Leitsatz (amtlich)
Ein vom Staat Israel erlassenes und an dessen Staatsangehörige gerichtetes Verbot der Ausreise in die BRD kann nicht als feindliche Maßnahme iS von RVO § 1251 Abs 1 Nr 3 angesehen werden.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09, Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09, Nr. 4 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 5. Mai 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob bei der Berechnung des Altersruhegeldes des Klägers die Zeit vom Januar 1950 bis Dezember 1957 als Ersatzzeit zu berücksichtigen ist.
Der im Jahre 1903 geborene Kläger ist jüdischer Abstammung. Er wanderte im März 1938 aus Oberschlesien nach Palästina aus und übte dort verschiedene Berufe aus. Im August 1957 erhielt er vom Staat Israel die Ausreisegenehmigung. Seit Dezember 1957 lebt er in der Bundesrepublik Deutschland.
Auf Antrag des Klägers wurde von der Beklagten u.a. der durch NS-Maßnahmen erzwungene Auslandsaufenthalt vom März 1938 bis Dezember 1949 als Ersatzzeit anerkannt und dem Kläger hierüber eine besondere Bescheinigung vom 26. Februar 1963 ausgestellt. Vom 1. Dezember 1968 an erhält der Kläger von der Beklagten das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres unter Berücksichtigung dieser Ersatzzeit (Bescheid vom 7. Januar 1969).
Der Kläger begehrt die Anrechnung auch der Zeit von Januar 1950 bis Dezember 1957 als Ersatzzeit, weil er während dieses Zeitraums trotz bestehenden Rückkehrwillens nicht habe aus dem Ausland zurückkehren können. Nach Gründung des Staates Israel, dessen Bürger er geworden sei, habe nämlich von 1948 an ein Ausreiseverbot bestanden, das ausdrücklich für die Bundesrepublik gegolten habe. Er sei daher bis Ende 1957 durch feindliche Maßnahmen i.S. von § 28 Abs. 1 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) an der Rückkehr aus dem Ausland verhindert gewesen.
Die Klage hatte in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) ging davon aus, daß der Kläger während der streitigen Zeit den Willen gehabt habe, in die Bundesrepublik "zurückzukehren". Die erst im Dezember 1957 erfolgte Rückkehr beruhe aber nicht auf "feindlichen" Maßnahmen: Bei dem Verhältnis Israel - Bundesrepublik habe es sich nicht um ein Feindstaaten-Verhältnis i.S. von § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG gehandelt. Auch habe sich das israelische Ausreiseverbot gegen den Kläger nicht als Deutschen, sondern als israelischen Staatsangehörigen gerichtet.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 AVG.
Der Kläger beantragt, die angefochtene Entscheidung und das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 27. Januar 1970 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 7. Januar 1969 zu ändern, weiterhin die Beklagte zu verpflichten, bei der Berechnung des dem Kläger ab 1. Dezember 1968 zustehenden Altersruhegeldes die Zeit vom 1. Januar 1950 bis 31. Dezember 1957 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Rechtsauffassung des LSG für zutreffend.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat mit zutreffenden Gründen angenommen, daß der Kläger im streitigen Zeitraum vom Januar 1950 bis Dezember 1957 nicht durch feindliche Maßnahmen i.S. von § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG an der Rückkehr aus Israel verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist.
Feindliche Maßnahmen nach Beendigung eines Krieges sind Anordnungen eines ehemaligen Feindstaates, die sich gegen den Versicherten als Deutschen gerichtet haben. Beide Voraussetzungen liegen hier - wie das Berufungsgericht richtig erkannt hat - nicht vor.
Nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I 88) konnten nur Zeiten "während eines Krieges" Ersatzzeiten sein. Ausgedehnt wurde die Regelung auf feindliche Maßnahmen auch "nach Beendigung eines Krieges" durch das Erste Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) aus der Erwägung, daß Versicherte während des Krieges in die deutschen Ostgebiete evakuiert und nach Kriegsende von den früheren Feindmächten dort festgehalten worden waren (vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen, Teil B Art. 1 § 1 zu Nr. 8 b in BT-Drucksache IV / 2572). Diese Fälle, in denen es zur Rückkehrverhinderung im wesentlichen erst nach Einstellung der Kampfhandlungen im Mai 1945 kam, sollten durch die Erweiterung der Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG auf feindliche Maßnahmen nach Beendigung eines Krieges erfaßt werden. Demgemäß muß sowohl nach dem Wortlaut, als auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift die Ursache der Rückkehrverhinderung bzw. des Festhaltens in Maßnahmen von Staaten gesehen werden, mit denen sich das ehemalige deutsche Reich im Kriegszustand befunden hatte (ebenso Verbandskommentar zur RVO, 6. Aufl., Anm. 19 zu § 1251).
Der Staat Israel, in dem sich der Kläger bis Anfang Dezember 1957 aufgehalten hatte, wurde aber erst im Jahre 1948 gegründet (Proklamation über die Staatserrichtung vom 14. Mai 1948). Er kommt mithin bereits aus zeitlichen Gründen nicht als ein mit dem früheren deutschen Reich Krieg führender Staat in Betracht.
Es fehlt darüber hinaus aber auch an einer allein auf deutsche Versicherte abzielenden feindlichen Maßnahme (vgl. hierzu Koch/Hartmann, Kommentar zum AVG, Band IV, Anm. B III 2 b zu § 28). Denn nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für den Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen bezog sich das vom Staat Israel zunächst erlassene Verbot der Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland auf sämtliche israelische Staatsangehörige - unabhängig von ihrer Herkunft. Es handelte sich somit um eine innerstaatliche Maßnahme, die nicht etwa auf die aus Deutschland eingewanderten Staatsbürger Israels beschränkt gewesen war.
Der Kläger erwarb mit der Gründung des Staates Israel die israelische Staatsangehörigkeit (§§ 1 und 2 b des Staatsangehörigkeitsgesetzes, 5712 - 1952, Gesetzbl. 95; abgedruckt bei Bergmann, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, 4. Aufl., Band 3). Das vom israelischen Staat erlassene Ausreiseverbot richtete sich mithin zur Zeit seiner Geltung gegen den Kläger in seiner damaligen Eigenschaft als israelischer Staatsangehöriger. Dem LSG ist darin beizupflichten, daß diese frühere Maßnahme des Staates Israel gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen nicht als Feindmaßnahme i.S. von § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG angesehen werden kann.
Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Kläger Verfolgter i.S. des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) ist, verbietet sich eine entsprechende Anwendung des § 28 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 AVG auf den hier streitigen Zeitraum. Gerade dadurch, daß der Gesetzgeber den Auslandsaufenthalt der nicht am Kriege teilnehmenden Versicherten einerseits und der verfolgten Versicherten andererseits in § 28 Abs. 1 Nr. 3 und 4 AVG jeweils in getrennten Tatbeständen aufgeführt hat, ist klargestellt, daß beide Sachverhalte unterschiedlich zu betrachten sind (vgl. hierzu auch BSG 16, 26, 28). Nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG gilt der auf einem Verfolgungstatbestand beruhende Auslandsaufenthalt bis zum 31. Dezember 1949 als durch nationalsozialistische Maßnahmen herbeigeführt. Über diesen Zeitpunkt hinaus darf auch nach der durch Art. 2 § 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) geänderten und ergänzten Fassung der Vorschrift der Auslandsaufenthalt als Ersatzzeit nicht berücksichtigt werden. Andererseits würde nach der Auffassung der Revision - infolge des früheren israelischen Verbots der Ausreise in das Bundesgebiet - die Zeit von der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 bis einschließlich Dezember 1949 Ersatzzeit sowohl nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG, als auch nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG sein. Dies würde indes der Systematik der gesetzlichen Regelung widersprechen, die erkennbar davon ausgeht, daß die anerkannten typischen Fälle der Ersetzung von Beitragszeiten auch nicht teilweise identisch sein sollen.
Schließlich geht auch der Hinweis der Revision auf das Urteil des 11. Senats vom 23. Juni 1965 (SozR Nr. 13 zu § 1251 RVO) fehl. Die nach Ansicht der Revision in dieser Entscheidung erfolgte "weite Auslegung" oder sogar "entsprechende Anwendung" des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG bezieht sich nur auf den Begriff der "Rückkehr aus dem Ausland", nicht aber auf den hier nach den Ausführungen der Revision umstrittenen Begriff der "feindlichen Maßnahmen".
Die Berücksichtigung der vom Kläger in Israel zurückgelegten Versicherungszeiten - es besteht dort aufgrund eines im Jahre 1953 erlassenen Gesetzes für alle Einwohner eine Sozialversicherung für Renten bei Invalidität, Alter und Tod (vgl. Schranz in SozSich 1965, 76) - muß nach alledem einem Sozialversicherungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel vorbehalten bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen