Leitsatz (amtlich)
Sieht der Träger der Sozialhilfe nach BSHG § 91 Abs 3 S 1 Halbs 2 (Fassung: 1974-03-25) davon ab, den unterhaltspflichtigen Versicherten wegen der Unterbringungskosten eines geisteskranken Angehörigen in Anspruch zu nehmen, dann ist der Träger der gesetzlichen KV auch nicht nach dem Halbierungserlaß zur Kostentragung verpflichtet.
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Halbierungserlaß vom 1942-09-05 (AN 1942, 490) ist geltendes Recht.
2. Liegen die Voraussetzungen der Unterbringung eines Geisteskranken als Eingliederungshilfe für Behinderte (BSHG §§ 39 ff) oder als Hilfe zur Pflege (BSHG §§ 68, 69) vor, so daß weder Krankenhilfe nach BSHG § 37 noch nach RVO § 182 in Betracht kommt, bleibt für ein Eintreten des Trägers der gesetzlichen KV von vornherein kein Raum; in diesen Fällen ist auch der Halbierungserlaß nicht anzuwenden.
Normenkette
RVO § 1531 Fassung: 1945-03-29, § 205 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1970-12-21; RAM/RMdIErl 1942-09-05; BSHG § 91 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1974-03-25, § 39 Fassung: 1974-03-25, § 37 Abs. 2 Fassung: 1974-03-25, § 68 Fassung: 1969-09-18, § 69 Fassung: 1974-03-25; RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1969-07-27, § 184 Abs. 1 Fassung: 1970-12-21
Verfahrensgang
SG Münster (Entscheidung vom 09.11.1976; Aktenzeichen S 14 Kr 117/75) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 9. November 1976 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der klagende Sozialhilfeträger verlangt von der beklagten Ersatzkasse die Hälfte der Kosten, die er für die stationäre Unterbringung des geisteskranken Sohnes des beigeladenen freiwillig Versicherten aufwendet.
Der 1950 geborene Sohn des Beigeladenen leidet infolge einer Schädigung bei dem Geburtsvorgang an einem hirnorganischen Leiden, das sich ständig verschlechtert hat. Die Schule besuchte er bis zur 6. Klasse, eine Lehre konnte er nicht absolvieren, 1967 sind Krampfanfälle aufgetreten, die zu stationären Behandlungen führten. 1969 wurde er in der Anstalt B. aufgenommen, wo ein rasch fortschreitender geistiger Verfall festgestellt wurde. Er wurde wegen regelmäßiger Anfälle antiepileptisch behandelt. Die Anfälle gingen zurück, die Medikamente wurden reduziert, der Untergebrachte ist aber wegen der Verschlechterung seines Leidens nicht in der Lage, ein Leben außerhalb der Anstalt zu führen. Er bedarf ständiger Wartung und Pflege.
Der Beigeladene zahlte monatlich einen Betrag von 100,-- DM zu den Unterbringungskosten seines Sohnes. Mit Wirkung vom 1. April 1974 stellte der Kläger jedoch den Beigeladenen frei (vgl § 91 Abs 3 Satz 1 Halbs 2 des Bundessozialhilfegesetzes -BSHG- idF des 3. Änderungsgesetzes vom 25. März 1974 - BGBl I 777 -). Im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Freistellung des Beigeladenen stellte der Kläger fest, daß dieser bei der beklagten Kasse versichert ist. Für die Zeit vom 1. Januar 1974 an machte er einen Ersatzanspruch nach § 1531 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bis zur Höhe des Familienhilfeanspruchs des Beigeladenen geltend.
Im Klageverfahren verlangt er nur noch die Hälfte seiner Aufwendungen und bezieht sich auf den Gemeinsamen Erlaß des Reichsarbeitsministers und des Reichsministers des Innern vom 5. September 1942 - Halbierungserlaß - (AN 1942, 490).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen: Der Sohn des Beigeladenen sei in einem Haus der B. Anstalten - Haus E... - untergebracht, das im wesentlichen mit Pflegefällen belegt sei. Auch der vorliegende Fall sei ein Pflegefall, denn die Unterbringung diene seit mehreren Jahren nur noch der pflegerischen Betreuung und Wartung. Der Halbierungserlaß sei nicht mehr geltendes Recht, weil die Ermächtigungsgrundlage (Führererlaß vom 28. August 1939 - RGBl I 1535 -) weggefallen sei. Abgesehen davon könne der Halbierungserlaß nur so lange gegolten haben, wie die Vorschriften in Kraft gewesen seien, auf die er sich beziehe. Durch die Neufassung des § 182 RVO im Jahre 1961 (Art 2 Nr 3a und 3b des Gesetzes vom 12. Juli 1961 - BGBl I 913 -) müsse der Halbierungserlaß als aufgehoben gelten. Pflegefälle seien entgegen diesem Erlaß nicht in den Zuständigkeitsbereich der Krankenversicherung einbezogen worden. Das Außerkrafttreten des Halbierungserlasses sei auch sachlich durch die Verlängerung der Krankenpflege und insbesondere die unbeschränkte Gewährung von Krankenhauspflege seit 1974 (§ 1 Nr 1 des Leistungsverbesserungsgesetzes vom 19. Dezember 1973 - BGBl I 1925 -) gerechtfertigt.
Das SG hat die Sprungrevision zugelassen. Der Kläger hat diese Revision mit Zustimmung des Beklagten eingelegt. Er trägt vor: Der Halbierungserlaß sei nach wie vor geltendes Recht. Die mit diesem Erlaß bezweckte Verwaltungsvereinfachung sei auch unter Geltung der neueren Fassungen der §§ 182, 184 RVO zu erreichen. Die Beklagte könne sich angesichts dieses Erlasses nicht darauf berufen, daß es sich um einen klaren Pflegefall handele. Denn die Klärung der Frage Behandlungsfall oder Pflegefall solle durch den Halbierungserlaß gerade erübrigt werden.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Hälfte der Kosten der stationären Unterbringung des Sohnes des bei ihr versicherten Beigeladenen für die Zeit ab 1. Januar 1974 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, die Anstalt, in der der Sohn des Beigeladenen untergebracht sei, erfülle lediglich die Funktion eines Pflegeheimes. Für diese Fälle sei der Halbierungserlaß nicht gedacht.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Nach § 1531 Satz 1 RVO iVm §§ 1532, 1543a Abs 1 RVO hat der Sozialhilfeträger einen Ersatzanspruch gegen den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn die Sozialhilfe wegen einer Krankheit gewährt worden ist, deretwegen der Sozialhilfeempfänger einen entsprechenden krankenversicherungsrechtlichen Anspruch hat. Ein Ersatzanspruch besteht nach § 1531 Satz 2 RVO auch dann, wenn die Sozialhilfe einem Angehörigen des Versicherten gewährt worden ist, dem der krankenversicherungsrechtliche Anspruch mit Rücksicht auf diesen Angehörigen zusteht.
Dem versicherten Beigeladenen steht wegen der Krankheit, die der Grund für die Unterbringung seines Sohnes ist, kein Anspruch auf Familienkrankenhilfe - hier Krankenhauspflege nach § 10 iVm § 24 der Versicherungsbedingungen, die §§ 184, 205 RVO entsprechen - zu. Denn der Aufenthalt des Sohnes des Versicherten in der Einrichtung “Sonderkrankenhaus E...„ ist nach den Feststellungen des SG nicht wegen des Erfordernisses stationärer ärztlicher Behandlung geboten. Sein Aufenthalt ist ausschließlich deshalb erforderlich, weil er ständig pflegerisch betreut werden muß. Voraussetzung für den Anspruch auf Krankenhauspflege, für die die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zuständig sind, ist aber, daß es sich nicht um einen “Verwahrungsfall„, sondern um einen “Behandlungsfall„ handelt.
Dem Kläger steht auch nicht nach dem Halbierungserlaß ein Ersatzanspruch zu. Im Fall der Anwendbarkeit dieses Erlasses könnte unabhängig von dem Grund der Unterbringung die Hälfte der Unterbringungskosten von der Beklagten verlangt werden. Der Erlaß ist aber nicht anwendbar.
Entgegen der Meinung des SG ist der Erlaß allerdings weder durch den Wegfall der Ermächtigungsgrundlage noch durch die spätere Rechtsentwicklung außer Kraft getreten. Das hat der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden (vgl BSGE 9, 112; 16, 84, 87, 88; SozR Nr 28 zu § 184 RVO). Es besteht kein Grund, hiervon abzuweichen. Auch seit der letzten Entscheidung des Senats vom 26. Mai 1970 (SozR Nr 28 zu § 184 RVO) sind keine Ereignisse eingetreten, die die Anwendbarkeit des Erlasses grundsätzlich ausschließen. Insbesondere rechtfertigen nicht die sozialpolitischen Bedenken gegen diese Rechtsvorschrift (vgl Bericht über die Lage der Psychiatrie in BT-Drucks 7/4200 S. 159, 205, 356), sie als überholt zu behandeln. Das Vorhaben des Gesetzgebers, den Erlaß im Rahmen des Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetzes (vgl Art 2 § 14 Nr 5 des Entwurfs in BT-Drucks 7/3336 S. 15) aufzuheben ist auf einen späteren Zeitpunkt hinausgeschoben worden (vgl Protokoll der 50. Sitzung des Bundestages vom 20. Oktober 1977, Nachtrag S. 3873).
Der vorliegende Fall gehört aber nicht zum Anwendungsbereich des Halbierungserlasses.
Der Halbierungserlaß erfaßt die Fälle, in denen allein wegen der Frage der Kostenträgerschaft geprüft werden müßte, ob im Fall der Unterbringung eines Geisteskranken ein Behandlungsfall oder ein Verwahrungsfall vorliegt. Aufgrund der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts zum Recht der Ersatzansprüche nach § 1531 RVO müßte in der Praxis - nach der Formulierung des Erlasses - “in jedem einzelnen Fall geprüft werden, ob die Unterbringung eines Geisteskranken in seinem eigenen Interesse erfolgte oder vorwiegend aus sicherheitspolitischen Gründen veranlaßt worden ist„. Die Kostenteilung zwischen Sozialhilfeträger und Träger der Krankenversicherung wurde angeordnet, “um die mit dieser Prüfung verbundenen Schwierigkeiten zu vermeiden und die Verwaltungsarbeit der betreffenden Stellen zu vereinfachen„. Die Halbierung ist “ungeachtet der Gründe, auf denen die Unterbringung beruht„ durchzuführen, so daß der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung auch dann zahlen muß, wenn tatsächlich feststeht, daß der versicherte Geisteskranke aus Gründen der öffentlichen Sicherheit untergebracht ist. Umgekehrt trägt der Sozialhilfeträger die Hälfte der Kosten auch dann, wenn tatsächlich feststeht, daß ein Behandlungsfall vorliegt. Lediglich dann, wenn festgestellt werden kann, daß die Krankenkasse wegen der Notwendigkeit, den Versicherten im Krankenhaus zu behandeln, von Anfang an hätte tätig werden müssen, so daß die Voraussetzungen des Halbierungserlasses nicht eingetreten wären, hielt der Senat die volle Kostentragungspflicht der zuständigen Kasse, für begründet (BSGE 16, 84, 88, 89; SozR Nr 28 zu § 184 RVO).
Der Halbierungserlaß normiert im Interesse einer vereinfachten Abwicklung von Unterbringungsfällen, die typischerweise in tatsächlicher Hinsicht zweifelhaft sind, die Abweichung von der grundsätzlichen Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Krankenversicherung und Sozialhilfe. Der Halbierungserlaß bezieht sich aber schon nach dem oben erwähnten Wortlaut nicht auf klar abgrenzbare Fallgruppen, in denen die Feststellung der für die Zuständigkeitsfrage wesentlichen Tatsachen schon aus anderen Gründen zu erfolgen hat, so daß von einer Verwaltungsvereinfachung nicht die Rede sein kann.
Der vorliegende Fall ist einer solchen Fallgruppe zuzuordnen. Das 3. Gesetz zur Änderung des BSHG vom 25. März 1974 (BGBl I 777) hat die Rückgriffsmöglichkeiten der Sozialhilfeträger gegen Personen, die dem Sozialhilfeempfänger unterhaltspflichtig sind, wesentlich eingeschränkt. Nach § 91 Abs 3 Satz 1 Halbs 1 BSHG idF dieses Gesetzes soll (bisher: “kann„) von der Inanspruchnahme von Personen, die nach bürgerlichem Recht unterhaltspflichtig sind, abgesehen werden, soweit diese Inanspruchnahme eine Härte bedeuten würde. Diese für alle Unterhaltspflichtigen und alle Hilfefälle geltende Regel ergänzt das Gesetz durch eine spezielle Soll-Vorschrift (Halbsatz 2): Der Träger der Sozialhilfe “soll vor allem von der Inanspruchnahme unterhaltspflichtiger Eltern absehen, soweit einem Behinderten, einem von der Behinderung Bedrohten oder einem Pflegebedürftigen nach Vollendung des 21. Lebensjahres Eingliederungshilfe für Behinderte oder Hilfe zur Pflege gewährt wird„. Danach ist der Träger der Sozialhilfe gehalten, in allen Fällen der Unterbringung von über 21 Jahren alten Geisteskranken, für deren Unterhalt Eltern in Betracht kommen, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung der speziellen Soll-Vorschrift vorliegen. Diese Voraussetzungen liegen dann vor, wenn die Unterbringung entweder als Eingliederungshilfe für Behinderte (§§ 39ff BSGH) oder als Hilfe zur Pflege (§ 68 f BSHG) durchgeführt wird. Die Feststellung, daß die Unterbringung im Sinne dieser Vorschrift zu beurteilen ist, setzt die Erkenntnis voraus, daß keine Krankenhilfe (§ 37 BSHG) vorliegt, daß insbesondere bei der Unterbringung nicht Maßnahmen durchgeführt werden, die diese Unterbringung zur Krankenhausbehandlung im Sinne des § 37 Abs 2 BSHG stempeln.
Der Kläger hat gemäß dieser Regelung geprüft, ob die Voraussetzungen für die spezielle Soll-Vorschrift vorliegen. Er hat sie als gegeben erachtet und dem Beigeladenen gegenüber erklärt, daß er in Anwendung des § 91 Abs 3 Satz 1 Halbs 2 BSHG auf seine Inanspruchnahme verzichte. Da der Halbierungserlaß eine Lösung für die Fälle bietet, in denen die Frage Behandlungsfall oder Verwahrungsfall typischerweise offen ist, erfaßt er nicht die Fälle, in denen der Sozialhilfeträger selbst in Anwendung des Gesetzes geklärt hat, daß kein Behandlungsfall - Krankenhausbehandlung - vorliegt.
Der nach § 91 Abs 3 Satz 1 Halbs 2 BSHG gebotene Verzicht des Klägers auf die Inanspruchnahme des Beigeladenen steht auch aus einem weiteren Grund dem Ersatzanspruch nach §§ 1531 ff RVO iVm dem Halbierungserlaß entgegen: Durch § 91 Abs 3 Satz 1 Halbs 2 BSHG ist anerkannt worden, daß die Verantwortung für langfristig Hilfsbedürftige, insbesondere unheilbare Kranke, jedenfalls von einem bestimmten Alter an regelmäßig nicht mehr wie bisher den unterhaltspflichtigen Familienangehörigen überlassen werden kann.
Die Sorge für diesen Personenkreis wird in Anwendung dieser Vorschrift von der Allgemeinheit übernommen, und die Familie wird entlastet. Da auch die Familienkrankenhilfe, wie sie in der gesetzlichen Krankenversicherung konstruiert ist, vorwiegend der Entlastung der unterhaltspflichtigen Familienangehörigen - soweit sie versichert sind - dient (vgl dazu das Urteil des Senats vom 16. Juli 1977 - 3 RK 80/75 in SozR 2200 § 205 Nr 13), muß die Übernahme der Unterbringungskosten auf die Allgemeinheit auch zugunsten der Versichertengemeinschaft wirken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen