Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhören eines bestimmten Arztes
Leitsatz (redaktionell)
Durch die Vorschrift des SGG § 109 wird der Grundsatz des SGG § 103 durchbrochen, nach dem das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat und an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden ist. SGG § 109 enthält nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine zwingende Verfahrensvorschrift, die aus rechtsstaatlichen Gründen ergangen ist. Eine Nichtbeachtung dieser Vorschrift beeinträchtigt das darin niedergelegte Recht eines Rentenbewerbers und stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel iS des SGG § 162 Abs 1 Nr 2 dar. Für den Kläger war auch nicht das Recht aus dieser Vorschrift etwa durch die Einholung des Gutachtens von Professor Sch im ersten Rechtszug verbraucht. Infolgedessen war es hier gerechtfertigt, daß ein Arzt des Vertrauens des Klägers nochmals - trotz Vorliegen des gleichen Beweisthemas - gehört wurde. Das Gericht hat auch nicht geprüft und hat keine Feststellungen darüber getroffen, ob der Antrag etwa deswegen hätte abgelehnt werden können, weil durch ihn die Erledigung des Rechtsstreites verzögert und er nach der freien Überzeugung des Gerichts aus grober Nachlässigkeit oder in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, nicht früher vorgebracht worden ist. Da hiernach das LSG zu Unrecht den Antrag aus SGG § 109 abgelehnt hat und damit der gerügte Mangel des Verfahrens vorliegt, ist die Revision begründet.
Normenkette
SGG § 109 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in Stuttgart vom 15. Oktober 1958 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger leidet seit 1934 an multipler Sklerose. Während seines militärischen Dienstes im Laufe des zweiten Weltkrieges trat ein Schub seines Leidens auf. Deswegen wurde der Kläger im April 1941 aus dem Wehrdienst entlassen und erhielt Versehrtengeld. Die Versorgungsverwaltung erkannte durch Bescheide vom 21. April 1950 und 22. Oktober 1952 multiple Sklerose, verschlimmert durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 des Körperbeschädigten-Leistungsgesetzes (KBLG) und § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), als Leistungsgrund an und gewährte Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 50 v.H. Im Januar 1952 beantragte der Kläger unter Vorlage einer Bescheinigung des prakt. Arztes Dr. Z die Erhöhung der Rente wegen einer Verschlimmerung seines Leidens. Durch Bescheid vom 17. April 1953 lehnte das Versorgungsamt nach Einholung eines Gutachtens von den Ärzten der Neurologischen und Hirnverletzten-Abteilung des Versorgungskrankenhauses T vom 13. Januar 1953 den Antrag ab, weil nur eine einmalige, nicht richtunggebende Verschlimmerung anerkannt worden sei und die derzeitig behauptete Verschlimmerung mit dem Wehrdienst nicht mehr in Zusammenhang gebracht werden könne.
Das Sozialgericht, auf das die Berufung nach altem Recht als Klage übergegangen war, hat das Gutachten der Ärzte der Universitäts-Nervenklinik T vom 14. Januar 1954 sowie auf einen gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gestellten Antrag das des Prof. Dr. Sch von der Neurologischen Universitäts-Klinik W vom 27. Februar 1956 eingeholt und den Beklagten - unter Abweisung der Klage im übrigen - zur Gewährung einer Pflegezulage in Höhe von 100,- DM monatlich verurteilt.
Der Beklagte hat Berufung eingelegt, der Kläger hat unter Vorlage einer neuen ärztlichen Bescheinigung des prakt. Arztes Dr. Z vom 31. Juli 1956 Anschlußberufung eingelegt und beantragt, den Beklagten zu verurteilen, die multiple Sklerose im Sinne der richtunggebenden Verschlimmerung anzuerkennen und die Rente eines Erwerbsunfähigen zu gewähren. Das Landessozialgericht hat nach Beiziehung der über den Kläger in der Universitäts-Nervenklinik T in den Jahren 1944 bis 1946 erwachsenen Unterlagen nach Erörterung mit dem Kläger, der zunächst die Erstattung eines Gutachtens von Prof. Dr. K Erlangen, angeregt hatte, das Gutachten des Prof. Dr. H vom 22. Mai 1958 erstatten lassen. In der mündlichen Verhandlung vom 15. Oktober 1958 hat der Kläger hilfsweise die Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. K gemäß § 109 SGG beantragt. Durch Urteil vom gleichen Tage hat das Landessozialgericht auf die Berufung des Beklagten das Urteil des Sozialgerichts dahin abgeändert, daß die Klage abgewiesen wird; es hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, nach dem Ergebnis der miteinander übereinstimmenden Gutachten des Prof. Dr. H und des Prof. Dr. Sch sei eine richtunggebende Verschlimmerung der multiplen Sklerose nicht anzunehmen und der wehrdienstbedingte Verschlimmerungsanteil mit 50 v.H. zu bewerten. Der Sachverhalt sei in ärztlicher Hinsicht hinreichend geklärt, so daß es der Einholung eines weiteren Gutachtens nicht bedurft habe. Auch bestehe kein Anlaß zur Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 SGG, weil für den Kläger das nach dieser Vorschrift zustehende Recht bereits dadurch verbraucht sei, daß das Landessozialgericht auf seinen ausdrücklichen Wunsch Prof. Dr. H gehört habe, wobei der Umstand, daß dies auf Kosten der Staatskasse geschehen sei, dem Kläger nicht das Recht geben könne, nun noch auf seine eigenen Kosten zu demselben Beweisthema die Anhörung eines weiteren Gutachters zu verlangen.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der Vorschrift des § 109 SGG.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der Kläger hat die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Da die Revision vom Berufungsgericht nicht zugelassen ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), findet sie im vorliegenden Falle nur dann statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG. 1 S. 150). Die Voraussetzung ist gegeben.
Der Kläger rügt mit Recht, daß das Landessozialgericht § 109 SGG verletzt habe. Nach dieser Vorschrift muß das Gericht auf Antrag des Versicherten, Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen einen bestimmten Arzt gutachtlich hören. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf § 109 SGG hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 15. Oktober 1958 hilfsweise beantragt, ein Gutachten von Prof. Dr. K einzuholen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG. in SozR. SGG § 109 Bl. Da 10 Nr. 17) kann ein Antrag aus § 109 SGG auch hilfsweise für den Fall gestellt werden, daß dem Klageantrag nicht oder nicht in vollem Umfang entsprochen wird. Durch die Vorschrift des § 109 SGG wird der Grundsatz des § 103 SGG durchbrochen, nach dem das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat und an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden ist. § 109 SGG enthält nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG. 2 S. 255 (256)) eine zwingende Verfahrensvorschrift, die aus rechtsstaatlichen Gründen ergangen ist. Eine Nichtbeachtung dieser Vorschrift beeinträchtigt das darin niedergelegte Recht eines Rentenbewerbers und stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar. Für den Kläger war auch nicht das Recht aus dieser Vorschrift etwa durch die Einholung des Gutachtens von Prof. Dr. Sch im ersten Rechtszug verbraucht. Denn dieser ist - wie in der Revision zutreffend ausgeführt worden ist - von einem Stillstand des Leidens während acht Jahren in der Zeit von der Entlassung des Klägers aus dem Wehrdienst bis zum Jahre 1949 ausgegangen, während der Kläger gegenüber dem Landessozialgericht durch Vorlage der ärztlichen Bescheinigung des behandelnden Arztes Dr. Z vom 31. Juli 1956 nachgewiesen hatte, daß es zu einem echten Stillstand nicht gekommen ist. Infolgedessen war es hier nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG. in SozR. SGG § 109 Bl. Da 11 Nr. 18) gerechtfertigt, daß ein Arzt des Vertrauens des Klägers nochmals - trotz Vorliegens des gleichen Beweisthemas - gehört wurde.
Das Gericht kann allerdings in den in § 109 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 SGG vorgesehenen Fällen den Antrag ablehnen. Von dieser Möglichkeit hat das Berufungsgericht keinen Gebrauch gemacht. Nach seinen Ausführungen, das Recht auf Anhörung eines bestimmten Arztes sei deshalb verbraucht, weil der Senat auf Anregung des Klägers Prof. Dr. H gehört habe, ist es offenbar der Ansicht, der Kläger mißbrauche das ihm nach § 109 SGG zustehende Recht, wenn er nunmehr die Anhörung des Prof. Dr. K verlangt. Das Berufungsgericht hat jedoch nicht erkennbar gemacht, welche besonderen Umstände hier dafür sprechen, daß der Antrag des Klägers einen Rechtsmißbrauch darstelle. Vielmehr muß nach den Feststellungen des Landessozialgerichts davon ausgegangen werden, daß das Gericht mit dem Kläger nur erörtert hat, welcher Sachverständige in Betracht kommen könne und daß dann Prof. Dr. H als geeignet erschienen ist. Damit aber hat der Kläger weder beantragt, diesen Sachverständigen gemäß § 109 SGG gutachtlich zu hören, noch auf seine Rechte aus der genannten Vorschrift verzichtet. Wenn nach der Erstattung des Gutachtens durch Prof. Dr. H der Kläger noch Zweifel gehabt hat und von der Möglichkeit des § 109 hat Gebrauch machen wollen, so ist ihm das unverwehrt, weil besondere Gründe für einen Verlust dieses Rechts vom Berufungsgericht nicht angeführt sind und es - wie bereits dargelegt - nicht verbraucht war. Infolgedessen konnte das Landessozialgericht mit der von ihm gegebenen Begründung von einer Anhörung des Prof. Dr. K nicht absehen. Es hat nicht geprüft und hat keine Feststellungen darüber getroffen, ob hier etwa der hilfsweise in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag nach § 109 Abs. 2 SGG deswegen hätte abgelehnt werden können, weil durch ihn die Erledigung des Rechtsstreits verzögert und er nach der freien Überzeugung des Gerichts aus grober Nachlässigkeit oder in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, nicht früher vorgebracht worden ist. Insoweit sind keine Feststellungen getroffen worden; dem Senat war es daher nicht möglich zu prüfen, ob diese Voraussetzungen gegeben sind.
Da hiernach das Landessozialgericht zu Unrecht den Antrag aus § 109 SGG abgelehnt hat und damit der gerügte Mangel des Verfahrens vorliegt, ist die Revision statthaft. Sie ist form- und fristgerecht erhoben und begründet worden und infolgedessen zulässig. Das Rechtsmittel ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn der wesentliche Mangel des Verfahrens nicht vorgelegen hätte. Das Urteil war mithin aufzuheben.
Der Senat hat es gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG für untunlich gehalten, in der Sache selbst zu entscheiden; die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen. Dieses wird auf den gemäß § 109 SGG gestellten Antrag das Notwendige zu veranlassen haben.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen