Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Erstattung vorläufig erbrachter Leistungen nach abschließender Entscheidung. Einkommens- bzw Vermögensberücksichtigung. Beschränkung der Minderjährigenhaftung. Ermittlung des Bestands des Vermögens bei Eintritt der Volljährigkeit. Stichtagsregelung. Saldierung. Guthaben auf Girokonto durch Insolvenzgeldzahlung. Pfändungsschutz. Erkenntnisverfahren. Vollstreckungsverfahren. zeitlicher Anwendungsbereich von § 40 Abs 9 SGB 2 idF vom 16.12.2022
Orientierungssatz
1. § 1629a BGB ist auch bei auf Erstattungsforderungen nach dem SGB 2 beruhenden Schulden grundsätzlich anwendbar.
2. Maßgeblich für die Frage der Beschränkung der Haftung auf das zu diesem Zeitpunkt vorhandene Vermögen ist nicht eine im SGB 2 vorgenommene Bestimmung von Einkommen und Vermögen. Vielmehr bedient sich der Gesetzgeber in § 1629a BGB einer Stichtagsregelung, um "Altvermögen" und "Neuvermögen" voneinander abzugrenzen. Der Stichtag ist mit dem Eintritt der Volljährigkeit (§ 2 BGB) verbunden. Entscheidend ist grundsätzlich allein eine Saldierung von Schuld und Vermögen zum Zeitpunkt dieses Stichtags, also der Vollendung des 18. Lebensjahres.
3. Vermögen im Rahmen des § 1629a BGB ist das Aktivvermögen der volljährig gewordenen Person bei Eintritt der Volljährigkeit. Auf ein Nettovermögen als Differenz von Aktiva und Passiva kommt es nicht an.
4. Ein Pfändungsschutz nach § 811 ZPO greift für das Kontoguthaben des Klägers nicht. Denn bei § 811 ZPO geht es nur um die Unpfändbarkeit von Sachen, also verkörperten Gegenständen (§ 90 BGB) und nicht um Forderungen gegen Drittschuldner.
5. Der Stand des Vermögens iS des § 1629a Abs 1 S 1 BGB ist nicht unter Berücksichtigung aller Pfändungsschutzvorschriften bereits im Erkenntnisverfahren zu ermitteln. Es ist daher unerheblich, ob sich das Kontoguthaben des Klägers aus Zuflüssen speiste, die nicht pfändbar wären.
6. § 40 Abs 9 SGB 2 idF vom 16.12.2022 betrifft Fälle, in denen minderjährige Leistungsberechtigte nach dem 31.12.2022 volljährig geworden sind.
Normenkette
SGB 2 § 40 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 2011-05-13, Abs. 9 Fassung: 2022-12-16; SGB III § 328 Abs. 3 Sätze 1, 2 Hs. 1; SGB 2 §§ 11-12; BGB § 1629a Abs. 1 Sätze 1-2, §§ 2, 90; ZPO §§ 811, 829, § 829 ff., § 850k; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 24. August 2021 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Umstritten ist, ob der volljährig gewordene Kläger einer Erstattungsforderung des beklagten Jobcenters nicht mehr ausgesetzt ist.
Der am 30.12.1998 geborene Kläger bezog gemeinsam mit seinem Vater Alg II, das der Vater für beide beantragt hatte. Er erhielt außerdem Ausbildungsvergütung ua im November 2016 und dann wieder im Januar 2017 für Dezember 2016. Die Bundesagentur für Arbeit bewilligte ihm Insolvenzgeld, nachdem über das Vermögen des Ausbildungsbetriebs ein Insolvenzverfahren eröffnet worden war. Die Auszahlung für Januar 2017 iHv 451,87 Euro erfolgte am 15.12.2016 auf das Girokonto des Klägers, bei dem es sich nicht um ein Pfändungsschutzkonto handelte. Das Guthaben am 30.12.2016 betrug noch 48,78 Euro.
Der Beklagte setzte das Alg II für November 2015 abschließend fest und forderte die Erstattung von 22,57 Euro (Bescheide vom 23.3.2016). Nach Vollendung des 18. Lebensjahrs berief sich der Kläger im Widerspruchsverfahren gegen den Erstattungsbescheid auf § 1629a BGB. Er verfüge über kein Vermögen. Der Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 10.11.2017).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28.11.2019). § 1629a BGB greife nicht. Das Vermögen des Klägers habe die Forderung des Beklagten überschritten. Die Pfändungsfreibeträge für Einkommen seien nicht zu berücksichtigen. Entgegen der Ansicht des Klägers lägen die Voraussetzungen des § 811 Abs 1 Nr 2 und Nr 8 ZPO (unpfändbare Sachen) nicht vor. Das LSG hat die Berufung zugelassen, diese zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 24.8.2021). Soweit sich der Kläger auf Pfändungsschutz berufe, könne der genaue Wert der persönlichen Gegenstände des Klägers offenbleiben. Schon das Kontoguthaben reiche aus, um die Forderung aus dem Bescheid vom 23.3.2016 zu begleichen. Der Berücksichtigung des Guthabens auf dem Girokonto stehe auch sonst nichts entgegen. § 1629a BGB stelle ausdrücklich auf den Bestand des Vermögens bei Eintritt der Volljährigkeit ab. Es spiele keine Rolle, woher das Vermögen stamme. Nicht zu beanstanden sei, wenn Einkommen des Klägers, das er kurz vor Eintritt in die Volljährigkeit erhalten habe, bei der Ermittlung des Vermögens berücksichtigt werde. Der Kläger gehe nicht mit Schulden in die Volljährigkeit, worauf es bei der Beschränkung der Haftung nach § 1629a BGB ankomme.
Der Kläger rügt die Verletzung von § 1629a BGB. In der Vorschrift gehe es um Vermögen und nicht um Einkommen. Im SGB II werde streng zwischen Einkommen und Vermögen getrennt. Zur Verfahrensvereinfachung gelte dies auch bei Erstattungsforderungen und der Einrede nach § 1629a BGB. Sein Resteinkommen aus Dezember 2016 sei deswegen kein Vermögen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Thüringer Landessozialgerichts vom 24. August 2021 und des Sozialgerichts Altenburg vom 28. November 2019 sowie den Erstattungsbescheid des Beklagten vom 23. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2017 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Erstattungsforderung des Beklagten auch unter Beachtung der Grundsätze der Beschränkung der Minderjährigenhaftung rechtmäßig geblieben ist und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Urteilen der Bescheid des Beklagten vom 23.3.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.11.2017. Hierin hat der Beklagte eine Erstattungsforderung von 22,57 Euro für November 2015 festgesetzt. In der Sache geht es darum, ob bezüglich der Erstattungsforderung die Beschränkung der Haftung gemäß § 1629a BGB zu Gunsten des volljährig gewordenen Klägers greift.
2. Der Sachentscheidung entgegenstehende prozessuale Hindernisse bestehen nicht. Hinsichtlich der vom Kläger allein begehrten Beseitigung des Erstattungsverwaltungsakts ist die reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 SGG) statthafte Klageart. Die Berufung des Klägers war im Hinblick auf den Wert des Beschwerdegegenstands statthaft, weil sie vom LSG zugelassen worden ist (§ 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1, § 145 Abs 5 SGG).
3. Rechtsgrundlage des Erstattungsverwaltungsakts ist § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II (idF der Neubekanntmachung vom 13.5.2011, BGBl I 850) iVm § 328 Abs 3 Satz 2 Halbsatz 1 SGB III (idF des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011, BGBl I 2854; zum anwendbaren Recht BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 5 RdNr 10). Nach § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II ist die Vorschrift des § 328 SGB III betreffend die vorläufige Entscheidung entsprechend anwendbar. Gemäß § 328 Abs 3 Satz 1, Satz 2 Halbsatz 1 SGB III sind auf Grund einer vorläufigen Entscheidung erbrachte Leistungen auf die zustehende Leistung anzurechnen. Soweit mit der abschließenden Entscheidung ein Leistungsanspruch nicht oder nur in geringerer Höhe zuerkannt wird, sind auf Grund der vorläufigen Entscheidung erbrachte Leistungen zu erstatten.
4. Der Beklagte hat sein Erstattungsbegehren mit formell rechtmäßigem Verwaltungsakt verfügt (dazu 5.). Der Erstattungsbescheid ist materiell rechtmäßig. Insbesondere kann der Beklagte die Erstattung trotz der vom Kläger nach Erreichen der Volljährigkeit während des Widerspruchsverfahrens erhobenen Einrede der Beschränkung der Minderjährigenhaftung verlangen (dazu 6.). Die durch den Gesetzgeber für das SGB II ab dem 1.1.2023 gewollte weitergehende betragsmäßige Beschränkung der Haftung für volljährig gewordene Personen greift für den Kläger nicht (dazu 7.).
5. Der formellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung steht nicht entgegen, dass der Kläger zu den tatbestandlichen Voraussetzungen eines Erstattungsbescheids bei abschließender Entscheidung vor dessen Erlass am 23.3.2016 nicht gemäß § 24 Abs 1 SGB X angehört worden wäre. Diese Anhörung ist jedenfalls im Widerspruchsverfahren nachgeholt und damit ein etwaiger Anhörungsfehler geheilt worden (§ 41 Abs 1 Nr 3 SGB X).
6. Der Erstattungsbescheid beruht auf der wirksamen abschließenden Entscheidung vom 23.3.2016, die bindend geworden ist, weil sich der Widerspruch des Klägers hierauf nicht bezog. Für die Rechtmäßigkeit des Erstattungsbescheids kommt es darauf an, dass der Rechtsgrund für die Leistung nach dem Anrechnungsmechanismus des § 328 Abs 3 Satz 1 SGB III weggefallen ist. Entscheidend ist die Wirksamkeit, nicht die Rechtmäßigkeit des den Leistungsanspruch abschließend regelnden Bescheids (BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 5 RdNr 13).
Auch die Höhe des Vermögens des Klägers bei Eintritt der Volljährigkeit steht der Durchsetzbarkeit des Erstattungsbegehrens des Beklagten nicht entgegen. Der Erstattungsbescheid vom 23.3.2016 ist materiell rechtmäßig geblieben. Zwar ist § 1629a BGB auch bei auf Erstattungsforderungen nach dem SGB II beruhenden Schulden grundsätzlich anwendbar (dazu a). Die Haftungsbeschränkung greift aber wegen der fehlenden Überschuldung des Klägers im Zeitpunkt der Volljährigkeit nicht (dazu b). Denn bei der Berücksichtigung des Vermögens zum Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit durfte der Beklagte auch das Bankguthaben des Klägers einbeziehen (dazu c).
a) Der Anwendungsbereich des § 1629a BGB ist eröffnet. Nach dieser Vorschrift beschränkt sich die Haftung für Verbindlichkeiten, die die Eltern im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht durch Rechtsgeschäft oder eine sonstige Handlung mit Wirkung für das Kind begründet haben, auf den Bestand des bei Eintritt in die Volljährigkeit vorhandenen Vermögens der volljährig gewordenen Person (§ 1629a Abs 1 Satz 1 BGB). Die Regelung soll den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 GG sicherstellen. Es geht um einen Ausgleich dafür, dass der Gesetzgeber - insbesondere - Eltern das Recht einräumt, Minderjährige im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht zu verpflichten. Insoweit muss er aus verfassungsrechtlichen Gründen gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass den volljährig gewordenen Personen Raum bleibt, um ihr weiteres Leben selbst und ohne unzumutbare Belastungen zu gestalten, die sie nicht zu verantworten haben (BVerfG vom 13.5.1986 - 1 BvR 1542/84 - BVerfGE 72, 155, 173, juris RdNr 50; näher auch BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 42 ff; BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 5 RdNr 17 sowie - B 4 AS 43/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 4 RdNr 13 f). Die gesetzgeberische Umsetzung dieser Vorgaben in § 1629a BGB ist auch auf Erstattungsverlangen nach abschließender Festsetzung anwendbar (BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 5 RdNr 20). Die Beschränkung der Minderjährigenhaftung (§ 1629a Abs 1 Satz 2 BGB) berührt bereits die materielle Rechtmäßigkeit des Erstattungsbescheids (BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 5 RdNr 17 sowie - B 4 AS 43/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 4 RdNr 16 f; vgl schon BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 47). Die den Anwendungsbereich einschränkende Regelung des § 1629a Abs 2 Alt 2 BGB ("persönliche Bedürfnisse") findet in Erstattungsfällen nach dem SGB II keine Anwendung (BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 51-52; BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 43/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 4 RdNr 22 f).
Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG hat der Vater des Klägers für diesen als Mitglied seiner Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II beantragt. Auf der nachfolgenden abschließenden Festsetzung der Leistungen der Höhe nach unterhalb des vorläufig bewilligten Alg II beruht die Erstattungsforderung, deren Erfüllung der Beklagte vom Kläger verlangt.
b) Dass sich der Kläger auf die seine Haftung beschränkende Vorschrift des § 1629a BGB berufen hat, führt nicht zur Rechtswidrigkeit des Erstattungsbegehrens des Beklagten. Die Verbindlichkeit des Klägers aus der streitgegenständlichen Forderung überstieg bei Eintritt der Volljährigkeit am 30.12.2016 nicht dessen Vermögen.
Auf der Grundlage der nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und deshalb für den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG lagen die Voraussetzungen für eine Beschränkung der Haftung über § 1629a BGB am 30.12.2016 nicht vor. Die streitgegenständliche Erstattungsforderung beträgt 22,57 Euro. Sie lag damit unter dem Kontoguthaben von 48,78 Euro, über das der Kläger im Zeitpunkt seiner Volljährigkeit verfügte.
aa) Maßgeblich für die Frage der Beschränkung der Haftung auf das zu diesem Zeitpunkt vorhandene Vermögen ist nicht eine im SGB II vorgenommene Bestimmung von Einkommen und Vermögen. Vielmehr bedient sich der Gesetzgeber in § 1629a BGB einer Stichtagsregelung, um "Altvermögen" und "Neuvermögen" voneinander abzugrenzen (vgl Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Beschränkung der Haftung Minderjähriger ≪Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetz - MHbeG≫, BT-Drucks 13/5624 S 11). Der Stichtag ist mit dem Eintritt der Volljährigkeit (§ 2 BGB) verbunden. Entscheidend ist grundsätzlich allein eine Saldierung von Schuld und Vermögen zum Zeitpunkt dieses Stichtags, also der Vollendung des 18. Lebensjahres (BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 5 RdNr 21 sowie - B 4 AS 43/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 4 RdNr 23).
Die Einordnung eines zur Verringerung oder Beseitigung von Hilfebedürftigkeit zur Verfügung stehenden Mittels als Einkommen oder Vermögen im SGB II bestimmt hingegen nicht darüber, ob es sich um Neuvermögen oder Altvermögen iS des § 1629a BGB handelt, wie der Kläger sinngemäß geltend macht. Für das SGB II ist keine bereichsspezifische Abweichung von der gesetzlichen Vorgabe des § 1629a BGB erforderlich, auf Grund derer der Bewertungsstichtag auf das Monatsende hinauszuschieben wäre. Insbesondere steht die Beschränkung der Minderjährigenhaftung nach § 1629a BGB der Sache nach in keinem Zusammenhang mit der Bestimmung der Hilfebedürftigkeit im SGB II. Daher hat eine fortbestehende Hilfebedürftigkeit zB wegen zu berücksichtigenden Vermögens unterhalb der Freibeträge (vgl zum Grundfreibetrag iHv mindestens 3100 Euro § 12 Abs 2 Nr 1 SGB II idF durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006, BGBl I 1706) nach der bis zum 31.12.2022 geltenden Rechtslage keinen Einfluss darauf, dass die volljährig gewordene Person mit ihrem vorhandenen Vermögen gegenüber dem Jobcenter - oder anderen Gläubigern - haftet. Im Übrigen sähe sich die volljährig gewordene Person nach der vom Kläger angeregten "Verschiebung" des Bewertungsstichtags Nachteilen verfahrensrechtlicher oder materiell-rechtlicher Art ausgesetzt. Zum einen obläge ihr ggf die zusätzliche Last der Errichtung eines zweiten Vermögensverzeichnisses (vgl Bittner, FamRZ 2000, 325, 329; Bullmann in juris-PK BGB, § 1629a BGB RdNr 32 Stand 15.11.2022). Zum anderen wäre nach dem Eintritt der Volljährigkeit erworbenes "Neuvermögen" iS des § 1629a BGB - nach Lesart des Klägers - bis zum Monatsende zwar dem Einkommen, dann aber dem Vermögen zuzuordnen und erhöhte ggf das Vermögen als Haftungsgrundlage zu einem Stichtag "Beginn des Folgemonats". Wie bereits das LSG ausgeführt hat, wirkt sich das im SGB II angewandte Zuflussprinzip so wie alle anderen gesetzlichen Stichtagsregelungen aus. Sie können ihrer Natur entsprechend stets Härten bedingen, ohne die dadurch benachteiligten Personen in ihren Grundrechten zu verletzen, wenn sie nicht sachwidrig gewählt wurden (Hinweis ua auf BVerfG vom 20.4.2011 - 1 BvR 1811/08). Vergleichbar gilt dies für den in § 1629a BGB verankerten Bewertungsstichtag der Volljährigkeit.
bb) Vermögen im Rahmen des § 1629a BGB ist das Aktivvermögen der volljährig gewordenen Person bei Eintritt der Volljährigkeit. Auf ein Nettovermögen als Differenz von Aktiva und Passiva kommt es nicht an (Bittner, FamRZ 2000, 325). Der Schutz durch § 1629a BGB beschränkt nicht nur die wertmäßige, sondern die gegenständliche Haftung (Muscheler, WM 1998, 2271, 2284). Auch wenn sie dem Aktivvermögen zuzuordnen sind, hat das BSG daher in der Vergangenheit für die im Besitz der volljährig gewordenen Person befindlichen persönlichen Gegenstände die Unpfändbarkeit nach § 811 ZPO ausnahmsweise bereits im Erkenntnisverfahren und nicht erst im Vollstreckungsverfahren berücksichtigt (BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 5 RdNr 23; allgemein für die Anwendung des § 811 ZPO im Rahmen des § 1629a BGB Muscheler, WM 1998, 2271, 2286; Coester in Staudinger, BGB, 2020, § 1629a BGB RdNr 56; Huber in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl 2020, § 1629a BGB RdNr 41). Um den Schutz von persönlichen Gegenständen durch § 811 ZPO wird vorliegend jedoch nicht gestritten.
Ein Pfändungsschutz nach § 811 ZPO greift hier für das Kontoguthaben des Klägers schon nicht. Denn bei § 811 ZPO geht es nur um die Unpfändbarkeit von Sachen, also verkörperten Gegenständen (§ 90 BGB) und nicht um Forderungen gegen Drittschuldner (vgl die Überschrift zur ZPO, Buch 8 Abschnitt 2 Titel 2 Untertitel 2: Zwangsvollstreckung in körperliche Sachen; Uhl in BeckOK, ZPO, § 811 RdNr 2, 42. Edition Stand 1.9.2021; aA ohne Begründung LSG Hamburg vom 29.4.2021 - L 4 AS 212/20 ZVW - RdNr 18). Folgerichtig ist der Vollstreckungsschutz in Bezug auf Kontoguthaben als Buchgeld im Vollstreckungsverfahren nicht nach § 811 ZPO, sondern nach den §§ 829 ff ZPO, insbesondere §§ 833a, 850k ZPO zu gewähren.
cc) Der Stand des Vermögens iS des § 1629a Abs 1 Satz 1 BGB ist nicht unter Berücksichtigung aller Pfändungsschutzvorschriften bereits im Erkenntnisverfahren zu ermitteln. Es ist daher unerheblich, ob sich das Kontoguthaben des Klägers aus Zuflüssen speiste, die nicht pfändbar wären. Vielmehr ist Ziel des § 1629a BGB, Verbindlichkeiten, die Eltern einem volljährig Gewordenen gegenüber im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht durch Rechtsgeschäft oder eine sonstige Handlung begründet haben, auf den Bestand des bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandenen Vermögens zu beschränken (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum MHbeG, BT-Drucks 13/5624 S 1). Die Formulierung "Bestand des Vermögens" lässt im Grundsatz keine weiteren Einschränkungen auf Grund vorgezogener Erwägungen zum vollstreckungsrechtlichen Schuldnerschutz zu. Lediglich bei Gegenständen des persönlichen Gebrauchs (§ 811 Abs 1 Satz 1 ZPO) hat das BSG die Berücksichtigung einer fehlenden Herausgabepflicht des volljährig Gewordenen im Rahmen des § 1629a BGB schon im Erkenntnisverfahren zugelassen (BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 34/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 5 RdNr 23; vgl BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 47; BSG vom 28.11.2018 - B 4 AS 43/17 R - SozR 4-4200 § 38 Nr 4 RdNr 21). Unabhängig davon dürfte es nach der ab dem 1.1.2023 geltenden Rechtslage auf Vollstreckungsschutz zum Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit nicht mehr ankommen (vgl § 40 Abs 9 SGB II idF des Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Einführung eines Bürgergeldes ≪Bürgergeld-Gesetz≫ vom 16.12.2022, BGBl I 2328).
Soweit der Kläger vorbringt, er sei durch die Berücksichtigung des Kontoguthabens gegenüber denjenigen volljährig gewordenen Erstattungsschuldnern benachteiligt, die über ein Pfändungsschutzkonto (§ 850k ZPO) verfügten, trifft dies nicht zu. Denn auch bei diesen kommt es im Rahmen des § 1629a BGB allein auf den Vermögensstand und damit auch ein Kontoguthaben an. Erst im Rahmen der Vollstreckung der Forderung durch Pfändung des Guthabens eines Kontos des volljährig gewordenen Vollstreckungsschuldners bei einem Kreditinstitut gelten §§ 833a und 907 ZPO entsprechend (vgl § 40 Abs 8 SGB II, § 5 Abs 1 VwVG, § 309 Abs 3 AO).
7. Der Haftung des Klägers mit seinem Guthaben auf dem Girokonto steht § 40 Abs 9 SGB II (idF des Bürgergeld-Gesetzes vom 16.12.2022, BGBl I 2328) nicht entgegen.
Danach gilt § 1629a BGB mit der Maßgabe, dass sich die Haftung eines Kindes auf das Vermögen beschränkt, das bei Eintritt der Volljährigkeit den Betrag von 15 000 Euro übersteigt. Die Vorschrift ist zum 1.1.2023 in Kraft getreten. Eine rückwirkende Geltung hat der Gesetzgeber nicht angeordnet (vgl zum Übergangsrecht allgemein § 65 SGB II nF). § 40 Abs 9 SGB II betrifft daher Fälle, in denen minderjährige Leistungsberechtigte nach dem 31.12.2022 volljährig geworden sind (vgl Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl, § 40 RdNr 285.12, Stand 7.2.2023). Für den am 30.12.2016 volljährig gewordenen Kläger greift die Neuregelung nicht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. |
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S. Knickrehm |
Harich |
Neumann |
Fundstellen
Haufe-Index 15825379 |
NJW 2024, 1134 |
FEVS 2024, 249 |
NJ 2023, 552 |
NZI 2024, 187 |
NZS 2024, 110 |
SGb 2024, 229 |
ZInsO 2024, 26 |
ZfF 2024, 118 |
NZFam 2024, 333 |
info-also 2024, 40 |