Entscheidungsstichwort (Thema)

Behandlung wegen Alkoholmißbrauchs

 

Leitsatz (redaktionell)

Die häufigen Behandlungen des Klägers wegen Alkoholmißbrauchs hätten das LSG veranlassen müssen, einen Sachverständigen darüber zu befragen, ob der Alkoholmißbrauch einen Zustand erreicht hat, bei dem es dem Kläger nicht mehr möglich war oder ist, durch Willensbestimmung den Verbrauch von Alkohol zu beschränken oder einzustellen.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03, S. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 19. Juni 1968 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger greift das Urteil des Landessozialgerichts (LSG), in dem die Revision nicht zugelassen ist, mit der Rüge wesentlicher Verfahrensmängel - hauptsächlich ungenügender Sachaufklärung - an.

Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Versichertenrente ab (Bescheid vom 26. April 1965): Er leide zwar an "Verdauungsstörungen nach Billroth II - Operation -, Lungenblähung und chronischer Bronchitis, Blutunterdruck sowie an Fehlhaltung der Wirbelsäule", sei jedoch nicht berufsunfähig oder erwerbsunfähig.

Klage und Berufung des Klägers waren ohne Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten von Dr. Sch Facharzt für innere Krankheiten, vom 16. Januar 1967 eingeholt. Ferner wurden Strafakten über Rauschtaten des Klägers und Krankengeschichten über Behandlungen u.a. wegen Folgen von Alkoholmißbrauch beigezogen.

Der Kläger hat gegen das Urteil des LSG Revision eingelegt. Er beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem Antrag der Klage zu entscheiden,

hilfsweise

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger rügt u.a. ungenügende Sachaufklärung. Er sieht einen Verstoß gegen § 103 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) darin, daß das LSG ihn nicht hat neu fachärztlich untersuchen lassen. Er hält das Gutachten des Dr. Sch für unvollständig und verweist dazu auf Ausführungen dieses Sachverständigen, die das LSG hätten veranlassen müssen, weitere Ermittlungen über seinen Gesundheitszustand anzustellen: Dr. Sch nehme eine gewisse Hirnleistungsschwäche an und habe die Ursache seiner Kopfschmerzen nicht klären können; der Sachverständige habe eine neurologisch-psychiatrische Zusatzbegutachtung für notwendig gehalten; diese sei nur wegen Zeitmangels unterblieben; eine neue Untersuchung sei unausweichlich nötig gewesen, da an verschiedenen Stellen der Akten sein Alkoholismus als Ursache der Krankheiten und der Veränderung seines Wesens angesehen werde. Der Kläger verweist auf die beigezogenen Strafakten.

Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet; denn der gerügte Verfahrensmangel ungenügender Sachaufklärung ist gegeben (§ 103 Satz 1 SGG).

Das LSG hätte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einholen müssen. Die neurologisch-psychiatrische Zusatzbegutachtung, die Dr. Sch im Hinblick auf die nach seiner Ansicht veränderte Psyche des Klägers beabsichtigte, ist nicht deshalb unterblieben, weil der Sachverständige diese Frage etwa aus anderen Gründen als geklärt angesehen hätte, sondern weil die Zusatzbegutachtung wegen der Krankenhausaufenthalte des Klägers nicht mehr durchgeführt werden konnte. Schon auf Grund dieser Ausführungen des Sachverständigen hätte das LSG nicht ohne ein weiteres Fachgutachten sachlich abschließend entscheiden dürfen.

Auch die häufigen Behandlungen des Klägers wegen Alkoholmißbrauchs hätten das LSG veranlassen müssen, einen Sachverständigen darüber zu befragen, ob der Alkoholmißbrauch beim Kläger einen Zustand erreicht hat, bei dem es ihm nicht mehr möglich war oder ist, durch Willensbestimmung den Verbrauch von Alkohol zu beschränken oder einzustellen, d. h. ob der Alkoholmißbrauch beim Kläger zur Trunksucht als Krankheit ausgeartet ist und seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit entsprechend beeinträchtigt hat. Der Alkoholmißbrauch wird auch von Dr. Sch im Zusammenhang mit der veränderten Psyche des Klägers angeführt. Ferner ist er in den Strafakten genannt, die Rauschtaten des Klägers in den Jahren 1964 und 1967 betreffen. In den beigezogenen Krankengeschichten ist angegeben, daß der Krankenhausaufenthalt des Klägers vom 30. August bis 13. September 1961 wegen "Alkoholintoxikation, fraglicher Opticusschaden" und der Aufenthalt in derselben Klinik vom 5. bis 14. August 1961 wegen Kopfprellung nach Sturz im betrunkenen Zustand veranlaßt war. Auch in der Zeit nach der Begutachtung durch Dr. Sch wurde der Kläger wegen Alkoholmißbrauchs behandelt. In einem Arztbrief vom 19. April 1967 ist ausgeführt, daß der Kläger wegen "Alkoholintoxikation, Fettleber bei chronischem Alkoholabusus, Rechtsherzinsuffizienz bei Lungenemphysem, orthostatische Kreislaufdysregulation" vom 23. Februar bis 6. April 1967 in stationärer Behandlung war. Das LSG hat diese Hinweise in den Akten auf Folgen eines Alkoholmißbrauchs nicht zum Anlaß einer entsprechenden medizinischen Begutachtung genommen, sondern nur ausgeführt, daß bereits das SG den Kläger eindringlich auf die Folgen des Alkoholgenusses hingewiesen habe. Das LSG hat den Alkoholmißbrauch danach nur als schuldhaftes, zu mißbilligendes charakterliches Verhalten des Klägers angesehen. Für diese Beurteilung des Alkoholmißbrauchs fehlen jedoch medizinisch-wissenschaftliche Unterlagen von Fachärzten; denn Dr. Sch hat sich in dieser Hinsicht nicht geäußert. Das von ihm beabsichtigt gewesene neurologisch-psychiatrische Gutachten hätte auch diese Frage behandeln müssen. Das LSG hat deshalb auch sein Recht der freien Beweiswürdigung überschritten, insofern es den Alkoholmißbrauch lediglich als charakterliches Fehlverhalten angesehen hat (§ 128 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Revision ist begründet; denn das LSG hätte vielleicht anders entschieden, wenn es ein medizinisches Fachgutachten, wie von Dr. Sch beabsichtigt, eingeholt hätte.

Bei dieser Sachlage braucht auf die anderen Revisionsrügen nicht eingegangen zu werden.

Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Das LSG wird danach die erforderliche fachärztliche Begutachtung zu veranlassen haben. Bei der Befragung des Sachverständigen wäre auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Beurteilung einer Trunksucht als Krankheit zu berücksichtigen (BSG 28, 114; Urteile vom 22. November 1968 - 3 RK 20/66 und vom 17. Oktober 1969 - 3 RK 82/66). Auch wird sich das LSG möglicherweise mit § 1277 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung zu befassen und dem Sachverständigen diejenigen Fragen zu stellen haben, die es ihm ermöglichen, zu beurteilen, ob der Kläger sich etwa "absichtlich berufsunfähig oder erwerbsunfähig" gemacht hat (BSG 21, 163).

Ferner wird es bei Gefahr eines Notstandes für den Kläger an § 6 Abs. 1 Nr. 3 BGB und an § 72 Abs. 1 SGG zu denken haben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284911

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