Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. fortgeführtes PKH-Verfahren nach Erledigung der Hauptsache. eigenständiges Gerichtsverfahren. Berücksichtigung der Zeiten ab Beendigung der Hauptsache bis zum Abschluss des PKH-Verfahrens. PKH-Verzögerungszeiten während des Hauptsacheverfahrens nur unselbständiges Element der Verzögerung des Hauptsacheverfahrens. keine Vorbereitungs- und Bedenkzeit bei klarer Anspruchslage im nachlaufenden PKH-Verfahren. keine Wiedergutmachung auf andere Weise als Geldentschädigung. Ungewissheit über Belastung mit Rechtsanwaltskosten. einheitlicher Entschädigungsanspruch nach verbundenen Klageverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Ein nach Erledigung der Hauptsache fortgeführtes Prozesskostenhilfeverfahren ist ein eigenständiges Gerichtsverfahren im Sinne des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren.
2. Bei Überlänge von nach Erledigung verbundener Klageverfahren fortgeführter Prozesskostenhilfeverfahren steht dem Kläger nur ein einziger Entschädigungsanspruch zu.
Orientierungssatz
1. Für die Berechnung der Gesamtdauer des fortgeführten Prozesskostenhilfeverfahrens ist nur der Zeitraum ab Erledigung des Hauptsacheverfahrens bis zum rechtskräftigen Beschluss über die Prozesskostenhilfe zugrunde zu legen.
2. Die Verzögerungszeiten bis zur Beendigung des Hauptsacheverfahrens können nur als unselbstständiges Element eines Anspruchs auf Entschädigung für die überlange Dauer der Hauptsache als solcher geltend gemacht werden; ein Wahlrecht besteht insoweit nicht (vgl BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 14, vom 18.2.2021 - B 10 ÜG 8/20 B und vom 2.8.2018 - B 10 ÜG 7/18 B).
3. Sind die Voraussetzungen des Anspruchs auf Prozesskostenhilfe nach der Erledigung des Hauptsacheverfahrens eindeutig geklärt und erfüllt, ist dem Ausgangsgericht für die Entscheidung über das nachlaufende Prozesskostenhilfeverfahren keine Vorbereitungs- und Bedenkzeit mehr zuzubilligen.
4. Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das LSG als Entschädigungsgericht eine Wiedergutmachung auf andere Weise als Geldentschädigung (vgl § 198 Abs 2 S 2 iVm Abs 4 S 1 GVG ) im Hinblick auf Verzögerungszeiten nach Beendigung des Hauptsacheverfahrens nicht für ausreichend hält, wenn dem Beteiligten eines noch offenen Prozesskostenhilfeverfahrens im Ausgangsrechtsstreit eine Belastung mit den Rechtsanwaltskosten gedroht hat.
Normenkette
GVG § 198 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 6 Nr. 1; SGG §§ 73a, 113 Abs. 1; ZPO § 114
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. September 2022 aufgehoben, soweit es den Klägern jeweils mehr als 2200 Euro zugesprochen hat.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens vor dem Landessozialgericht tragen die Kläger zu jeweils 3/10 und der Beklagte zu 1/10.
Die Kosten des Revisionsverfahrens tragen die Kläger zu jeweils 1/4 und der Beklagte ebenfalls zu 1/4.
Der Streitwert des Revisionsverfahrens wird auf 24 500 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Kläger begehren Entschädigung wegen unangemessen langer Dauer von fünf vor dem SG Berlin (Ausgangsgericht) zunächst zusammen mit der jeweiligen Hauptsache und danach isoliert geführten Prozesskostenhilfe (PKH)-Verfahren.
Die Ausgangsverfahren betrafen in der Hauptsache Ansprüche der Kläger auf höhere Leistungen nach dem SGB II. Das Ausgangsgericht verband sie mit Beschluss vom 22.6.2017 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung. Die Kläger hatten in allen Verfahren PKH beantragt.
Das verbundene Klageverfahren wurde durch ein Teilanerkenntnis des beklagten Jobcenters vom 16.5.2018 und dessen Annahme durch die Kläger sowie Klagerücknahme im Übrigen mit Schriftsatz vom 25.5.2018 erledigt. Mit der Klagerücknahme erinnerte der Prozessbevollmächtigte der Kläger an die Entscheidung über die noch offenen PKH-Anträge. Am 24.11.2019 erhob er deswegen Verzögerungsrüge. Mit Beschluss vom 19.8.2020, den Beteiligten zugestellt am 20.8.2020, bewilligte das Ausgangsgericht den Klägern für die verbundenen Klageverfahren antragsgemäß ratenfrei PKH und ordnete ihren Prozessbevollmächtigten bei.
Am 22.2.2021 (Montag) haben die Kläger Entschädigungsklage erhoben und eine Geldentschädigung wegen der überlangen Dauer der PKH-Verfahren beantragt. Das LSG als Entschädigungsgericht hat mit Urteil vom 22.9.2022 den Klägern zu 1. und 3. eine Entschädigung in Höhe von jeweils 7600 Euro und dem Kläger zu 2. eine solche in Höhe von 9300 Euro wegen der unangemessenen Dauer der Bearbeitung ihrer PKH-Anträge zugesprochen. Ein PKH-Verfahren sei entschädigungsrechtlich nur während der Dauer des Hauptsacheverfahrens als dessen Annex anzusehen. Gehe es diesem voraus oder werde es nach dessen Erledigung fortgeführt, seien dagegen Inaktivitätszeiten wie bei jedem anderen Verfahren zu berücksichtigen. Dabei sei eine Gesamtbetrachtung der Verfahrenszeiten vorzunehmen. Die Entschädigungsansprüche seien für sämtliche Verfahren gesondert zu prüfen, weil trotz der Verbindung jedes Verfahren seine Eigenständigkeit behalte. Die Ausgangsverfahren hätten eine durchschnittliche Bedeutung und Schwierigkeit aufgewiesen, seien jedoch überdurchschnittlich komplex gewesen. Bis zur Verbindung sei es nur in einem Verfahren zu sechs und in einem weiteren Verfahren zu zwei, nach der Verfahrensverbindung zu weiteren sieben Monaten gerichtlicher Inaktivität gekommen. Nach der Erledigung der Hauptsache habe das Ausgangsgericht das hinsichtlich der Kostengrundentscheidung und der PKH noch offene Verfahren für 22 weitere Kalendermonate nicht betrieben. Abzuziehen sei die nach der Rechtsprechung des BSG regelmäßig anzunehmende zwölfmonatige Vorbereitungs- und Bedenkzeit. Die danach verbleibenden inaktiven Monate seien mit dem gesetzlichen Regelbetrag zu entschädigen. Eine ausnahmsweise Wiedergutmachung auf andere Weise scheide aus.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Das Entschädigungsgericht habe den Begriff des Gerichtsverfahrens im Sinne dieser Vorschrift verkannt. Die Einbeziehung nachlaufender PKH-Verfahren in den Schutzbereich sei nicht erforderlich, weil das Rechtsschutzbedürfnis der Kläger mit Abschluss des Hauptsacheverfahrens vollständig erfüllt sei. Jedenfalls seien entschädigungsrechtlich nur Verzögerungen nach Erledigung des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Die Kläger könnten für die verbundenen Verfahren zudem allenfalls einmal Entschädigung verlangen. Schließlich sei bereits eine Wiedergutmachung auf andere Weise durch die vom Präsidenten des Ausgangsgerichts ausgesprochene Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer erfolgt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 22. September 2022 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil des Entschädigungsgerichts.
Entscheidungsgründe
A. Die zulässige Revision des Beklagten ist teilweise begründet. Die Kläger haben jeweils nur Anspruch auf 2200 Euro Entschädigung wegen überlanger Dauer der von ihnen beim Ausgangsgericht nach Erledigung der verbundenen Hauptsacheverfahren fortgeführten PKH-Verfahren. Soweit das Entschädigungsgericht ihnen darüber hinaus höhere Entschädigungen zugesprochen hat, waren sein Urteil aufzuheben und die Entschädigungsklagen abzuweisen ( § 170 Abs 2 Satz 1 SGG ) .
B. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das stattgebende Urteil des Entschädigungsgerichts, mit dem es den Beklagten zur Zahlung von Geldentschädigungen an die Kläger wegen der unangemessenen Dauer der Bearbeitung ihrer PKH-Anträge verurteilt hat.
C. Die Entschädigungsklagen sind zulässig.
1. Die Klagen auf Entschädigung für die nach Erledigung der verbundenen Klageverfahren fortgeführten PKH-Verfahren sind als allgemeine Leistungsklagen statthaft ( § 54 Abs 5 SGG ; stRspr; zB BSG Urteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 14 mwN) . Die Kläger konnten sie wegen des sachlichen Zusammenhangs und des identischen Klagegegners nach § 56 SGG zulässigerweise in objektiver und nach § 74 SGG iVm § 59 ZPO auch in subjektiver Klagehäufung in einem Verfahren beim Entschädigungsgericht bündeln.
2. Die Wartefrist des § 198 Abs 5 Satz 1 GVG und die sechsmonatige Klagefrist des § 198 Abs 5 Satz 2 GVG haben die Kläger eingehalten.
D. Die Entschädigungsklagen sind nur im tenorierten Umfang begründet. Nach § 202 Satz 2 SGG iVm § 198 Abs 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet.
In den Anwendungsbereich des § 198 GVG fallen auch Verfahren zur Bewilligung von PKH (dazu unter 1.) . Allerdings führt ein gleichzeitig neben dem Hauptsacheverfahren anhängiges PKH-Verfahren als dessen Annex nicht zu einem weiteren - eigenständigen - Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs 1 Satz 1 GVG (dazu unter 2.) . Einen eigenständigen Entschädigungsanspruch kann die überlange Dauer eines PKH-Verfahrens nur für den Zeitraum begründen, in dem es vor Beginn der Hauptsache oder - wie hier - nach deren Erledigung isoliert (fort)geführt wird (dazu unter 3.) . Deshalb ist der Entschädigungsanspruch wegen überlanger Dauer eines nach Erledigung in der Hauptsache fortgeführten PKH-Verfahrens ab diesem Zeitpunkt zu prüfen (dazu unter 4.) Eine Wiedergutmachung auf andere Weise nach § 198 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 4 Satz 1 GVG scheidet im Fall der Kläger aus (dazu unter 5.) . Vielmehr steht jedem Kläger ein Entschädigungsanspruch von 2200 Euro zu (dazu unter 6.).
1. Verfahren zur Bewilligung von PKH fallen in den Anwendungsbereich des § 198 GVG und werden neben dem Klageverfahren zur Hauptsache erfasst ( BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 28 mwN). Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von § 198 Abs 6 Nr 1 Halbsatz 1 GVG . Danach ist Gerichtsverfahren iS des § 198 GVG jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss einschließlich ua eines Verfahrens zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe (vgl auch Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 17.11.2010 zum Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ≪ÜGG≫, BT-Drucks 17/3802 , S 23).
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG führt allerdings ein gleichzeitig neben dem Hauptsacheverfahren anhängiges PKH-Verfahren als dessen Annex nicht zu einem weiteren - eigenständigen - Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs 1 Satz 1 GVG ( BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 29; BSG Beschluss vom 18.2.2021 - B 10 ÜG 8/20 B - juris RdNr 6 ; BSG Beschluss vom 2.8.2018 - B 10 ÜG 7/18 B - juris RdNr 8 ; ebenso BFH Urteil vom 23.3.2022 - X K 6/20 - BFHE 276, 308 - juris RdNr 27) . Wegen des an der Hauptsache orientierten Verfahrensbegriffs des § 198 Abs 6 Nr 1 GVG ( BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 39; BSG Urteil vom 10.7.2014 - B 10 ÜG 8/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 2 RdNr 15) besteht auch kein Wahlrecht zwischen einer Entschädigung für die Dauer des Verfahrens in der Hauptsache und derjenigen des gleichzeitig geführten PKH-Verfahrens ( BSG Beschluss vom 18.2.2021 - B 10 ÜG 8/20 B - juris RdNr 6 mwN) . Vielmehr sind Verzögerungen im Verfahren über die Bewilligung von PKH während der Dauer eines gleichzeitig rechtshängigen Hauptsacheverfahrens als einer der nach § 198 Abs 1 Satz 2 GVG maßgeblichen Einzelfallumstände für die Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer der Hauptsache zu berücksichtigen ( BSG Beschluss vom 2.8.2018 - B 10 ÜG 7/18 B - juris RdNr 8 ; BSG Beschluss vom 25.10.2016 - B 10 ÜG 23/16 B - juris RdNr 6 ) .
3. Wie das Entschädigungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend angenommen hat, stehen den Klägern wegen der überlangen Dauer der nach Erledigung des verbundenen Hauptsacheverfahrens isoliert weitergeführten PKH-Verfahren eigenständige Ansprüche auf Entschädigung zu.
a) Das BSG hat bereits entschieden, dass die überlange Dauer eines der Hauptsache vorgelagerten und damit isoliert geführten PKH-Verfahrens einen eigenständigen Entschädigungsanspruch begründen kann ( BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 28; ebenso BFH Urteil vom 20.3.2019 - X K 4/18 - BFHE 263, 498 - juris RdNr 31; BGH Urteil vom 5.12.2013 - III ZR 73/13 - BGHZ 199, 190 - juris RdNr 23; Lückemann in Zöller, ZPO, 35. Aufl 2024, § 198 GVG RdNr 12 ). Spiegelbildlich ebenso in den Anwendungsbereich des § 198 GVG fällt die überlange Dauer eines nach Erledigung der Hauptsache isoliert fortgeführten Verfahrens auf Gewährung von PKH. Denn nach Sinn und Zweck schützt § 198 GVG auch das Interesse am zeitgerechten Abschluss eines eigenständigen Nebenverfahrens, das auf die Erledigung eines Vorprozesses folgt ( BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 25; BSG Urteil vom 10.7.2014 - B 10 ÜG 8/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 2 RdNr 19) . Der Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit gebietet bei Verfahren zur Bewilligung von PKH eine angemessen schnelle richterliche Entscheidung; ihre Verzögerung kann den Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzen ( BSG Beschluss vom 8.9.2020 - B 9 V 3/20 BH - juris RdNr 17 ; BFH Urteil vom 20.3.2019 - X K 4/18 - BFHE 263, 498 - juris RdNr 31; BGH Urteil vom 5.12.2013 - III ZR 73/13 - BGHZ 199, 190 - juris RdNr 23; Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 17.11.2010 zum ÜGG, BT-Drucks 17/3802 , S 23) . Entgegen der Ansicht des Beklagten erfüllt die Erledigung der Hauptsache bei offenem PKH-Antrag nicht den grundgesetzlich geschützten Anspruch auf Gleichstellung von bemittelten und unbemittelten Klägern aus Art 3 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG . Das Hinausschieben der Entscheidung bis zum Abschluss des Verfahrens - im Fall der Kläger sogar weit darüber hinaus - verfehlt vielmehr eindeutig den Zweck der PKH ( BSG Beschluss vom 4.12.2007 - B 2 U 165/06 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 9 RdNr 9; vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 26.6.2003 - 1 BvR 1152/02 - SozR 4-1500 § 73a Nr 1 RdNr 11) . Denn eine Erledigung der Hauptsache ohne vorherige Entscheidung über das PKH-Gesuch vertieft den Eingriff in den Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit (vgl Schultzky in Zöller, ZPO, 35. Aufl 2024, § 127 RdNr 8 und 11) , in das Recht auf ein faires Verfahren und unter Umständen auch in den Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl BSG aaO RdNr 10) . Nicht zuletzt kann eine erheblich verzögerte Entscheidung des Prozessgerichts über die PKH-Gewährung unbemittelte Beteiligte davon abhalten, in Zukunft den ihnen zustehenden gerichtlichen Rechtsschutz gegen behördliche Maßnahmen zu beanspruchen.
b) Allerdings hat das Entschädigungsgericht in teilweiser Abweichung von dem strikt an der Hauptsache orientierten Verfahrensbegriff des § 198 GVG den Klägern Entschädigung für die gesamte Dauer der von ihnen geführten PKH-Verfahren als Ergebnis einer "Gesamtbetrachtung" zugesprochen. Dafür hat es unzutreffend teilweise auch die Dauer der PKH-Verfahren während der gleichzeitig geführten (verbundenen) Hauptsacheverfahren bis zu deren Erledigung entschädigungserhöhend berücksichtigt. Richtigerweise hätten die Kläger aber Verzögerungen bei der Bearbeitung ihrer PKH-Anträge während der Dauer der Hauptsacheverfahren nur als unselbstständiges Element eines Anspruchs auf Entschädigung für die überlange Dauer der Hauptsache als solcher geltend machen können; ein Wahlrecht bestand insoweit nicht (vgl BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 28 f; BSG Beschluss vom 18.2.2021 - B 10 ÜG 8/20 B - juris RdNr 6 ; BSG Beschluss vom 2.8.2018 - B 10 ÜG 7/18 B - juris RdNr 8 ) . Davon haben sie indes von vornherein abgesehen und ihre Entschädigungsklagen ausdrücklich auf die Überlänge der PKH-Verfahren beschränkt. Konsequenterweise haben sie weder eine Verzögerung der Hauptsache gerügt noch insoweit (fristgerecht) Entschädigungsklagen erhoben. Eine Entschädigung für die Dauer der verbundenen Hauptsacheverfahren und der währenddessen laufenden PKH-Verfahren können sie daher nicht mehr beanspruchen, auch nicht auf dem Umweg über die vom Entschädigungsgericht vorgenommene "Gesamtbetrachtung" von Hauptsache- und PKH-Verfahren.
c) Die Kläger haben in den nach Erledigung der verbundenen Hauptsacheverfahren ab Mai 2018 fortgeführten PKH-Verfahren mit Schriftsatz vom 24.11.2019 wirksam Verzögerungsrüge erhoben. Zu diesem Zeitpunkt bestand aus Sicht eines verständigen Rügeführers eine hinreichende Besorgnis der (weiteren) Verfahrensverzögerung ( § 198 Abs 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG ; vgl hierzu BSG Urteil vom 9.3.2023 - B 10 ÜG 2/21 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 23 RdNr 28) , weil nach den Feststellungen des Entschädigungsgerichts die Erledigung der Hauptsache bereits geraume Zeit zurücklag und das Ausgangsgericht seitdem monatelang untätig geblieben war, ohne dass sich für die Kläger eine Entscheidung des Ausgangsgerichts über die noch offenen PKH-Anträge abzeichnete.
4. Der Entschädigungsanspruch wegen überlanger Dauer eines nach Erledigung in der Hauptsache isoliert fortgeführten PKH-Verfahrens als eigenständiges Gerichtsverfahren iS des § 198 Abs 1 Satz 1 iVm § 198 Abs 6 Nr 1 Halbsatz 1 GVG ist nach Maßgabe der ständigen Rechtsprechung des BSG in drei Schritten zu prüfen (vgl zBBSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R - BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22, RdNr 19 f mwN) .
a) Bei der Berechnung der Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens nach § 198 Abs 6 Nr 1 Halbsatz 1 GVG als erstem Schritt der Prüfung der Angemessenheit der Dauer des Ausgangsverfahrens ist für die Kläger entgegen der Ansicht des Entschädigungsgerichts nicht die Gesamtdauer des (jeweiligen) PKH-Verfahrens von der Einreichung des (jeweiligen) PKH-Antrags im Ausgangsverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss zugrunde zu legen, sondern nur der Zeitraum ab Erledigung des (verbundenen) Hauptsacheverfahrens bis zum rechtskräftigen Beschluss über die PKH. Vorher waren die PKH-Verfahren lediglich unselbstständiger Annex der ihnen zugrunde liegenden Hauptsacheverfahren und hätten daher - wie oben bereits ausgeführt - lediglich zusammen mit der jeweiligen Hauptsache zum Inhalt eines Entschädigungsverfahrens gemacht werden können.
Die nach Erledigung der verbundenen Klageverfahren im Mai 2018 isoliert fortgeführten PKH-Verfahren haben nach den Feststellungen des Entschädigungsgerichts bis zur PKH-Bewilligung und ihrer Zustellung im August 2020 gedauert. Die Gesamtdauer der Ausgangsverfahren betrug damit insgesamt 28 Kalendermonate.
b) Im zweiten Schritt der Angemessenheitsprüfung ist der Ablauf des Verfahrens über die PKH-Gewährung insbesondere an den von § 198 Abs 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien zu messen. Maßgeblich zu berücksichtigen ist dabei insbesondere auch das ungeschriebene Kriterium der Prozessführung des Ausgangsgerichts ( BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R - BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22, RdNr 18 mwN) . Wie das Entschädigungsgericht für den Senat insoweit bindend festgestellt hat, hat das Ausgangsgericht die PKH-Verfahren nach Erledigung der verbundenen Klageverfahren für 22 Monate (Oktober 2018 bis Juli 2020) nicht betrieben.
Das Entschädigungsgericht ist im Übrigen von einer durchschnittlichen Bedeutung und Schwierigkeit sowie von einer überdurchschnittlichen Komplexität des Ausgangsverfahrens ausgegangen. Der Senat kann diese tatrichterlichen Feststellungen seiner Entscheidung zugrunde legen, obwohl sie zusätzlich auch den Zeitraum der (verbundenen) Hauptsacheverfahren berücksichtigen. Denn durch deren Erledigung hat sich die Bedeutung der Bewilligung von PKH nicht maßgeblich geändert. Insbesondere können Komplexität und Schwierigkeit des Verfahrens jedenfalls nicht größer geworden sein, nachdem das Ausgangsgericht nur noch über die Bewilligung von PKH zu entscheiden hatte.
c) Wie die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände im dritten Schritt der Angemessenheitsprüfung ergibt, hat die Verfahrensdauer der isoliert fortgeführten PKH-Verfahren von 28 Monaten, davon 22 Monate ohne gerichtliche Aktivität, die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht der Kläger auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt. Insbesondere war dem Ausgangsgericht für die Entscheidung in den nachlaufenden PKH-Verfahren keine Vorbereitungs- und Bedenkzeit mehr zuzubilligen. Die Voraussetzungen des (jeweiligen) PKH-Anspruchs waren zumindest nach der Erledigung der Hauptsacheverfahren eindeutig geklärt und erfüllt; die stattgebende - antragsgemäß ratenfreie - Entscheidung darüber bedurfte weder weiterer Überlegung noch umfangreicher Begründung (vgl Wache in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl 2020, § 127 RdNr 9; Schultzky in Zöller, ZPO, 35. Aufl 2024, § 127 RdNr 22 ) . Der vom BSG aus der typischen Struktur und Gestaltung sozialgerichtlicher Hauptsacheverfahren abgeleitete regelhafte Orientierungswert für die Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten (stRspr; zB BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 4/21 R - BSGE 134, 32 = SozR 4-1720 § 198 Nr 21, RdNr 16 mwN; grundlegend BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 45 ff) lässt sich nicht auf ein erheblich einfacher strukturiertes PKH-Verfahren übertragen, das nach Erledigung der Hauptsache isoliert fortgeführt wird.
5. Eine Wiedergutmachung auf andere Weise als Geldentschädigung nach § 198 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 4 Satz 1 GVG insbesondere durch die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, scheidet nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen des Entschädigungsgerichts zu Dringlichkeit und Bedeutung des Verfahrens über die PKH-Bewilligung aus. Solange die Entscheidungen über die PKH-Anträge noch offen waren, drohten den Klägern die Belastung mit den Rechtsanwaltskosten für den Fall, dass ihre Anträge vom Ausgangsgericht ganz oder teilweise zu ihren Lasten entschieden würden. Die Forderungssperre des Rechtsanwalts nach § 122 Abs 1 Nr 3 ZPO greift erst ab und in dem Umfang der Bewilligung der PKH.
6. Für die Monate der Untätigkeit des Ausgangsgerichts in den nach Erledigung der verbundenen Hauptsacheverfahren fortgeführten PKH-Verfahren steht jedem Kläger die Regelentschädigung des § 198 Abs 2 Satz 3 GVG von 100 Euro monatlich zu, insgesamt also 2200 Euro.
