Entscheidungsstichwort (Thema)
Strafgefangener. Teilnahme an mündlicher Verhandlung. Verletzung des rechtlichen Gehörs
Orientierungssatz
1. Der Grundsatz der mündlichen Verhandlung verfolgt den Zweck, in Gedankenaustausch und Gespräch zwischen Gericht und den Beteiligten den Streitstoff über den Wechsel von Schriftsätzen hinaus erschöpfend zu erörtern. Gleichzeitig ist die mündliche Verhandlung ein wesentliches Mittel, dem grundgesetzlichen Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen. Die Beteiligten haben deshalb durchweg ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Soweit in den §§ 124 f SGG Ausnahmen von dem Grundsatz der notwendigen Verhandlung vor Erlaß des Urteils zugelassen werden, sind sie auf das Einverständnis der Beteiligten abgestellt, das allerdings auch stillschweigend - zB durch Nichterscheinen - erklärt werden kann (vgl BSG 1962-04-27 7 RAr 25/60 = BSGE 17, 44, 46).
2. Dieses Recht auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung hat auch ein der Strafvollstreckung unterliegender Prozeßbeteiligter. Der in Art 103 GG verfassungsrechtlich verankerte Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch den Strafvollzug nicht ausgeschlossen (vgl BSG 1960-02-23 9 RV 576/55 = BSGE 12, 9, 12).
Normenkette
SGG § 124 Abs 1 Fassung: 1953-09-03; GG Art 103 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; StVollzG § 36
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 27.01.1982; Aktenzeichen L 2 J 1831/81 - 3) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 25.08.1981; Aktenzeichen S 9 J 2081/80) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.
Der Kläger wurde durch Urteil des Landgerichts S. vom 24. September 1976 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Durch Beschluß des Landgerichts S. vom gleichen Tage und durch Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts H. vom 25. März 1981 wurde die Fortdauer der Unterbringung des Klägers in einem Psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
Seinen Antrag auf Gewährung von Versichertenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 21. August 1980 ab. Die hiergegen erhobene Klage blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts -SG- Mannheim vom 25. August 1981). Auf seine Berufung gegen dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt und den Direktor des Psychiatrischen Landeskrankenhauses W. gebeten, dem Kläger Gelegenheit zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu geben. Der Kläger hat dem LSG mitgeteilt, daß er an der mündlichen Verhandlung teilnehmen und die ihm entstehenden Kosten selbst tragen wolle. Hierauf teilte die Vollstreckungsbehörde dem LSG mit, für eine Vollstreckungsunterbrechung im Gnadenwege sei die Staatsanwaltschaft H. zuständig; der Antrag des Klägers auf Ausführung zum Termin sei abgelehnt worden, eine Vorführung zum Termin nicht beabsichtigt. Der Kläger nahm an der mündlichen Verhandlung nicht teil. Seine Berufung wurde aufgrund der mündlichen Verhandlung durch Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 27. Januar 1982 zurückgewiesen mit der Begründung, der Kläger sei weder berufs- noch erwerbsunfähig, weil er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, auf den er zu verweisen sei, eine Beschäftigung unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen ausüben könne.
Mit seiner - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger als wesentlichen Verfahrensmangel, daß er keine Gelegenheit erhalten habe, an der mündlichen Verhandlung vor dem LSG teilzunehmen. Die Voraussetzungen für die Gewährung der begehrten Versichertenrente lägen bei ihm vor.
Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu verurteilen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie verneint das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreites an das LSG. Das Verfahren vor dem LSG leidet an einem wesentlichen Mangel insofern, als das angefochtene Urteil aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, an der der Kläger nicht teilgenommen hat. Das LSG hätte wegen des Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung kein Urteil erlassen dürfen; es hätte vielmehr den Rechtsstreit vertagen müssen.
Nach § 124 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergehen Urteile aufgrund einer mündlichen Verhandlung. Dieser Grundsatz verfolgt den Zweck, in Gedankenaustausch und Gespräch zwischen Gericht und den Beteiligten den Streitstoff über den Wechsel von Schriftsätzen hinaus erschöpfend zu erörtern. Gleichzeitig ist die mündliche Verhandlung ein wesentliches Mittel, dem grundgesetzlichen Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen. Die Beteiligten haben deshalb durchweg ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Soweit in den §§ 124 f SGG Ausnahmen von dem Grundsatz der notwendigen Verhandlung vor Erlaß des Urteils zugelassen werden, sind sie auf das Einverständnis der Beteiligten abgestellt, das allerdings auch stillschweigend - zB durch Nichterscheinen - erklärt werden kann (so BSG Urteil vom 27. April 1962 - 7 RAr 25/60 = BSGE 17, 44, 46).
Dieses Recht auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung hat auch ein der Strafvollstreckung unterliegender Prozeßbeteiligter. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist in Art 103 Grundgesetz (GG) verfassungsrechtlich verankert; er wird durch den Strafvollzug nicht ausgeschlossen (BSG-Urteil vom 23. Februar 1960 - 9 RV 576/55 = BSGE 12, 9, 12). Dem trägt das Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 (BGBl I 581), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 1981 (BGBl I 1523) Rechnung.
Nach § 36 des Strafvollzugsgesetzes kann der Anstaltsleiter einem Gefangenen zur Teilnahme an einem gerichtlichen Termin Ausgang oder Urlaub erteilen, wenn anzunehmen ist, daß er der Ladung folgt und keine Entweichungs- oder Mißbrauchsgefahr besteht. Macht der Anstaltsleiter von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, so läßt er den Gefangenen zu dem Termin ausführen, sofern wegen einer Entweichungs- oder Mißbrauchsgefahr keine überwiegenden Gründe entgegenstehen. Nach den hierzu ergangenen Verwaltungsvorschriften ist es Sache des Gefangenen, die Teilnahme an einem gerichtlichen Termin zu beantragen. Hierauf entscheidet der Anstaltsleiter, ob er dem Gefangenen Ausgang oder Urlaub erteilt oder ihn ausführen läßt. In diesen Fällen erfolgt die Teilnahme auf Kosten des Gefangenen.
Hiernach kann sich ein Gericht bei Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung zunächst darauf beschränken, einen Gefangenen nach § 110 SGG zum Termin zu laden und es dabei dem Gefangenen überlassen, durch entsprechende Anträge bei der Strafvollzugsbehörde für seine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung Sorge zu tragen. Erscheint der Gefangene nicht zum Termin zur mündlichen Verhandlung, so wird er - sofern das persönliche Erscheinen nicht angeordnet ist - wie jeder andere Prozeßbeteiligte behandelt, dem das Erscheinen zur mündlichen Verhandlung freigestellt worden ist. In diesem Fall kann das Gericht die mündliche Verhandlung auch ohne den ordnungsgemäß geladenen, aber nicht erschienenen Prozeßbeteiligten durchführen oder nach § 126 SGG nach Aktenlage entscheiden.
Im vorliegenden Fall hat jedoch der Kläger durch einen Antrag zu erkennen gegeben, daß er sein Recht auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung wahrnehmen wollte. Kann die Teilnahme eines Prozeßbeteiligten an der mündlichen Verhandlung, der seinerseits alles ihm Zumutbare unternommen hat, um teilzunehmen, nur durch die - rechtlich zulässige - Mitwirkung des Prozeßgerichts erreicht werden, so ist dieses verpflichtet, ihm die Teilnahme zu ermöglichen. Kommt das Gericht der Verpflichtung nicht nach, so leidet sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel. Im vorliegenden Fall konnte das LSG nicht davon ausgehen, daß die Strafvollzugsbehörde im Rahmen des Strafvollzugsgesetzes dem Kläger die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung ermöglicht. Es hat auch nicht - wie es hier geboten gewesen wäre - bei der Strafvollzugsbehörde darauf hingewirkt, daß diese von den Möglichkeiten des Strafvollzugsgesetzes Gebrauch macht, sondern es hat sich mit der Entgegennahme der Erklärung begnügt, daß eine Vollstreckungsunterbrechung im Gnadenwege nicht in Betracht komme.
Zwar kann nach § 36 Abs 2 des Strafvollzugsgesetzes die Strafvollstreckungsbehörde die Ausführung eines Gefangenen zu einem Gerichtstermin ablehnen, wenn wegen Entweichungs- oder Mißbrauchsgefahr überwiegende Gründe entgegenstehen. Derartige Gründe können nach § 11 Abs 2 des Strafvollzugsgesetzes in der Befürchtung liegen, daß der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzugs zu Straftaten mißbrauchen werde. Umstände dieser Art sind dem LSG aber weder mitgeteilt worden noch sonst erkennbar.
Unter diesen Umständen stellt sich das Ausbleiben des Klägers in der mündlichen Verhandlung, aufgrund deren das angefochtene Urteil erlassen wurde, objektiv als Verletzung des rechtlichen Gehörs dar (vgl BSGE 12, 9, 12). Es ist nicht auszuschließen, daß das Gericht bei Teilnahme des Klägers an der Verhandlung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Aus diesem Grund war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, damit der Kläger in einer neuen mündlichen Verhandlung Gelegenheit erhält, durch seine Teilnahme seinen Klageanspruch zu vertreten.
Zur Anordnung des persönlichen Erscheinens des Klägers ist das LSG nicht verpflichtet, es braucht deshalb den Kläger auch nicht zum Termin vorführen zu lassen. Sollte eine Ausführung des Klägers nach § 11 Abs 2 des Strafvollzugsgesetzes ausgeschlossen sein, so wird das LSG zu erwägen haben, ob es nach § 110 Abs 2 SGG den Termin zur mündlichen Verhandlung am Ort des Strafvollzuges anberaumt.
Über die Kosten des Verfahrens wird das LSG zu entscheiden haben.
Fundstellen