Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosenhilfe. Kirchensteuer. Gewöhnlich anfallender Abzug
Leitsatz (redaktionell)
Jedenfalls bis zum Jahr 1998 gehörte die Kirchensteuer zu denjenigen gesetzlichen Abzügen, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen. Die Kirchensteuer war daher gem. § 111 Abs. 1 AFG bzw. § 136 Abs. 3 SGB III bei der Bemessung der Arbeitslosenhilfe vom Arbeitsentgelt abzusetzen.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1; SGB I § 2 Abs. 2; SGB III § 136 Abs. 1, 2 S. 2 Nr. 2, § 195; AFG § 111 Abs. 1, 2 S. 2 Nr. 2
Beteiligte
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. März 2000 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Im Streit ist die Zahlung höherer Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 1. April 1996.
Der 1949 geborene, keiner Kirche angehörende Kläger bezog von der Beklagten Anschluss-Alhi. Auf einen Fortzahlungsantrag des Klägers bewilligte die Beklagte Alhi ab 1. April 1996, bei deren Bemessung die Kirchensteuer als gewöhnlich anfallender, das Arbeitsentgelt vermindernder gesetzlicher Abzug berücksichtigt wurde (Bescheid vom 12. April 1996; Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 1996; Bescheide vom 2. Mai 1997 und 27. April 1998).
Die Klage auf höhere Alhi ohne Berücksichtigung der Kirchensteuer als gewöhnlich anfallendem Abzug blieb erst- und zweitinstanzlich erfolglos (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 13. Januar 1999; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 24. März 2000). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, es sei mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar, auch bei Arbeitslosen, die keiner Kirche angehörten, das pauschalierte Nettoarbeitsentgelt, das Ausgangswert für die prozentuale Bestimmung der Alhi sei, unter Berücksichtigung der Kirchensteuer als gewöhnlich anfallendem Abzug vom Arbeitsentgelt zu berechnen. Dies habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits entschieden (BVerfGE 90, 226, 237), auch wenn es dem Gesetzgeber aufgegeben habe, die Entwicklung zu beobachten, um wesentlichen Änderungen rechtzeitig Rechnung tragen zu können. Aus allen bisher bekannten Daten könne zwar auf eine Tendenz zum Rückgang der Zahl der kirchensteuerpflichtigen Arbeitnehmer geschlossen werden; dieser Umstand sei indes kein Beleg dafür, dass evidentermaßen eine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern nicht mehr Kirchen angehöre, die Kirchensteuer erhöben. Nach wie vor sei, wie auch das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 27. Juni 1996 (11 RAr 1/96) entschieden habe, nicht offensichtlich, dass keine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern Kirchensteuer erhebenden Kirchen angehörten und deshalb die gesetzliche Regelung mit dem vom Gesetzgeber gewählten Ansatz zur Typisierung nicht mehr verfassungsgemäß sei.
Mit der Revision rügt der Kläger einen Verstoß der Regelungen des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) und des Sozialgesetzbuchs – Arbeitsförderung – (SGB III) gegen Art 3 Abs 1 GG und Art 4 Abs 1 GG sowie gegen das in § 2 Abs 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) enthaltene Günstigkeitsprinzip.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben sowie die Bescheide der Beklagten vom 12. April 1996 – diesen in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Juli 1996 –, 2. Mai 1997 und 27. Mai 1998 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, höhere Alhi ab 1. April 1996 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verweist auf den Beschluss des BVerfG vom 23. März 1994 (BVerfGE 90, 226 ff), nach dem die pauschale Berücksichtigung eines Kirchensteuerabzugs bei der Berechnung der Lohnersatzleistungen nach dem AFG verfassungsmäßig sei, solange eine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer kirchensteuerpflichtig sei. Diese Ansicht sei in der Folgezeit vom BSG in mehreren Urteilen geteilt worden. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) habe auch geprüft, ob die Kirchensteuer weiterhin zu den bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallenden Abzügen gehöre. Diese Ermittlungen hätten ergeben, dass im Jahre 1995 noch ca 60 % der lohnsteuerpflichtigen Arbeitnehmer (als Mitglied einer Kirche) kirchensteuerpflichtig gewesen seien. Auch für die Jahre 1996 bis 1998 sei noch eine deutliche Mehrheit von knapp unter 60 % anzunehmen.
Der Senat hat beim BMA eine Auskunft darüber eingeholt, welche Ermittlungen in welchen zeitlichen Abständen und mit welchen Ergebnissen seit der Entscheidung des BVerfG durchgeführt worden sind.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS der Aufhebung der zweitinstanzlichen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Zwar kann der Argumentation des Klägers nicht gefolgt werden, die gesetzliche Regelung über die Berücksichtigung der Kirchensteuer als gewöhnlich anfallendem Abzug vom Arbeitsentgelt sei verfassungswidrig; jedoch fehlt es in der Entscheidung des LSG an jeglichen Feststellungen zur Höhe der zur zahlenden Alhi. Insoweit genügt nicht der Hinweis, die angefochtenen Bescheide seien rechtsfehlerfrei. Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG im Übrigen genau zu ermitteln haben, welche Bescheide im streitigen Zeitraum ergangen sind. Nach Aktenlage sind dies nämlich nicht nur die Bescheide vom 2. Mai 1997 und 27. April 1998.
Die gesetzlichen Regelungen des SGB III und des AFG (siehe im Folgenden) verlangen ausdrücklich, dass bei der Bemessung der Alhi die Kirchensteuer als gewöhnlich anfallender Abzug vom Arbeitsentgelt berücksichtigt wird; für die vom Kläger begehrte Auslegung nach dem Günstigkeitsprinzip (§ 2 Abs 2 SGB I) ist deshalb kein Raum. Die Verfassungswidrigkeit der Bemessung der Alhi lässt sich entgegen der Ansicht des Klägers ebenfalls nicht feststellen. Dass nach § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG (anwendbar über § 136 Abs 3 Satz 2 AFG) bei der Ermittlung des (pauschalierten) Nettolohns, der Ausgangspunkt für die prozentuale Berechnung der Alhi ist, als ein das Arbeitsentgelt vermindernder gesetzlicher Abzug, der bei Arbeitnehmern üblicherweise anfällt (§ 111 Abs 1 AFG), der niedrigste in den Ländern geltende Kirchensteuer-Hebesatz zu berücksichtigen ist, verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 oder Art 4 Abs 1 GG. Dies hat bereits der 11. Senat (für die Jahre bis 1999) in seiner Entscheidung vom 8. November 2001 (B 11 AL 43/01 R –, unveröffentlicht) dargelegt; der erkennende Senat schließt sich dieser Entscheidung in Fortführung der bisherigen Rechtsprechung (BSGE 73, 195 ff = SozR 3-4100 § 249e Nr 3; BSG SozR 3-4100 § 249e Nr 5 und 10; BSG, Urteil vom 26. Juli 1994 – 11 RAr 103/93 –, DBlR Nr 4167a zu § 249c AFG; Urteil vom 26. Oktober 1994 – 11 RAr 87/93 –, DBlR Nr 4187a zu § 249e AFG = AuB 1995, 379 ff; Urteil vom 27. Juni 1996 – 11 RAr 1/96 –, DBlR Nr 4326 zu § 111 AFG – betreffend die Jahre 1991 bis 1996) ausdrücklich an.
Diese Rechtsprechung basiert auf der Entscheidung des BVerfG vom 23. März 1994 (BVerfGE 90, 226 ff = SozR 3-4100 § 111 Nr 6). Zwar hat das BVerfG darin dem Gesetzgeber aufgetragen, die weitere Entwicklung zu beobachten, um die verfassungsrechtlichen Grenzen der gesetzlichen Typisierung zu wahren (BVerfGE 90, 226, 236 ff = SozR 3-4100 § 111 Nr 6). Wie der 11. Senat kann sich der erkennende Senat jedoch auf Grund des verfügbaren Zahlenmaterials nicht die Überzeugung bilden, dass es sich bei der Kirchensteuer inzwischen nicht mehr um einen „gewöhnlich anfallenden” Abzug vom Arbeitsentgelt handelt. Das BMA hat auf Anfrage unter dem 6. November 2001 mitgeteilt, der genaue Anteil der Arbeitnehmer, die Kirchensteuer zahlten, lasse sich nur über die Lohn- und Einkommensteuerstatistik ermitteln. Diese Sonderauswertung werde in einem dreijährigem Turnus erstellt. Im Sommer 1999 sei die Statistik für das Jahr 1995 erstellt worden; mit dem Ergebnis für 1998 werde erst im Sommer 2002 gerechnet. Der Anteil Kirchensteuer zahlender Arbeitnehmer sei für die Zeit nach 1995 bis zur Sonderauswertung in Anlehnung an den Anteil der Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung (letzter Stand 31. Dezember 1999) ermittelt worden; dieser Unterschied werde als annähernd konstant betrachtet. Die Lohn- und Einkommensteuerstatistik hat nach der letzten Sonderauswertung der Lohn- und Einkommensteuerstatistik 1995 30,9 Millionen lohnsteuerpflichtige Arbeitnehmer ausgewiesen, von denen 18,4 Millionen Kirchenlohnsteuer entrichteten. Nach Mitteilungen der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Verbands der Diözesen Deutschlands bzw der Deutschen Bischofskonferenz waren 1995 68 vH und 1999 65,6 vH der Bevölkerung Deutschlands Mitglieder einer zur Erhebung von Kirchensteuer ermächtigten Kirche. Der Anteil der Kirchenlohnsteuerzahler lag 1995 8 vH unter dem Anteil der Kirchenmitglieder der Bevölkerung insgesamt. 1999 dürfte damit der entsprechende Anteil der Arbeitnehmer, die Kirchensteuer zu zahlen hatten, noch etwa 57 vH (= 65,6 vH – 8 vH) betragen haben, der Anteil der Arbeitnehmer, die nicht kirchensteuerpflichtig waren, dagegen etwa 43 vH. Für die Zeit bis zum Außerkrafttreten des AFG (31. Dezember 1997) kann der Senat sich deshalb nicht die Überzeugung bilden, dass die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer keiner zur Erhebung von Kirchensteuer ermächtigten Kirche mehr angehört.
Auch für den Bezugszeitraum ab 1. Januar 1998 ergibt sich keine für den Kläger günstigere Rechtslage. Nach § 195 des mit dem Arbeitsförderungs-Reformgesetz vom 24. März 1997 (BGBl I 594) erlassenen SGB III bestimmt sich die Höhe der Alhi weiterhin prozentual nach dem pauschalierten Nettoentgelt (Leistungsentgelt), das sich seinerseits aus dem Bruttoentgelt ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt). Dabei ist weiterhin gemäß § 136 Abs 1 SGB III – anwendbar über § 198 Satz 2 Nr 4 SGB III – bestimmt, dass das Leistungsentgelt das um die gesetzlichen Entgeltabzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderte Bemessungsentgelt ist; zu diesen Abzügen zählt die Kirchensteuer, wie sich aus der Regelung zu deren Höhe (§ 136 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB III) ergibt. Auch diese Vorschrift ist noch verfassungsgemäß. Wie der 11. Senat ist der erkennende Senat auf Grund der erörterten Zahlen auch für die Zeit nach 1998 nicht davon überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer keiner zur Erhebung von Kirchensteuer ermächtigten Kirche mehr angehört. Angesichts der noch nicht vorliegenden genauen Zahlen für die Jahre bis 1998 bzw der ebenfalls nicht vorliegenden Näherungswerte für die Zeit nach 1999 könnte sich jedoch für den Gesetzgeber künftig die Notwendigkeit zum Handeln ergeben, weil sich das Verhältnis der Kirchenlohnsteuer entrichtenden Arbeitnehmer zu denjenigen, die keine Kirchenlohnsteuer entrichten, auf einen Grenzwert zubewegt, der das vom BVerfG geforderte Gebot der Normenklarheit künftig beeinträchtigen könnte.
Unter diesen Umständen hat der Senat keine Veranlassung, das Verfahren auszusetzen und dem BVerfG die Sache zur verfassungsrechtlichen Überprüfung des § 111 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG oder des § 136 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB III vorzulegen. Im Übrigen hat das LSG ohnedies nach der Zurückverweisung die Höhe der dem Kläger zustehenden Leistung in vollem Umfang zu überprüfen. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
NZA 2002, 1026 |
AUR 2002, 279 |
info-also 2002, 227 |