Leitsatz (redaktionell)

Verfolgungsbedingte Ersatzzeiten zählen nicht für die Voraussetzungen des AVG § 10 (= RVO § 1233) und können daher nicht auf die erforderliche 60-Monat-Beitragszeit angerechnet werden.

 

Normenkette

AVG § 10 Fassung: 1957-07-27; RVO § 1233 Fassung: 1957-07-27

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. September 1965 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die nicht mehr versicherungspflichtige Klägerin hat von 1935 bis 1937 zur Angestelltenversicherung 13 Pflichtbeiträge entrichtet. Sie möchte die Versicherung freiwillig fortsetzen und hält sich dazu für befugt, weil bei ihr die Jahre 1938 bis 1949 als verfolgungsbedingte Ersatzzeiten im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) anerkannt sind.

Die Beklagte lehnte die im Juli 1962 beantragte Zulassung zur Weiterversicherung ab. Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hielt die Voraussetzungen zur Weiterversicherung weder nach § 10 AVG noch nach Art. 2 § 5 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) für erfüllt.

Mit der zugelassenen Revision rügte die Klägerin eine Verletzung des materiellen Rechts, insbesondere des § 10 AVG.

Sie beantragte,

die Vorentscheidungen aufzuheben und festzustellen, daß sie sich in der Angestelltenversicherung weiterversichern dürfe.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Mit Urteil vom 28. Juni 1966 hat der Senat in einem Parallelfall (11 RA 106/65) entschieden, daß auf die Mindestbeitragszeit von 60 Monaten, die nach § 10 Abs. 1 AVG Voraussetzung für die Weiterversicherung ist, verfolgungsbedingte Ersatzzeiten ebensowenig wie die anderen Ersatzzeiten angerechnet werden können. Mit Schriftsatz vom 23. August 1966 hat die Klägerin gegen diese Entscheidung Einwände erhoben und ihre Revision aufrechterhalten.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), aber unbegründet.

Die Klägerin darf sich nicht nach § 10 Abs. 1 AVG weiterversichern, weil sie nicht "während mindestens 60 Kalendermonaten Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet hat"; das Recht zur Weiterversicherung steht ihr auch nicht nach Art. 2 § 5 Abs. 1 AnVNG zu, weil sie bis zum Inkrafttreten des AnVNG von den in § 21 AVG aF eingeräumten Befugnissen zur freiwilligen Versicherung keinen Gebrauch gemacht hat.

Die Einwände der Klägerin gegen das Urteil vom 28. Juni 1966 geben dem Senat keinen Anlaß, die dort vertretene Rechtsansicht aufzugeben. Der Klägerin ist zwar zuzugeben, daß der Gesetzgeber - wie in BSG 13, 67, 70 dargelegt - die Verfolgten in der Rentenversicherung grundsätzlich so stellen will, als ob sie während der Verfolgungszeit versicherungspflichtig beschäftigt geblieben wären; jedoch ist es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, inwieweit dieser Grundsatz im einzelnen verwirklicht werden soll. Gerade bei § 10 AVG ist aber anzunehmen, daß der Gesetzgeber hier die Verfolgungszeiten nicht den Pflichtbeitragszeiten hat gleichstellen wollen.

Bei § 10 AVG bestand für den Gesetzgeber (anders als bei § 25 Abs. 3 Satz 1 AVG) mehrfach erkennbarer Anlaß zur Prüfung einer solchen Gleichstellung. Sowohl bei der Entstehung der Vorschrift (vgl. BSG 14, 135) als auch bei ihrer Änderung durch das Rentenversicherungsänderungsgesetz vom 9. Juni 1965 war zu entscheiden, welche Bedeutung den Ersatzzeiten für die Befugnis zur Weiterversicherung zukommen sollte. Der Gesetzgeber entschied sich jeweils gegen eine Anrechnung von Ersatzzeiten auf die für die Weiterversicherung erforderliche Mindestbeitragszeit. Dabei konnte er die verfolgungsbedingten Ersatzzeiten (§ 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG) nicht übersehen haben. Hätte er sie im Gegensatz zu den übrigen Ersatzzeiten in § 10 AVG den Pflichtbeitragszeiten gleichstellen wollen, dann hätte er das ausdrücklich sagen müssen; das wäre hier nicht nur "zweckmäßig" (BSG 13, 72), sondern geboten gewesen.

Hinzu kommt, daß genügend Gründe bestanden, in § 10 AVG das Wiedergutmachungsprinzip gegenüber den für das Erfordernis der 60-monatigen Pflichtbeitragszeit maßgebenden Erwägungen (vgl. das Urteil vom 28. Juni 1966) zurücktreten zu lassen. Der in Betracht kommende Schaden ist hier die Verweigerung des Rechts zur freiwilligen Fortsetzung einer früheren Pflichtversicherung. Ein solcher Schaden tritt infolge der Übergangsvorschrift des Art. 2 § 5 Abs. 1 AnVNG bei denjenigen Verfolgten nicht ein, die bis zum Inkrafttreten des AnVNG (1. Januar 1957) von dem Recht der Weiterversicherung nach § 21 AVG aF Gebrauch gemacht hatten. Dafür bedurfte es nur einer Vorversicherungszeit von 6 Monaten; Gebrauch gemacht war schon durch Entrichtung nur eines freiwilligen Beitrags; hierzu hatten die an der Weiterversicherung interessierten Verfolgten nach dem Ende der Verfolgung, spätestens ab 1950 bis 1956 ausreichende Gelegenheit. Durch § 10 AVG konnten also nur die Verfolgten zu Schaden kommen, die diese Gelegenheit nicht wahrgenommen hatten. Ihnen brauchte aber der auf eine generalisierende Betrachtungsweise angewiesene Gesetzgeber in § 10 AVG keine Sonderstellung einzuräumen, zumal er gerade in dieser Vorschrift nunmehr dem Versicherungsprinzip wesentlich stärkere Geltung als bisher verschaffen wollte.

Zu einem Abgehen von seiner Rechtsansicht veranlassen den Senat schließlich nicht die Ausführungen der Klägerin zu Art. X des BEG-Schlußgesetzes vom 14. September 1965. Diese Vorschrift gibt weiblichen Verfolgten und den Ehefrauen von Verfolgten das Recht zur Weiterversicherung dann, wenn ihnen in der NS-Zeit Beiträge wegen Heirat erstattet worden sind. Aus dem Inhalt und den Auswirkungen dieser für einen begrenzten Verfolgtenkreis neu geschaffenen Sonderregelung lassen sich für die Auslegung und Anwendung des § 10 AVG keine Schlüsse ziehen (ebensowenig wie etwa aus Art. 2 § 50 AnVNG); aus Art. X des BEG-Schlußgesetzes ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, daß der Gesetzgeber allgemein die Weiterversicherung auch den Verfolgten gestattet habe, die über keine Pflichtbeitragszeit von 60 Monaten verfügen, mit ihren Verfolgungszeiten jedoch eine Versicherungszeit dieses Umfangs erreichen.

Die Revision ist daher als unbegründet zurückzuweisen.

Kosten sind nicht zu erstatten (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2347534

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