Allerdings kann jeder Kläger diesen Betrag für sich nur einmal verlangen. Die Verbindung der fünf Klageverfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung nach § 113 Abs 1 SGG hat zu einer objektiven Klagehäufung geführt. Wie das BSG für eine solche objektive Klagehäufung, also die Verfolgung mehrerer prozessualer Ansprüche (Streitgegenstände) in einem Gerichtsverfahren, bereits entschieden hat, bleibt es trotz einer Mehrzahl von in einem Ausgangsverfahren erhobenen und vom Ausgangsgericht jeweils eigenständig zu prüfenden - prozessrechtlich selbstständigen - Ansprüchen bei einem einzigen Entschädigungsanspruch wegen der Verzögerung eines Gerichtsverfahrens; der Entschädigungsanspruch vervielfältigt sich also nicht ( BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 38; ebenso BFH Urteil vom 27.6.2018 - X K 3-6/17 - juris RdNr 101; BFH Urteil vom 12.7.2017 - X K 3-7/16 - BFHE 259, 393 - juris RdNr 57 ) . Bei der Rechtsverfolgung verschiedener prozessualer Ansprüche ist für die Annahme eines Gerichtsverfahrens im entschädigungsrechtlichen Sinn entscheidend, dass die Streitgegenstände in einem Ausgangsverfahren verbunden sind und verbunden bleiben (BSG aaO, RdNr 39; BVerwG Urteil vom 14.11.2016 - 5 C 10/15 D - juris RdNr 17 ) . Ein aus einer Verfahrensverbindung nach § 113 Abs 1 SGG entstandener Rechtsstreit ist dabei so zu behandeln, als ob von vornherein eine Klagehäufung bestanden hätte (vgl BSG aaO RdNr 40; Guttenberger in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 113 RdNr 14, Stand: 15.6.2022) . Erst wenn ein Streitgegenstand abgetrennt und in einem getrennten Verfahren behandelt wird, kann dafür ein zusätzlicher Entschädigungsanspruch für den Zeitraum nach der Abtrennung bestehen (BFH Urteil vom 27.6.2018 - X K 3-6/17 - juris RdNr 101 mwN) .
Nichts anderes kann für vom Ausgangsgericht nach Erledigung der verbundenen Klageverfahren noch nicht entschiedene und deshalb von einem Kläger fortgeführte PKH-Verfahren gelten (aA Kellner, NZS 2023, 800 ) . Denn diese Verfahren teilen als Annex zur Hauptsache entschädigungsrechtlich das Schicksal der zugrunde liegenden Klageverfahren. Deren zwischenzeitliche Erledigung ändert daran nichts. Ebenso wie bei einer Entscheidung über verbundene Klageansprüche als solche hat das Ausgangsgericht im nachlaufenden PKH-Verfahren die Erfolgsaussichten jedes der inzwischen erledigten Klageverfahren gesondert zu prüfen. Das folgt aus der trotz Verbindung fortbestehenden prozessrechtlichen Selbstständigkeit der verbundenen Verfahren ( BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 41 mwN) und ihrer als Annex zugehörigen PKH-Verfahren. Entschädigungsrechtlich erfolgt aber die Prüfung der Erfolgsaussichten auch nach Erledigung der verbundenen Klageverfahren weiterhin in einem einheitlichen Gerichtsverfahren iS des § 198 GVG . Folgerichtig hat das Ausgangsgericht über alle PKH-Anträge unter dem (führenden) Aktenzeichen der verbundenen Hauptsachen ( S 185 AS 16310/16 ) entschieden. Deshalb bleibt es für solche nach Erledigung der verbundenen Klageverfahren fortgeführten PKH-Verfahren für jeden Kläger bei einem einzigen Entschädigungsanspruch. Auch in dieser Hinsicht gilt dasselbe wie für den Anspruch auf Entschädigung wegen der unangemessenen Dauer des Hauptsacheverfahrens.
E. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 1 und 2, § 155 Abs 1 Satz 1, § 159 Satz 1 VwGO und § 100 Abs 1 ZPO . Sie ist für jede Instanz gesondert zu treffen. Auch eine nach Rechtszügen differenzierte Kostenentscheidung genügt dem Erfordernis einer einheitlichen Kostenentscheidung ( BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R - BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 134 Nr 22, RdNr 54 mwN) . Entsprechend dem Verhältnis ihres Obsiegens und Unterliegens tragen die Kläger als Streitgenossen ( § 74 SGG iVm § 59 ZPO ) die Kosten im Verfahren vor dem Entschädigungsgericht zu jeweils 3/10 und der Beklagte zu 1/10. Im Revisionsverfahren tragen die Kläger die Kosten zu jeweils 1/4 und der Beklagte zu 1/4 .
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F. Der Streitwert von 24 500 Euro für das Revisionsverfahren entspricht der vom Entschädigungsgericht ausgeurteilten Entschädigungssumme, die der Beklagte mit seiner Revision insgesamt zum Streitgegenstand gemacht hat ( § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 1 Abs 2 Nr 3, § 47 Abs 1 Satz 1, § 52 Abs 1 und 3 Satz 1, § 63 Abs 2 Satz 1 GKG ). |
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Kaltenstein |
Othmer |
Röhl |
Fundstellen