose in den vergangenen 14 Jahren sehr langsam - hauptsächlich durch Konfluenz- und Ballungstendenzen - fortgeschritten sei. Es sei auch eine Befundverschlechterung in Gestalt von deutlich erhöhten Atemwegswiderständen als Zeichen einer obstruktiven Belüftungsstörung eingetreten. In der weiteren Urteilsbegründung hat sich das LSG eingehend mit den vorhandenen medizinischen Unterlagen auseinandergesetzt und dargelegt, warum es den Darlegungen in dem Gutachten von Dr. O gefolgt ist. Es ist zu dem Ergebnis gekommen, daß durch die eingetretenen Verschlimmerungen ab 21. Januar 1971 die Festsetzung einer MdE von 50 v. H. gerechtfertigt sei. Der Meinung der Beklagten, eine Erhöhung der dem Kläger bisher gewährten Teilrente von 40 v. H. komme schon deswegen nicht in Betracht, weil dieser inzwischen aus anderen, silikoseunabhängigen Gründen völlig erwerbsunfähig geworden sei, sei nicht zu folgen. Diese Auffassung übersehe, daß § 561 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF auf den Zeitpunkt des Arbeitsunfalls bzw. den Beginn der Berufskrankheit abgestellt habe. Hier handele es sich nicht um eine Erstfeststellung, also nicht um den Fall des erstmaligen Eintritts einer rentenberechtigenden MdE, sondern um eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, deren Beurteilung sich allein nach § 622 RVO richte. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der Revision macht die Beklagte geltend, es gehe vorrangig um die Entscheidung der Frage, ob eine Erhöhung der wegen einer Berufskrankheit festgestellten MdE auch dann noch möglich sei, wenn der Versicherte vor Eintritt der Verschlimmerung der Berufskrankheit aus anderen Gründen völlig erwerbsunfähig geworden sei. Die in der Unfallversicherung geltende Kausalitätsnorm könne nur einheitlich Anwendung finden. Deshalb müsse sowohl bei der Anerkennung als auch bei der Anhebung einer wegen Silikose gezahlten Rente die Berufskrankheit Ursache des jeweiligen berufskrankheitsbedingten Zustandsbildes sein. Schließlich stelle es einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, daß das LSG ohne weitere Sachaufklärung den Nachweis einer wesentlichen Verschlimmerung für erbracht angesehen hat. Bei den in den vorhandenen Gutachten zu dieser Frage vertretenen Ansichten hätte es einer weitergehenden Prüfung bedurft.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Juni 1972 sowie das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 16. März 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er beruft sich im wesentlichen auf die von ihm für richtig gehaltenen Ausführungen des LSG.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Nach § 622 Abs. 1 RVO ist, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Leistung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, eine neue Feststellung zu treffen. Das LSG ist aufgrund der vorhandenen medizinischen Unterlagen, insbesondere aufgrund des von Dr. O erstatteten Gutachtens, zu dem Ergebnis gekommen, daß sich die Silikoseerkrankung des Klägers verschlimmert und eine Erhöhung der durch diese Erkrankung bedingten MdE von 40 v. H. auf 50 v. H. gerechtfertigt ist. Ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften ist hierbei - entgegen der Rüge der Beklagten - nicht erkennbar. Das LSG hat sich eingehend mit den vorliegenden ärztlichen Gutachten und Stellungnahmen auseinandergesetzt und eingehend dargelegt, warum es die von Dr. O vertretenen Ansichten zur Frage der Verschlimmerung und der nunmehr durch die Silikose bedingten MdE für richtig ansieht. Diese Darlegungen sind ohne erkennbare Widersprüche, und es ergibt sich auch nichts dafür, daß sich das LSG hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Gutachten einzuholen. Die vorhandenen medizinischen Unterlagen konnten vielmehr von dem LSG als ausreichend angesehen werden, um die Fragen einer Verschlimmerung und der nunmehr durch die Berufskrankheit bedingten MdE zu entscheiden.
Der erkennende Senat hat - nach Wegfall des § 561 RVO aF - in nunmehr ständiger Rechtsprechung aus § 581 Abs. 1 RVO geschlossen, daß ein Anspruch auf die Verletztenrente nicht besteht, wenn der Versicherte durch ein von dem Unfall oder der Berufskrankheit unabhängiges Leiden bereits zu einer Zeit völlig erwerbsunfähig geworden ist, als der Unfall oder die Berufskrankheit sich noch nicht in unfallrentenrechtlich relevantem Maße auf seine Erwerbsfähigkeit ausgewirkt hatten (vgl. SozR Nrn. 6, 14 und 15 zu § 581 RVO). Der Gesetzgeber hat § 561 RVO aF aufgehoben, weil er ihm überflüssig erschien, da die in dieser Vorschrift vorgeschriebenen Folgen sich schon, wie die o. a. Entscheidungen zeigen, aus dem sich aus § 581 RVO (§ 559 a RVO aF) ergebenden Kausalitätsgrundsatz ohne weiteres ergeben. Aus dem Umstand aber, daß der Gesetzgeber diese Vorschrift lediglich deshalb aufgehoben hat, weil er sie als überflüssig angesehen hat, muß geschlossen werden, daß er die Rechtslage an sich nicht ändern wollte. Die Rechtsstellung der Versicherten hat sich daher durch die Aufhebung des § 561 RVO aF weder verbessert noch verschlechtert. Vor und nach dieser Aufhebung konnte und kann eine Verletztenrente dann, aber auch nur dann nicht gewährt werden, wenn eine an sich unfallrentenrechtlich relevante MdE erst eingetreten wäre, wenn der Verletzte bereits vorher aus anderen Gründen völlig erwerbsunfähig geworden war. Die Erhöhung einer bereits festgestellten Verletztenrente konnte und kann daher andererseits nicht mit der Begründung versagt werden, der Verletzte sei aus anderen Gründen inzwischen völlig erwerbsunfähig geworden. Wenn eine Entschädigungspflicht einmal entstanden ist, dann entfaltet sie ein Eigendasein, welches die Berücksichtigung weiterer Veränderungen erfordert.
Die sich aus dem § 581 Abs. 1 RVO ergebende Wirkung, daß Unfallrenten nicht gewährt werden können, wenn der Verletzte schon zur Zeit des Unfalls oder des Eintritts der Berufskrankheit oder vor Eintritt einer unfallrentenrechtlich relevanten MdE völlig erwerbsunfähig war, läßt sich daher nicht auf die Erhöhung von beim Eintritt der völligen Erwerbsunfähigkeit bereits laufender Unfallrenten ausdehnen.
Im übrigen hat der Senat bereits entschieden, daß die sich aus dem in § 581 RVO enthaltenen Kausalitätsgrundsatz ergebenden Folgen dadurch in engen Grenzen zu halten sind, daß an den Begriff "völlige Erwerbsunfähigkeit" strenge Anforderungen zu stellen sind und eine völlige Erwerbsunfähigkeit in diesem Sinne nicht etwa schon vorliegt, wenn eine Erwerbsunfähigkeit i. S. des § 1247 Abs. 2 RVO gegeben ist (SozR Nr. 15 zu § 581 RVO).
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG war nach alledem zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen