Leitsatz (redaktionell)
Die auf familiären Beziehungen beruhende geschwisterliche Fürsorge unterliegt als solche nicht dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30, Abs. 2
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. November 1971 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin zur Unfallzeit nach § 539 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand.
Die Eltern der Klägerin sind Eigentümer eines landwirtschaftlichen Betriebes. Am 1. August 1966 arbeitete der Vater der Klägerin, Bernhard E, zunächst auf dem Feld des Landwirts Heinrich W und begann dann, auf seinem eigenen Feld zu arbeiten. Dabei war auch seine Ehefrau Elfriede E anwesend. Diese schickte B E dann nach Hause, um Brotzeit und Werkzeug zu holen. Gegen 18.15 Uhr wollte seine Ehefrau zusammen mit ihrer am 27. Juli 1958 geborenen Tochter Helga, der Klägerin, wieder zu ihrem auf dem Feld arbeitenden Ehemann fahren, um dort einen mit Getriebe beladenen Anhänger zu holen. Gleichzeitig wollte sie mit ihrer Zugmaschine ihrem Ehemann in einer Tasche Brotzeit und Werkzeug, das für den Mähdrescher benötigt wurde, bringen. Als sie durch die Hofausfahrt fuhr, sah sie, daß der Landwirt W den mit Getreide beladenen Wagen vom Feld ihres Ehemannes bereits mitgebracht hatte. Daraufhin übergab die Klägerin die ihr von der Mutter ausgehändigte Tasche ihrem damals 10 Jahre alten Bruder Bernhard, der sich anschickte, diese mit seinem Fahrrad zu seinem Vater zu bringen. Die Klägerin begleitete zunächst ihren Bruder bis zum Fahrbahnrand und sagte: "Wart' mal, ich schau, ob die Straße frei ist". Sie begab sich dann auf die Fahrbahn der Bundesstraße 19, um festzustellen, ob ihr Bruder Bernhard mit seinem Fahrrad, an das er die Tasche mit der Brotzeit und dem Werkzeug gehängt hatte, gefahrlos auf die Straße fahren könne. Kurze Zeit nachdem sie in der Nähe der auf der Fahrbahn abgestellten Zugmaschine mit Anhänger des Landwirts W die Bundesstraße 19 betreten hatte, wurde sie von einem Pkw erfaßt und blieb schwerverletzt auf der Fahrbahn liegen. Sie ist jetzt auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen.
Mit Bescheid vom 27. März 1968 lehnte es die Beklagte ab, der Klägerin aus Anlaß des Unfalls vom 1. August 1966 Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Die Klägerin sei zur Unfallzeit nicht auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses beschäftigt gewesen und habe deshalb nicht zu dem nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO versicherten Personenkreis gehört. Sie sei aber auch nicht nach § 539 Abs. 2 RVO versichert gewesen, weil sie zur Unfallzeit keine dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechende Arbeit von wirtschaftlicher Bedeutung in einer dem Betrieb förderlichen Weise verrichtet habe.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 1. August 1966 als landwirtschaftlichen Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die "Einweisungstätigkeit" der Klägerin sei, da es sich um eine stark frequentierte Straße gehandelt habe und die Sicht auf die Straße durch die am Fahrbahnrand abgestellte Zugmaschine mit Anhänger des Landwirts W beeinträchtigt gewesen sei, sinnvoll gewesen. Bei der Einweisungstätigkeit der Klägerin habe es sich mithin um eine ernsthafte Handlungsweise gehandelt, die dem Betrieb förderlich gewesen sei.
Die Berufung der Beklagten hatte Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG vom 4. Februar 1970 aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. November 1971). Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Einweisungstätigkeit der zur Unfallzeit 8 Jahre alten Klägerin habe keine dem elterlichen Betrieb dienende wirtschaftlich nützliche Arbeitsleistung dargestellt. Durch diese Tätigkeit der Klägerin sei dem Bruder der Klägerin keine nennenswert schnellere und leichtere Durchführung seiner nach § 539 Abs. 2 RVO versicherten Tätigkeit ermöglicht worden, denn er hätte sich gefahrlos und ohne Zeitverlust auch ohne diese Tätigkeit auf die Fahrbahn der Bundesstraße 19 begeben und sich in den Verkehr einordnen können. Die Einweisungstätigkeit der Klägerin beruhe vielmehr auf familiären Beziehungen geschwisterlicher Fürsorge und könne nicht verglichen werden mit der Einweisungstätigkeit, die bei dem Fahrer eines Lkw notwendig sei. Die von der Klägerin geleistete Arbeit habe auch nicht dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprochen, denn die Klägerin sei von ihrer Mutter nicht beauftragt gewesen, ihren Bruder in die Bundesstraße 19 einzuweisen. Auch könne nicht angenommen werden, es habe dem mutmaßlichen Willen der Eltern als Unternehmer entsprochen, daß die 8-jährige Klägerin auf die Fahrbahn der Bundesstraße 19 lief, um ihren 10-jährigen Bruder einzuweisen, zumal auf Grund des Altersunterschiedes angenommen werden müsse, daß der ältere Bruder über mehr Verkehrserfahrung verfüge als seine Schwester.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die zugelassene Revision eingelegt. Sie bekämpft im wesentlichen die Rechtsauffassung des LSG und führt weiter aus, auch Arbeiten, die aus reiner Gefälligkeit erbracht würden, könnten Arbeiten im Rechtssinne sein. Die Einweisungstätigkeit der Klägerin sei angesichts des beladenen Fahrrades und des laufenden Motors des Traktors notwendig gewesen; sie habe auch dem mutmaßlichen Willen der Eltern entsprochen; beide Kinder hätten schon früher Einweisungstätigkeiten mit Rücksicht auf die unübersichtliche Rechtskurve, in der die Bundesstraße 19 dort verlaufe, ausgeübt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 24. November 1971 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Würzburg zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, in einem Fall der vorliegenden Art habe die Tätigkeit im wesentlichen den Charakter einer verwandtschaftlichen Gefälligkeit.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Zutreffend ist das angefochtene Urteil davon ausgegangen, daß die Klägerin zur Unfallzeit am 1. August 1966 nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig und ergibt sich auch aus den Feststellungen des Urteils des LSG, daß die Klägerin im fraglichen Zeitpunkt nicht auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses in dem landwirtschaftlichen Betrieb ihrer Eltern beschäftigt war und somit nicht unter dem Versicherungsschutz des § 539 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 776 Abs. 1 Nr. 1 RVO stand. Zu prüfen war nur, ob die Klägerin für sich den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 539 Abs. 2 RVO in Anspruch nehmen kann.
Nach dieser Vorschrift sind auch diejenigen Personen gegen Arbeitsunfall versichert, die wie ein nach Abs. 1 Versicherter tätig werden. Dies gilt auch bei vorübergehender Tätigkeit. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist Voraussetzung für einen solchen Unfallversicherungsschutz, daß im Unfallzeitpunkt eine ernstliche, dem Unternehmen dienende Tätigkeit vorliegt, die - ungeachtet des Beweggrundes des Tätigwerdens - ihrer Art nach sonst von einer Person verrichtet werden kann, welche in einem dem Erwerbsleben zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen könnte und einer auf Grund eines Beschäftigungsverhältnisses ausgeübten Tätigkeit ähnlich ist, so daß durch sie ein innerer Zusammenhang mit dem unterstützten Unternehmen hergestellt wird (vgl. BSG 5, 168, 174; 14, 1, 4; 15, 292, 294; 16, 73, 76; 17, 211, 216 f; 18, 143, 145 f; 19, 117, 118 f; BSG SozR Nr. 16, 23, 29 zu § 537 RVO aF; Nr. 27 zu § 539 RVO nF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl. Stand August 1973 Bd. II S. 476 f mit weiteren Nachweisen). Weiter muß die Tätigkeit dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechen (vgl. BSG 5, 168, 172; 14, 1, 4; 17, 211, 216; Brackmann aaO S. 476 b II; BSG 18, 143, 146). Das LSG hat nun die Anwendung des § 539 Abs. 2 RVO deswegen verneint, weil die Klägerin bei ihrer Einweisungstätigkeit keine dem elterlichen Betrieb dienende wirtschaftlich nützliche Arbeitsleistung vollbracht habe. Es hat dazu ausgeführt, Bernhard E, der Bruder der Klägerin, wäre auch ohne deren Einweisungstätigkeit in der Lage gewesen, sich gefahrlos und ohne Zeitverlust auf die Fahrbahn der Bundesstraße 19 zu begeben und sich in den Verkehr einzuordnen. Durch die Einweisungstätigkeit der Klägerin sei ihm deshalb eine nennenswert schnellere und leichtere Durchführung seiner nach § 539 Abs. 2 RVO versicherten Tätigkeit nicht ermöglicht worden, zumal sie ihren Bruder Bernhard E nicht der Pflicht enthoben hätte, sich selbst zu vergewissern, ob er sich gefahrlos auf die Fahrbahn der Bundesstraße 19 begeben konnte. Im übrigen sei Bernhard E auch nicht verpflichtet gewesen, sich einweisen zu lassen. Eine solche Pflicht obliege nur demjenigen, der den Verkehr - gleich aus welchen Gründen - nicht genügend überblicken könne, um eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließen zu können. Die Einweisungstätigkeit der Klägerin stelle lediglich einen auf familiären Beziehungen beruhenden Akt geschwisterlicher Fürsorge für ihren Bruder dar, der - ebenso wie kleine Handreichungen und sonstige Gefälligkeiten, wie sie Höflichkeit und angenehme Umgangsformen mit sich zu bringen pflegen, z. B. Hilfeleistung für einen gebrechlichen älteren Herrn bei der Überquerung einer belebten Straße - nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehe. Diese Ansicht des LSG läßt keinen Rechtsverstoß erkennen. Sie entspricht der Rechtsprechung des 2. Senats des BSG (SozR Nr. 16 zu § 537 RVO aF Bl Aa 16 Rs = Breithaupt 1959, 985 ff), wonach dann, wenn keine ernstliche wirtschaftlich nützliche Arbeitsleistung, sondern nur eine verwandtschaftliche Gefälligkeit vorliegt, die von familiären Beziehungen zwischen den Angehörigen ihr Gepräge erhält, der Versicherungsschutz nicht gegeben ist (siehe auch Brackmann aaO S. 476 m II sowie Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Auflage, Stand Juli 1973 § 539 Anm. 100 a). Dabei ist besonders zu berücksichtigen, daß der Bruder der Klägerin über zwei Jahre älter ist als diese und davon ausgegangen werden kann, daß er die Hofausfahrt zumindest genau so gut kannte wie die Klägerin sowie, daß diese ihren Entschluß, den Bruder einzuweisen, aus freien Stücken gefaßt hat. Gerade bei jüngeren Kindern, bei denen ein gewisser Spieltrieb vorhanden ist und die - wenn sie nicht gerade einen bestimmten Auftrag auszuführen haben - erfahrungsgemäß eher zu nicht notwendigen als zu objektiv gebotenen Tätigkeiten neigen, ist die Annahme einer wirtschaftlich nützlichen Arbeitsleistung im Zweifelsfall besonders sorgfältig zu prüfen. Das LSG konnte sonach unter den gegebenen Umständen hier betriebliche Gründe für das Tätigwerden der Klägerin ausscheiden. Insbesondere kann die Tätigkeit der Klägerin, wie das LSG weiterhin zutreffend ausgeführt hat, nicht mit einer Einweisungstätigkeit gleichgesetzt werden, die für den Fahrer eines Lkw vorgenommen wird, da die Sicht des Lkw-Fahrers - besonders bei größeren Fahrzeugen - sehr behindert ist. Ein Radfahrer hat demgegenüber eine freie Sicht nach allen Seiten, gleich ob er das Fahrrad schiebt oder fährt, denn der "Vorlauf" des Vorderrades ist - wie auch das LSG festgestellt hat - nicht so groß, daß er die Übersicht über das Verkehrsgeschehen behindern könnte. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß am Fahrrad eine Tasche hing.
Dem Berufungsgericht ist auch darin zuzustimmen, daß die Anwendbarkeit des § 539 Abs. 2 RVO auch deswegen ausscheidet, weil die vom Helfenden geleistete Arbeit nicht dem mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprach. Auch nach dem Revisionsvorbringen kann nicht davon ausgegangen werden, es habe dessen mutmaßlichem Willen entsprochen, daß die 8-jährige Klägerin unter den hier gegebenen Umständen auf die stark frequentierte Fahrbahn der Bundesstraße 19 lief, die nach dem eigenen Vortrag der Klägerin noch durch eine unübersichtliche Rechtskurve beeinträchtigt wird, um ihren Bruder einzuweisen. Selbst wenn man beachtet, daß auch die Klägerin über gewisse, ihrem kindlichen Alter entsprechende Erfahrungen hinsichtlich dieser Bundesstraße verfügte, ist doch davon auszugehen, daß der ältere Bruder über größere Verkehrserfahrungen verfügte als seine Schwester. Da es sonach eher fahrlässig erscheint, das 8-jährige Mädchen auf der gefährlichen Straße etwa mit einer Einweisung zu betrauen, kann ein dahingehender mutmaßlicher Wille des Unternehmers um so weniger angenommen werden, als es dieser Einweisungstätigkeit - wie oben dargelegt - gar nicht bedurfte.
Nach alledem konnte die Revision keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen