Leitsatz (amtlich)
Ist nicht offenkundig, daß der Tod eines Versicherten mit der gemäß RVO § 589 Abs 2 S 2 zum Anerkenntnis gekommenen entschädigungspflichtigen Berufskrankheit nicht in einem ursächlichen Zusammenhang gestanden hat, ist Anspruch auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung gegeben.
Leitsatz (redaktionell)
Es trifft nicht zu, daß von einer nicht nur ganz entfernt liegenden Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen anerkannter Berufskrankheit und Tod des Versicherten erst dann gesprochen werden könne, "wenn sie ganz allgemein zum wissenschaftlichen Erfahrungsgut geworden ist".
Normenkette
RVO § 589 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Oktober 1972 aufgehoben, soweit es die Überbrückungshilfe und das Sterbegeld betrifft; insoweit wird die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 12. Mai 1971 als unzulässig verworfen. Im übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenentschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Die Klägerin ist die Witwe des am 29. Juli 1965 verstorbenen früheren Bergmannes W Sch (Sch.). Diesem hatte die beklagte Bergbau-Berufsgenossenschaft wegen einer als Berufskrankheit anerkannten Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) die Verletztenrente zuletzt nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. gewährt.
Nach dem Tode Sch.'s versagte die Beklagte auf Grund eines nach Leichenöffnung erstatteten Gutachtens des Prof. Dr. K mit zustimmender Äußerung des Staatlichen Gewerbearztes in B der Klägerin Witwenentschädigung: Sch. sei mit einer ernsthafte Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit an den Folgen eines Bronchialkrebses mit Tochtergeschwülsten u. a. im Gehirn gestorben (Bescheid vom 28. Juni 1967).
Mit der hiergegen erhobenen Klage hatte die Klägerin zwar nicht in erster Instanz vor dem Sozialgericht (SG) - das weitere medizinische Gutachten von Prof. Dr. W und Prof. Dr. B, H, eingeholt hatte -, wohl aber in zweiter Instanz vor dem Landessozialgericht (LSG) - das als weiteren medizinischen Sachverständigen Dr. W gehört hatte - Erfolg. Mit der angefochtenen Entscheidung vom 5. Oktober 1972 hat das LSG die Beklagte unter Aufhebung ihres Ablehnungsbescheides und des Urteils des SG verurteilt, der Klägerin Sterbegeld, Überbrückungshilfe und Witwenrente zu gewähren. In der Begründung heißt es: Es sei nicht offenkundig im Sinne des § 589 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), daß der Tod Sch.'s mit der bei ihm anerkannt gewesenen Silikose nicht in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe. Eine ernsthafte, nicht nur ganz entfernt liegende Möglichkeit im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), daß der Tod durch die anerkannte Berufskrankheit mitverursacht worden sei, sei anzunehmen, wenn namhafte ärztliche Sachverständige einleuchtende Möglichkeiten eines solchen ursächlichen Zusammenhangs darlegten. Prof. Dr. B habe überzeugend die Möglichkeit dargetan, daß sich der Bronchialkrebs im Zusammenhang mit dem infolge der anerkannten Berufskrankheit chronisch krankhaften Organsystem entwickelt habe; auch könne nach Dr. W aus einer silikotischen Lungennarbe ein "Reizkrebs" entstehen. Es bestehe also eine naheliegende Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Silikose und Tod des Versicherten, zumal auch die Silikose den Abbau cancerogener Stoffe gehemmt haben könne. Schließlich könne die Früherkennung des Krebses durch die Silikose behindert worden sein.
Das LSG hat die Revision zugelassen, und die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt. Sie bringt vor: Die Frage, ob die Silikose - im Sinne der Rechtsprechung des BSG - den Tod des Versicherten mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht mitverursacht habe, müsse trotz des § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO zur Diskussion gestellt werden können. Von einer ernsthaften Möglichkeit der Kausalität zwischen Berufskrankheit und Tod sollte nur gesprochen werden, wenn eine solche Möglichkeit ganz allgemein zum wissenschaftlichen Erfahrungsgut geworden sei. Theoretisch denkbar sei alles. Die Tatsache, daß gelegentlich Zusammenhänge zwischen einer silikotischen Schwiele und einem Lungenkrebs medizinisch anerkannt worden sei, sei einer Verallgemeinerung nicht zugänglich. Die Schlüssigkeit der Gutachten des Prof. Dr. B und des Dr. W sei fraglich; diese Gutachten zeigten Schwächen. Die Möglichkeit, daß der Krebs bei Sch. früher operiert worden wäre, wenn die Silikose der Früherkennung nicht entgegengestanden habe, liege weit entfernt.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zulässig und weist darauf hin, daß auch Prof. Dr. Sch und Dr. R von den Städtischen Krankenanstalten des Klinikums E der R-Universität B in einer nahezu gleichliegenden Streitsache im Jahre 1971 die medizinischen Auffassungen Prof. Dr. B und Dr. W geteilt hätten.
II.
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Bei Tod durch Arbeitsunfall ist nach § 589 Abs. 1 RVO an die Hinterbliebenen eines Versicherten neben Sterbegeld und Überbrückungshilfe vom Todestag an Witwenrente zu gewähren. Nach § 589 Abs. 2 Satz 1 aaO steht dem Tod durch Arbeitsunfall der Tod eines Versicherten gleich, dessen Erwerbsfähigkeit durch die Folgen einer als Berufskrankheit anerkannten Quarzstaublungenerkrankung (Nr. 34 der Anlage zur 6. Berufskrankheitenverordnung - BKVO -) um 50 oder mehr vom Hundert gemindert war. Das war vorliegend der Fall, der silikosekranke Ehemann bezog von der Beklagten die Verletztenrente in Höhe von 50 v. H. der Vollrente. Der von der Klägerin erhobene Entschädigungsanspruch kann sonach nur dann unbegründet sein, wenn der Tatbestand des § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO gegeben wäre. Nach dieser Vorschrift gilt Satz 1 aaO nicht, wenn offenkundig ist, daß der Tod mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang steht. Die Beklagte hält die Entscheidung des LSG für unzutreffend, weil es zum einen die rechtliche Tragweite der im Rahmen des § 589 Abs. 2 RVO anzuwendenden Kausalitätsgrundsätze verkannt und weil es zum anderen die Gutachten der medizinischen Sachverständigen nicht richtig gewürdigt habe. Beides trifft nicht zu.
Der Angriff der Beklagten auf die vom Berufungsgericht für anwendbar erachtete Kausalnorm ist nicht gerechtfertigt. Wie der Senat wiederholt entschieden hat (vgl. z. B. SozR Nr. 4 zu § 589 RVO), liegen die Voraussetzungen des Begriffs "offenkundig" im Sinne des § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO dann vor, wenn die Berufskrankheit den Tod mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht erheblich mitverursacht oder doch um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat; eine nur ganz weit entfernt liegende Möglichkeit dafür, daß die Berufskrankheit den Tod verursacht oder um ein Jahr beschleunigt hat, schließt freilich das offenkundige Fehlen eines Kausalzusammenhangs im Sinne des Absatzes 2 Satz 2 aaO nicht aus.
Die Prüfung des angefochtenen Urteils hat ergeben, daß das LSG die Frage, wann offenkundig kein Kausalzusammenhang zwischen Tod und Berufskrankheit gegeben ist, nicht anders als der erkennende Senat beantwortet hat. Das LSG hat herausgestellt, daß im Rahmen des § 589 Abs. 2 RVO ein ursächlicher Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden müsse, vielmehr eine ernsthafte Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs genüge; im konkreten Fall liege die Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs auch nicht nur ganz entfernt. Die Auffassung der Beklagten, daß im Rahmen der Prüfung der in der medizinischen Wissenschaft vertretenen Auffassungen die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs nur dann nicht als ganz entfernt liegend angesehen werden könne, "wenn sie ganz allgemein zum wissenschaftlichen Erfahrungsgut geworden ist", hat das LSG zu Recht abgelehnt. Wäre die Auffassung der Beklagten richtig, so würde die in § 589 Abs. 2 RVO zugunsten der Hinterbliebenen berufskranker Versicherter aufgestellte und nur in engsten Grenzen widerlegbare Vermutung der Kausalität zwischen Berufskrankheit und Tod des Versicherten umgangen und an seiner Stelle die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs gefordert.
Die Beklagte kann aber auch mit ihrer Rüge, das LSG habe die ihm vorliegenden Gutachten medizinischer Sachverständiger unrichtig gewürdigt, nicht durchdringen. Diese Rüge kann nur dahin verstanden werden, daß das LSG fehlerhaft verfahren sei. Allerdings hat die Beklagte nicht gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die verletzte Verfahrensrechtsnorm bezeichnet. Selbst wenn davon ausgegangen würde, daß die Beklagte mit ihren umfangreichen Angriffen gegen die vom LSG vorgenommene Wertung der medizinischen Gutachten eine Überschreitung des Rechts der freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs. 1 SGG habe rügen wollen, könnte sie mit ihnen nicht durchdringen. Zwar ist richtig, daß die wegen abweichender medizinischer Auffassungen gegebene Erörterungsbedürftigkeit der Frage des Kausalzusammenhangs nicht bereits die Schlußfolgerung erlaubt, daß es sich nicht um eine nur ganz entfernt liegende Möglichkeit der Kausalität handeln könne. Solches hat das LSG indessen nicht behauptet. Richtig ist ferner, daß sich nicht schon durch den bloßen Hinweis auf die Meinung "namhafter ärztlicher Sachverständiger" verneinen läßt, daß die Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs nur ganz weit entfernt liegt. Das LSG hat sich jedoch nicht auf einen solchen globalen Hinweis auf die Meinung "namhafter Sachverständiger" beschränkt, sondern die vorliegenden ärztlichen Gutachten im einzelnen unter Auseinandersetzung mit den dort vertretenen Auffassungen eingehend gewürdigt. Dabei hat das LSG diese Auseinandersetzung nicht nur auf die von ihm selbst gehörten gerichtlichen Sachverständigen beschränkt, sondern auch auf die Auffassungen ausgedehnt, die der medizinische Gutachter der Beklagten Prof. Dr. K vertreten hat. In Würdigung aller dieser Gutachten ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, daß die unter dem Begriff des Reizkrebses zusammenzufassenden Möglichkeiten einer Krebsentstehung aus einer silikotischen Narbe, auf Grund einer Metaplasiepräkanzerose oder unter dem anhaltenden Einfluß von Gewebszerfallprodukten nicht lediglich auf theoretischen Überlegungen beruhen, sondern im Einzelfall einen Kausalzusammenhang nach dem Stande der wissenschaftlich vertretenen Lehrmeinungen sogar wahrscheinlich machen können. Diese auf Grund eigener Würdigung und Auseinandersetzung mit den medizinischen Auffassungen gewonnene Überzeugung des LSG läßt keine Überschreitung des Rechts der freien Beweiswürdigung erkennen.
Gleichwohl ist die Revision der Beklagten nicht in vollem Umfang unbegründet. Sie hat zu Recht gerügt, daß die Berufung gegen das Urteil des SG gemäß § 144 Abs. 1 SGG nicht zulässig war, soweit sie die Ansprüche der Klägerin auf Sterbegeld und Überbrückungshilfe betraf; beim Sterbegeld nach § 589 Abs. 1 Nr. 1 RVO handelt es sich um eine einmalige Leistung im Sinne der Nr. 1 des § 144 Abs. 1 SGG, bei der Überbrückungshilfe (§ 591 RVO) allenfalls um wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu drei Monaten im Sinne der Nr. 2 aaO. Soweit es diese beiden Leistungen betrifft, war daher auf die Revision der Beklagten die Entscheidung des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil als unzulässig zu verwerfen.
Im übrigen aber war die Revision der Beklagten unbegründet und daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen