Leitsatz (amtlich)
Bei einer nicht zulässigen Berufung ist für die Herbeiführung ihrer Zulässigkeit nach SGG § 150 Nr 2 die Rüge des Verfahrensmangels auch dann erforderlich, wenn es sich um einen "von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmangel" handelt.
Normenkette
SGG § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 144 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO §§ 548-566
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 20.01.1976; Aktenzeichen L 5 Ar 693/75) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 26.03.1975; Aktenzeichen S 5 Ar 3420/74) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Januar 1976 aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. März 1975 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte an die Klägerin Wintergeld (WG) für ihre Arbeiter in der Zeit vom 16. Dezember 1973 bis 15. März 1974 zu zahlen hat.
Die Klägerin betreibt ein Straßen- und Tiefbauunternehmen. Am 25. März 1974 beantragte sie bei der Beklagten für den Zeitraum vom 1. November 1973 bis 28. Februar 1974 eine Abschlagszahlung auf WG von rd 77.000,- DM und Schlechtwettergeld (SWG) von rd 16.000,- DM, die von ihr bevorschußt worden waren. Das unterschriebene Antragsformular enthielt ua die vorgedruckte Erklärung: "Mir/uns ist bekannt, daß dieser Antrag auf Zahlung eines Abschlags die Ausschlußfristen des § 81 Abs 3 und des § 88 Abs 2 AFG nicht (fettgedruckt) wahrt." Am selben Tage bewilligte das Arbeitsamt für den Abrechnungs-Förderungszeitraum eine Abschlagszahlung auf WG/SWG in Höhe von 78.000,- DM.
Am 28. Juni 1974 ging beim Arbeitsamt ein "Antrag der Klägerin auf Verlängerung für WG/SWG bis 31. Juli 1974" ein. Mit Schreiben vom 2. Juli 1974 gab das Arbeitsamt dem Formlosen Antrag auf Verlängerung der Einreichefrist um einen Monat für SWG statt. Die Abrechnungslisten für SWG seien bis 31. Juli 1974 vorzulegen. Hinsichtlich des WG lehnte das Arbeitsamt eine Verlängerung der Einreichefrist ab.
Am 30. Juli 1974 gingen beim Arbeitsamt die Abrechnungslisten für WG und SWG ein. Im Begleitschreiben bat die Klägerin um Genehmigung des WG, da Personalwechsel im Lohnbüro die termingerechte WG-Anforderung verzögert habe.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf WG wegen Versäumung der Ausschlußfrist ab (Bescheid vom 6. August 1974; Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1974).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. März 1975).
Mit Urteil vom 20. Januar 1976 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Die Berufung sei zwar an sich nach § 144 Abs 1 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unzulässig. Doch sei die Berufung aufgrund des § 150 Nr 2 SGG dennoch zulässig, weil das Verfahren vor dem SG an einem wesentlichen Mangel leide. Das SG habe die Beiladung der Betriebsvertretung versäumt. Diesen Mangel habe die Klägerin zwar nicht gerügt, die Unterlassung der Beiladung stelle aber einen schweren Fehler des Verfahrens dar, der in jeder Lage des Verfahrens auch ohne Rüge von Amts wegen zu berücksichtigen sei (BSG SozR Nr 1500 § 75 Nr 1 SGG).
Das SG habe aber zu Recht die Klage abgewiesen. Es könne dahinstehen, ob in der Stellung eines Antrags auf Abschlagszahlung niemals oder nur unter bestimmten Umständen zugleich ein Leistungsantrag iS des § 81 Abs 3 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) zu sehen sei. Im vorliegenden Falle könne das aber keineswegs angenommen werden; denn die Klägerin habe den Antrag auf einem Vordruck der Beklagten gestellt, der deutlich als "Antrag auf Gewährung einer Abschlagszahlung" ausgestaltet gewesen sei und überdies den unmißverständlichen Zusatz enthalten habe, daß der Antrag auf Abschlag die Ausschlußfrist des § 81 Abs 3 Satz 2 AFG und des § 88 Abs 2 AFG nicht wahre.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 80 und 81 des AFG und führt hierzu insbesondere aus: Die Bestimmung des § 81 Abs 2 AFG sei weiter auszulegen, als dies in dem angegriffenen Urteil geschehen sei. Auch die Beantragung einer Abschlagszahlung genüge zur Wahrung der Antragsfrist, weil damit bereits eindeutig zum Ausdruck gebracht werde, daß die Leistungen nach § 80 AFG beansprucht würden. Dies müsse zumindest in Höhe der Beträge gelten, die von der Beklagten als Abschlagszahlungen geleistet worden seien.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. März 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin das von ihr für den Förderungszeitraum 1973/74 verauslagte Wintergeld zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig. Sie ist vom LSG zugelassen worden, und die Klägerin hat die Revision ordnungsgemäß eingelegt und fristgerecht begründet. Die Revision ist jedoch lediglich in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG als unzulässig zu verwerfen ist. Das LSG hat zu Unrecht die Berufung als unbegründet abgewiesen. Sie war bereits als unzulässig zu verwerfen.
Da die Revision zulässig ist, ist das angefochtene Urteil grundsätzlich in vollem Umfange auf seine Richtigkeit zu prüfen. Dieser Grundsatz erleidet lediglich Ausnahmen hinsichtlich in den Vorinstanzen unterlaufener Verfahrensmängel. Nach § 559 Zivilprozeßordnung (ZPO) unterliegt bei der zugelassenen Revision der Streitgegenstand des angefochtenen Urteils der Nachprüfung im Rahmen der von den Parteien gestellten Anträge. Das Revisionsgericht ist an die geltend gemachten Revisionsgründe nicht gebunden. Auf Verfahrensmängel, die von Amts wegen nicht zu berücksichtigen sind, darf das angefochtene Urteil nur geprüft werden, wenn die Mängel gerügt worden sind. Diese Bestimmung der ZPO ist auch im Rahmen der sozialgerichtlichen Verfahren gem § 202 SGG anzuwenden (BSGE 1, 202; Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, Vorbemerkung vor § 160 Anm 7; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 254 c; Krasney, Dissertation Köln 1961, Die Anwendbarkeit zivilprozessualer Vorschriften im sozialgerichtlichen Verfahren). Ein solcher von Amts wegen bei einer zulässigen Revision zu berücksichtigender Verfahrensmangel ist dann anzunehmen, wenn es sich um einen in der Revisionsinstanz fortwirkenden Verstoß gegen einen verfahrensrechtlichen Grundsatz handelt, der im öffentlichen Interesse zu beachten ist und dessen Befolgung dem Belieben der Beteiligten entzogen ist (BSG SozR Nr 33 zu § 162 SGG; Baumbach-Lauterbach, Kommentar zur ZPO, § 559 Anm 2 C; Stein-Jonas, Kommentar zur ZPO 19. Aufl, § 559 Anm IV 2 a). Zu diesen von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensvoraussetzungen gehört auch die Zulässigkeit der Berufung (BSGE 1, 227, 230; Meyer-Ladewig, § 162 Anm 11).
Im vorliegenden Fall war die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG unzulässig. Nach § 144 Abs 1 Nr 2 SGG ist die Berufung nicht zulässig bei Ansprüchen auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen (3 Monaten). Um derartige Leistungen handelt es sich hier; denn in dem Rechtsstreit geht es um die Gewährung von WG für Tage der Beschäftigung auf witterungsabhängigen Arbeitsplätzen in der Zeit vom 16. Dezember 1973 bis 15. März 1974, wobei die Woche vom 25. Dezember 1973 bis 1. Januar 1974 ausgenommen ist (§ 80 Abs 1 AFG). Das ist eine Zeit, die weniger als 13 Wochen oder 3 Monate beträgt.
Die Berufung ist auch nicht aufgrund des § 150 Nr 2 SGG zulässig. § 150 Nr 2 SGG setzt zum einen die Rüge eines Verfahrensmangels und zum anderen das Vorliegen des Verfahrensmangels voraus. Nicht erforderlich ist, daß die verletzte Vorschrift ausdrücklich bezeichnet wird. Es genügt, daß Tatsachen substantiiert vorgetragen werden, aus denen sich der Mangel des Verfahrens vor dem SG ergibt (BSGE 1, 227, 230; 8, 188; Meyer-Ladewig, § 150 Anm 19). Wie das LSG festgestellt hat, fehlt es im vorliegenden Falle jedoch an jeglicher Art der Rüge. Dem Protokoll und den Schriftsätzen der Klägerin ist nichts zu entnehmen, was auf die Geltendmachung eines Verfahrensmangels in zweiter Instanz hindeutet. Damit liegt eine Voraussetzung nicht vor, die für die Zulässigkeit der Berufung nach § 150 Nr 2 SGG gegeben sein muß.
Daraus, daß entgegen §§ 202 SGG, 559 ZPO der Umfang der Überprüfung des angefochtenen Urteils in der Revisionsinstanz auch auf schwerwiegende Verfahrensfehler von Amts wegen zu erstrecken ist, sofern die Revision zulässig ist, folgt nicht schon, daß entgegen § 150 Nr 2 SGG bei Vorliegen eines solchen Verfahrensfehlers die Berufung auch ohne Rüge dieses Verfahrensfehlers eröffnet wird. Beide Fragen sind getrennt voneinander zu sehen und verschieden zu beantworten. Die eine Frage betrifft den Umfang der Revision, ihre Zulässigkeit vorausgesetzt, die andere die Statthaftigkeit des Rechtsmittels. In der Rechtsprechung ist es herrschende Meinung, daß zwar der Umfang der Prüfung in der Revisionsinstanz sich auch auf in der Revisionsinstanz fortwirkende Verfahrensmängel bezieht, daß aber dennoch, soweit es für die Zulässigkeit der Berufung oder der Revision auf die Rüge eines Verfahrensmangels ankommt, diese Rüge substantiiert vorgebracht werden muß. Gemäß § 30 der Verordnung zur Durchführung der Militärregierungsverordnung Nr 98 über die Errichtung eines Obersten Gerichtshofes für die britische Zone vom 17. November 1947 (Verordnungsblatt für die britische Zone 1947, 149) war die Revision vor dem Obersten Gerichtshof der britischen Zone unbeschränkt zulässig, insoweit es sich um die Unzulässigkeit des Rechtsweges oder die Unzulässigkeit der Berufung handelte und in Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche, für welche die Landgerichte ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes ausschließlich zuständig waren. Im übrigen galten gem § 31 für das Verfahren die §§ 548 bis 566, § 554 Abs 7 ZPO entsprechend. Der Oberste Gerichtshof für die britische Zone entschied (OGH 3, 103, 105), daß nach § 30 Nr 1 der Verordnung (VO) die Zulässigkeit der Revision nur dann angenommen werden könne, wenn die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Rechtsweges in der Revisionsbegründung (§ 554 Abs 3 Nr 2 b ZPO) angegriffen worden sei. Dem stehe nicht entgegen, daß bei einer aus anderen Gründen zulässigen Revision auch die Frage der Zulässigkeit des Rechtsweges wie alle anderen von Amts wegen zu berücksichtigenden Prozeßvoraussetzungen ohne Rüge der Parteien zu prüfen sei. Davon ist auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE 1, 29, 32) ausgegangen. Nach § 54 des Gesetzes über das BVerwG vom 23. September 1952 (BGBl I, 625) war die Revision ohne besondere Zulassung begründet, wenn ausschließlich wesentliche Mängel des Verfahrens gerügt wurden und eine der in § 53 Abs 2 bezeichneten Voraussetzungen vorlagen. In § 53 Abs 2 waren die Voraussetzungen genannt, unter denen die Revision zuzulassen war; insbesondere war sie zuzulassen, wenn die Klärung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu erwarten war. In seinem Urteil vom 6. November 1953 (BVerwGE 1, 29) hat das BVerwG zu prüfen gehabt, ob die Revision deshalb zulässig war, weil das Berufungsgericht zu Unrecht eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist verweigert hatte. Es hat zunächst ausgeführt, daß der Kläger die Unterlassung der Berücksichtigung und Würdigung der Zustellung des Umschlages gerügt und damit einen wesentlichen Mangel im Sinne des § 54 Abs 2 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht geltend gemacht habe. Desweiteren hat es dann die Begründetheit der Berufung aufgrund des dem Berufungsgericht unterlaufenen Verfahrensmangels geprüft. Es ist damit ebenfalls davon ausgegangen, daß die Rüge des Verfahrensmangels, die die Revision erst zulässig machen konnte, nicht durch die Schwere des Verfahrensmangels ersetzt wird (ebenso der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 29. Oktober 1953 - Lindenmaier-Möhring Nr 4 zu § 554 ZPO -). Das Bundessozialgericht (BSG) (BSGE 1, 227, 230; Urteil vom 23. September 1955) hat ausgeführt, daß die Zulässigkeit der Berufung eine Voraussetzung ist, von der das gesamte weitere Verfahren nach Einlegung der Berufung abhängt, also auch das Verfahren der Revisionsinstanz. Damit sei grundsätzlich auch vom Revisionsgericht die Zulässigkeit der Berufung von Amts wegen zu prüfen. Wenn jedoch die Statthaftigkeit der Revision gerade daraus hergeleitet werden solle, daß das Berufungsgericht die Zulässigkeit der Berufung unrichtig beurteilt habe, so müsse dieser Verstoß in der für Verfahrensmängel vorgeschriebenen Form (§ 162 Abs 1 Nr 2 iVm § 164 Abs 2 Satz 3 SGG aF) gerügt werden. Damals war die Revision im sozialgerichtlichen Verfahren ua zulässig, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wurde (§ 162 Abs 1 Nr 2 SGG in der vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 - BGBl I, 1625) geltenden Fassung. Entsprechendes hat auch für die Zulässigkeit der Berufung zu gelten. Von derselben Rechtsauffassung ist das BSG im Urteil vom 28. Februar 1974 (SGb 74, 236 Nr 26, 5 RKn 47/72) ausgegangen. Es hat dazu ausgeführt:
"Die Berufung wäre ungeachtet des § 146 SGG auch dann nicht zulässig gewesen, wenn - wie die Beklagte behauptet - in erster Instanz eine nichtzulässige Kammer des SG entschieden hätte. Selbst für den Fall, daß es sich hierbei um einen in der Berufungsinstanz fortwirkenden Verfahrensmangel gehandelt hätte, hätte er nur im Rahmen einer zulässigen Berufung von Amts wegen berücksichtigt werden können. Bei der Prüfung der Statthaftigkeit einer Berufung können nämlich stets nur gerügte Verfahrensmängel berücksichtigt werde. Da die Beklagte vor dem LSG keinen Verfahrensmangel gerügt hat, konnte das Berufungsgericht im Rahmen der Statthaftigkeit des Rechtsmittels die etwaige Unzuständigkeit des Spruchkörpers erster Instanz nicht berücksichtigen."
Daraus, daß das BSG (SozR 1500 § 75 Nr 1 SGG) auch die unterbliebene notwendige Beiladung zu den Verfahrensfehlern zählt, die zum Umfang der vom Revisionsgericht bei einer zulässigen Revision zu prüfenden Fragen gehört, ist also noch nicht zu schließen, daß auch ohne Rüge nach § 150 Nr 2 SGG ein entsprechender Verfahrensfehler die Berufung zulässig macht.
Das Revisionsgericht ist im vorliegenden Falle nicht gehindert, wegen des Verbotes der Schlechterstellung (Verbot der reformatio in peius) das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Durch die Verwerfung der Berufung als unzulässig wird der Revisionskläger nicht in eine ungünstigere Lage versetzt, als durch das von ihm angegriffene, seine Berufung als unbegründet zurückweisende Urteil (BSGE 2, 225, 228; Stein-Jonas, Kommentar zur ZPO, 19. Auflage, § 536 Anm I 2/a).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1, Abs 4 SGG.
Fundstellen