Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufung. Zulässigkeit. Klageerweiterung. Dauerrente. Neufeststellung
Orientierungssatz
1. Eine berufungsunfähige Klage wird nicht dadurch statthaft, daß der Kläger mit der Berufung sein Klagebegehren erweitert und nicht mehr die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse, sondern die Erhöhung der gewährten Teilrenten auf die Vollrente von Anfang an begehrt und damit über einen "berufungsfähigen" Streitgegenstand zu entscheiden wäre (vgl BSG 1961-12-14 11 RV 748/61 = SozR Nr 26 zu § 148 SGG).
2. Die Schwerbeschädigteneigenschaft ist nur streitig, wenn das Erreichen der 50 vH-Grenze der auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführenden MdE allein von der umstrittenen MdE abhängt (vgl BSG 1958-02-11 2 RU 311/56 = SozR Nr 5 zu § 145 SGG).
Normenkette
SGG § 145 Nr. 4; RVO §§ 581, 587
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 01.07.1969) |
SG Detmold (Entscheidung vom 13.12.1967) |
Tenor
Die Revision des Klägers wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. Juli 1969 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 13. Dezember 1967 als unzulässig verworfen wird.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger bezog von der Beklagten wegen eines am 11. Januar 1963 erlittenen Arbeitsunfalls vom 2. März 1964 an als vorläufige Rente eine Teilrente von 60 v.H. der Vollrente (Bescheid vom 24. April 1964), die im November 1964 in gleicher Höhe als Dauerrente festgestellt wurde (Bescheid vom 20. November 1964). Vom 1. Februar 1966 an gewährt ihm die Beklagte eine Teilrente von 40 v.H. der Vollrente (Bescheid vom 28. Dezember 1965).
Daneben erhielt der Kläger von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen vom 1. März 1964 bis zum 31. Dezember 1965 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit. Sie wird nach einem Streitverfahren fortlaufend gewährt (Bescheid der LVA vom 3. Mai 1967).
Durch Bescheid vom 5. April 1967 lehnte die Beklagte eine Erhöhung der Teilrente von 40 v.H. der Vollrente auf die Vollrente gemäß § 587 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab, weil der Kläger wegen Erwerbsunfähigkeit und nicht wegen des Arbeitsunfalls kein Arbeitseinkommen habe.
Die Klage des Klägers, die wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 11. Januar 1963 gewährte Rente auf die Vollrente zu erhöhen, ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG - Detmold vom 13. Dezember 1967). Im Berufungsverfahren hat der Kläger beantragt, die wegen des Arbeitsunfalls gewährte Rente auf die Vollrente ab 2. März 1964 zu erhöhen. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 1. Juli 1969) und die Auffassung vertreten, daß der Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente, die Lohnersatzfunktion habe, einem Arbeitseinkommen im Sinne des § 587 Abs. 1 RVO gleichstehe. Der Kläger sei somit nicht ohne Arbeitseinkommen. Darüber hinaus sei der Kläger auch nicht infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen, sondern weil er dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe.
Die Revision hat das LSG zugelassen.
Der Kläger hat das Rechtsmittel eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, für ihn bestehe wegen der Art seiner unfallbedingten Verletzungen keine Einsatzmöglichkeit. Er sei daher infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des SG Detmold vom 13. Dezember 1967 sowie des Bescheides vom 5. April 1967 die Beklagte zu verurteilen, die wegen des Arbeitsunfalls vom 11. Januar 1963 gewährte Rente auf die Vollrente ab 2. März 1964 zu erhöhen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß das Urteil das LSG Nordrhein-Westfalen vom 1. Juli 1969 dahin geändert wird, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Detmold vom 13. Dezember 1967 als unzulässig verworfen wird,
hilfsweise,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, die Berufung des Klägers sei unzulässig gewesen und hätte vom LSG verworfen werden müssen. Es handele sich um die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse. Bei einem Streit um die Erhöhung der Rente gemäß § 587 RVO auf die Vollrente hänge von der Neufeststellung auch dann die Schwerbeschädigteneigenschaft nicht ab, wenn die Rente bisher nur nach einer MdE von 40 v.H. bemessen worden ist. Sachlich sei die Revision nicht begründet, weil der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht fähig sei, irgendwelches Arbeitseinkommen zu erzielen. Die Erhöhung der Rente auf die Vollrente setze jedoch voraus, daß nach den Umständen des Falles Aussicht bestehe, daß der Verletzte in absehbarer Zeit wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen werde.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen und damit statthaft. Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die Revision führte dazu, daß das Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen wird.
Bei einer zulässigen Revision ist die Zulässigkeit der Berufung auch ohne Antrag des Revisionsbeklagten von Amts wegen zu prüfen, da es sich dabei um eine unverzichtbare Prozeßvoraussetzung handelt, von der die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt (BSG 1, 227; 2, 225; 3, 124 und 234; 15, 65; 30, 64).
Die Berufung des Klägers war nach § 145 Nr. 4 SGG unzulässig. Nach dieser Vorschrift ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung die Berufung nicht zulässig, wenn sie - was hier allein in Betracht kommt -, die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse betrifft, es sei denn, daß die Schwerbeschädigteneigenschaft davon abhängt. Die Berufung des Klägers betraf die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse.
Nachdem die Beklagte die Dauerrente des Klägers ab 1. Februar 1966 durch bindenden Bescheid vom 28. Dezember 1965 in Höhe von 40 v.H. der Vollrente festgestellt hatte, lehnte sie durch Bescheid vom 5. April 1967 eine Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente gemäß § 587 RVO ab. Zu dieser Entscheidung sah die Beklagte sich veranlaßt, weil die dem Kläger von der LVA gewährte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit mit dem 31. Dezember 1965 weggefallen war. Darin hat die Beklagte zutreffend eine Änderung der Verhältnisse gesehen, die sie berechtigte, eine - negative - Neufeststellung der Dauerrente zu treffen. Gegenstand des Streitverfahrens vor dem SG war die Erhöhung der Teilrente von 40 v.H. der Vollrente auf die Vollrente. Der Kläger hatte in der mündlichen Verhandlung beantragt, die wegen der Folgen des Arbeitsunfalls gewährte Rente auf die Vollrente zu erhöhen. Darunter ist im Zusammenhang mit der Klageschrift das Begehren auf Erhöhung der im damaligen Zeitpunkt bezogenen Teilrente von 40 v.H. der Vollrente auf die Vollrente zu verstehen, nicht etwa auch auf Erhöhung der früher bezogenen vorläufigen Rente und Dauerrente von 60 v.H. der Vollrente rückwirkend vom 2. März 1964 an. Die Beteiligten haben somit vor dem SG um einen "berufungsunfähigen" Streitgegenstand gestritten, und der Kläger ist durch das Urteil des SG nur insoweit beschwert, als er mit einem "berufungsunfähigen" Anspruch unterlegen ist. Seine Berufung "betrifft" im Sinne des § 145 Nr. 4 SGG daher auch nur diesen Streitgegenstand. Sie wird nicht dadurch statthaft, daß der Kläger mit der Berufung sein Klagebegehren erweitert und nicht mehr die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse, sondern die Erhöhung der gewährten Teilrenten auf die Vollrente von Anfang an begehrt und damit über einen "berufungsfähigen" Streitgegenstand zu entscheiden wäre (SozR Nr. 26 zu § 148 SGG).
Von der Neufeststellung der Dauerrente hängt auch nicht die Schwerbeschädigteneigenschaft ab (§ 145 Nr. 4 SGG 1. Ausnahmefall). Wie vom Senat bereits in seinen Urteilen vom 27. August 1969 (SozR Nr. 5 zu § 587 RVO; SozR Nr. 18 zu § 145 SGG), denen der 7. Senat in seinem Urteil vom 23. November 1971 (7/2 RU 18/69) zugestimmt hat, entschieden worden ist, handelt es sich bei der nach § 587 Abs. 1 RVO zu gewährenden Vollrente um eine Leistung, die sich aus zwei verschiedenen Bestandteilen zusammensetzt, denen unterschiedliche Schadenstatbestände zugrunde liegen. Es muß ein Anspruch auf Verletztenrente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Verletzten in einem zum Bezug einer Teilrente berechtigenden Grad bestehen (§ 581 RVO). Wird diese Rente beim Vorliegen der besonderen Voraussetzungen des § 587 RVO auf die Vollrente erhöht, ist dieser Teil zwar von dem Anspruch auf eine Teilrente abhängig; er stellt jedoch, da er teilweise auf anderen Tatsachen und rechtlichen Voraussetzungen als die nach § 581 RVO zu gewährende Rente beruht, einen rechtlich besonders zu beurteilenden Bestandteil der nach § 587 RVO zu gewährenden Leistung dar; er hat einen zulageähnlichen Charakter. Die Schwerbeschädigteneigenschaft ist nur streitig, wenn das Erreichen der 50 v.H.-Grenze der auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführenden MdE allein von der umstrittenen MdE abhängt (SozR Nr. 5 zu § 145 SGG). Dem steht nicht entgegen, daß § 145 Nr. 4 SGG nicht eine MdE von 50 v.H., sondern die "Schwerbeschädigteneigenschaft" als Kriterium für den ersten der drei Ausnahmetatbestände anführt, obwohl das materielle Recht der Unfallversicherung den Begriff "Schwerbeschädigter" nicht kennt, sondern nur den des "Schwerverletzten".
Diese Ungenauigkeit im Wortlaut ist jedoch rechtlich bedeutungslos. Die Verwendung des Begriffs "Schwerbeschädigteneigenschaft in § 145 Nr. 4 SGG läßt sich unschwer damit erklären, daß in § 1 Abs. 1 Buchst. d des Schwerbeschädigtengesetzes (SchwBG) als Schwerbeschädigter bezeichnet wird, wer infolge einer gesundheitlichen Schädigung durch Arbeitsunfall nicht nur vorübergehend um wenigstens 50 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Nach der gesetzlichen Begriffsbestimmung in § 583 Abs. 1 RVO ist "Schwerverletzter", wer eine Rente von 50 oder mehr von Hundert der Vollrente oder mehrere Verletztenrenten aus der Unfallversicherung bezieht, deren Hundertsätze zusammen die Zahl 50 erreichen. Wie der Senat im Urteil vom 16. Dezember 1970 (SozR Nr. 2 zu § 583 RVO) mit ausführlicher Begründung dargelegt hat, sind die in § 583 Abs. 1 RVO für die Begründung der Schwerverletzteneigenschaft aufgestellten Voraussetzungen auf die gemäß § 581 RVO nach der MdE bemessene Rente bezogen. Die Begriffe "Schwerbeschädigteneigenschaft" und "Schwerverletzter" sind demnach im Kern identisch. Ist bei der Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse nicht streitig, ob der unfallbedingte Grad der Erwerbseinbuße mindestens 50 v. H. beträgt, hängt die Neufeststellung nicht von der Schwerbeschädigteneigenschaft ab. Die Berufung ist somit auch dann gemäß § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen, wenn sie den Anspruch auf Erhöhung der nach einer MdE von weniger als 50 v.H. bemessenen Rente auf die Vollrente nach § 587 Abs. 1 RVO betrifft.
Da das LSG trotz Unzulässigkeit der Berufung in der Sache selbst entschieden hat, war die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Berufung des Klägers ohne Sachprüfung verworfen wird. Mit dieser Entscheidung verstößt der Senat nicht gegen den Grundsatz, daß auch im Revisionsverfahren das angefochtene Urteil nicht zum Nachteil des Rechtsmittelklägers geändert werden darf, wenn er nicht zugleich Rechtsmittelbeklagter ist. Durch die Verwerfung der Berufung wird der Kläger nicht in eine ungünstigere Lage versetzt, als durch das von ihm angegriffene, seine Berufung als unbegründet zurückweisende Urteil (BSG 2, 225, 228).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen