Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsausschluß im Kindergeldrecht
Orientierungssatz
1. Schließt § 149 SGG bei einer Rückforderung die Berufung nicht aus, so führt das nicht dazu, daß die Berufung hinsichtlich der die Rückforderung auslösenden Aufhebung des Leistungsbescheides für die Vergangenheit entgegen § 27 Abs 2 BKGG ebenfalls statthaft wäre.
2. Der Senat ist nicht befugt, im Wege der richterlichen Lückenfüllung die gesetzliche Regelung des § 27 Abs 2 BKGG dahin zu erweitern, daß die Berufung in solchen Fällen insgesamt statthaft ist, in denen die Bewilligung einer 1.000 DM übersteigenden Leistung aufgehoben und die Leistung gleichzeitig nach § 50 SGB 10 zurückgefordert wird.
Normenkette
SGG § 149; BKGG § 27 Abs 2; SGB 10 § 48 Abs 1, § 50 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.06.1985; Aktenzeichen S 13 Kg 6/85) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 20.11.1984; Aktenzeichen S 27 (5) Ar 135/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Kindergeld teilweise aufheben und Leistungen in Höhe von 3.720,-- DM zurückfordern darf.
Das Arbeitsamt I. - Kindergeldkasse - bewilligte der Klägerin auf ihren Antrag vom 23. Juni 1980 mit Bescheid vom 26. August 1980 für ihre drei ehelichen Kinder Michael, Roswitha und Katja Kindergeld. Nachdem die Beklagte erfahren hatte, daß das Lehrverhältnis des 1962 geborenen Michael zum 2. August 1980 vorzeitig beendet worden war, hob sie durch Bescheid vom 19. November 1982 die Entscheidung über die Bewilligung des Kindergeldes nach § 48 Abs 1 Nr 2 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) für den Monat Januar 1981 in Höhe von 200,-- DM, für Februar bis Dezember 1981 in Höhe von monatlich 240,-- DM und ab Januar 1982 in Höhe von 220,-- DM monatlich auf und forderte bis einschließlich April 1982 zuviel gezahltes Kindergeld in Höhe von 3.720,-- DM nach § 50 Abs 1 SGB X zurück.
Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hat seine Entscheidung mit der formularmäßigen Rechtsmittelbelehrung versehen, daß das Urteil mit der Berufung angefochten werden könne. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen, soweit sie die Aufhebung der Kindergeldbewilligung ab Januar 1981 betrifft und die Berufung im übrigen zurückgewiesen. Das Rechtsmittel sei, soweit es die Aufhebung der Kindergeldbewilligung betreffe, nicht statthaft. Es gehe im vorliegenden Falle lediglich um Kindergeld für bereits abgelaufene Zeiträume. Deshalb sei die Berufung nach § 27 Abs 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) ausgeschlossen. Die Statthaftigkeit der Berufung ergebe sich insoweit auch nicht aus § 150 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Zwar sei die Berufung gemäß Nr 1 der genannten Vorschrift zulässig, wenn das SG sie im Urteil zugelassen habe. Weder der Urteilsausspruch noch der Tatbestand oder die Entscheidungsgründe des SG-Urteils enthielten jedoch einen Hinweis darauf, daß die erkennende Kammer die Berufung zugelassen habe. Die formularmäßig erteilte Rechtsmittelbelehrung, nach der das Urteil mit der Berufung angefochten werden könne, stelle demgegenüber keine wirksame Zulassung der Berufung durch das SG dar. Das Rechtsmittel sei hinsichtlich der Aufhebung der Kindergeldbewilligung schließlich auch nicht nach § 149 SGG zulässig. Zwar könne die Klägerin im vorliegenden Falle das SG-Urteil mit der Berufung anfechten, soweit es die Rückforderung des Kindergeldes betreffe. Denn nach § 149 SGG sei ein Streit über die Rückforderung dann berufungsfähig, wenn der Beschwerdewert 1.000,-- DM überschreite. Dies sei hier gegeben. Die Berufung richte sich nämlich gegen eine Rückforderung von 3.720,-- DM. Die Statthaftigkeit der Berufung, soweit es um die Rückforderung gehe, führe aber nicht zwangsläufig auch zur Zulässigkeit der Berufung, soweit sie die der Rückforderung zugrunde liegende Aufhebung der Kindergeldbewilligung betreffe. Bei mehreren selbständigen Klageansprüchen müsse die Zulässigkeit des Rechtsmittels für jeden Anspruch gesondert geprüft werden. Daran habe sich auch nichts durch das Inkrafttreten des SGB X geändert. Der Gesetzgeber habe anläßlich der Neuregelung des Sozial-Verwaltungsverfahrens keinen Anlaß gesehen, die Berufungsausschlußgründe neu zu regeln. Angesichts der eingetretenen Bindungswirkung der Aufhebungsentscheidung lägen die Voraussetzungen zum Erlaß des Erstattungsbescheides nach § 50 Abs 1 SGB X vor.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht die Klägerin geltend: Das LSG habe die Berufung, soweit sie die Aufhebung der Kindergeldbewilligung betreffe, zu Unrecht als unzulässig verworfen. Zwar treffe es zu, daß bei mehreren selbständigen Klageansprüchen die Zulässigkeit eines Rechtsmittels für jeden Anspruch gesondert geprüft werden müsse. Hier lägen jedoch nicht zwei selbständige Ansprüche vor. Die Aufhebung der Kindergeldbewilligung und die Rückforderung der Leistungen ständen in einem derart engen Zusammenhang, daß nur eine einheitliche Betrachtung als richtig erscheine. Der Erstattungsbescheid sei von dem Aufhebungsbescheid in einer Weise abhängig, daß bei wirksamer Aufhebung des Kindergeldbescheides automatisch eine Erstattungspflicht eintrete. Es wäre sinnwidrig, für die Anfechtungsklage gegen den Erstattungsanspruch die Berufung zuzulassen, während die Berufung gegen den Aufhebungsbescheid über die Bewilligung ausgeschlossen sei. Die nach dieser Auffassung nur teilweise zulässige Berufung könnte niemals begründet sein. Deshalb sei die Anwendung des § 27 Abs 2 BKGG in Fällen der vorliegenden Art ausgeschlossen.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Juni 1985 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 20. November 1984 sowie den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Arbeitsamts I. vom 19. November 1982 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. März 1983 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie führt aus, die angefochtene Entscheidung stehe in Einklang mit der neuesten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Aber selbst wenn man die Berufung auch als zulässig ansehe, soweit sie die Aufhebung der Kindergeldbewilligung betreffe, müsse das erstinstanzliche Urteil Bestand haben.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat ihre Berufung zu Recht als unzulässig verworfen, soweit sie die Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides betrifft, und das Rechtsmittel als unbegründet zurückgewiesen, soweit die Rückforderung des gezahlten Kindergeldes Gegenstand der angefochtenen Bescheide ist.
Entgegen der von der Revision vertretenen Auffassung ist davon auszugehen, daß Gegenstand des Klagebegehrens nicht ein einheitlicher Streitgegenstand ist, sondern daß in dem angefochtenen Bescheid zwei rechtlich selbständige Verwaltungsakte (Verfügungssätze) zusammengefaßt sind: Der Verfügungssatz über die Rücknahme der Kindergeldbewilligung einerseits und die Entscheidung über die Rückzahlungspflicht der Klägerin andererseits (BSGE 6, 11, 15; SozR 1500 § 146 Nr 9; Urteil vom 30. Mai 1985 - 11a RA 66/84 - SozR 1500 § 146 Nr 18; ständige Rechtsprechung des BSG; vgl zur Rechtsentwicklung auch Keßler, SGb 1985, 182, 185; vgl ferner die Differenzierung in § 50 Abs 3 Satz 2 SGB X, der im rechtlichen Ansatz ebenfalls die Eigenständigkeit beider Entscheidungen zugrunde liegt).
Sind Gegenstand einer Klage mehrere selbständige Ansprüche, so ist die Zulässigkeit der Berufung für jeden Anspruch gesondert zu beurteilen (BSG SozR 1500 § 146 Nrn 2, 9, 14 mwN; vgl zuletzt Urteile des BSG vom 30. Mai 1985 aa0 und vom 11. Juli 1985 - 5b RJ 80/84 -, zur Veröffentlichung bestimmt). Eine Ausnahme kommt nur in Betracht, wenn zwei Ansprüche derart voneinander abhängen, daß einer der beiden Ansprüche präjudiziell für den anderen und die Berufung nur für den präjudiziellen Anspruch statthaft ist. Die Berufung ist dann auch für den abhängigen Anspruch trotz Vorliegens eines Berufungsausschlusses zulässig (BSG SozR 1500 § 146 Nrn 4, 14 mwN). Hieraus läßt sich aber nicht der Umkehrschluß ziehen, die Berufung sei für den abhängigen Anspruch statthaft, obwohl sie für den vorrangigen Anspruch ausgeschlossen ist (BSG aa0). Vorrangiger Entscheidungsgegenstand ist, worauf bereits das LSG zutreffend hingewiesen hat, hier der Leistungsanspruch, während die Rückerstattungsentscheidung die abhängige Rechtsfolge regelt.
Das LSG hat auch zutreffend herausgestellt, daß die Rechtslage sich entgegen der von einzelnen Landessozialgerichten (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 1982 - L 9 Kg 834/80 -; Bayerisches LSG, Urteil vom 11. November 1983 - L 4 Kg 31/82 -, Breithaupt 1984, 1017) vertretenen Ansicht durch das Inkrafttreten des Ersten und Zweiten Kapitels des SGB X am 1. Januar 1981 nichts geändert hat. Die gegenteilige Auffassung wird damit begründet, die Berufung betreffe wegen der mit der Aufhebung der früheren Bewilligung notwendigerweise verbundenen Rückforderung gemäß § 50 Abs 1 SGB X entgegen dem Wortlaut des § 27 Abs 2 BKGG einen Fall des § 149 SGG; andernfalls sei diese Vorschrift in Fällen dieser Art "praktisch funktionslos". Mit dieser Auslegung wird, wie bereits der 11a-Senat des BSG (Urteil vom 30. Mai 1985 aa0 und der 5b-Senat des BSG (Urteil vom 11. Juli 1985 aa0) zutreffend herausgestellt haben, der Normgehalt der Vorschrift des § 149 SGG unzulässigerweise nicht nur auf die die Rückzahlung einer zu Unrecht empfangenen Leistung betreffenden Tatbestandsmerkmale erstreckt, sondern auch auf die die Rechtmäßigkeit der Rücknahme der Leistungsbewilligung betreffenden sowie einzelne anspruchsbegründende Merkmale ausgedehnt, für deren Prüfung der Gesetzgeber von jeher nur die erste Instanz eröffnet hat. Der Umstand, daß der Gesetzgeber im Rahmen der Neuregelung der Rücknahme -und Rückzahlungsvoraussetzungen solche Tatbestandsmerkmale, die die Rückzahlungspflicht einschränken (§ 13 Nrn 1 und 2 BKGG in der bis zum 31. Dezember 1980 gültig gewesenen Fassung der Bekanntmachung des BKGG vom 31. Januar 1975 - BGBl I, 412 -) in den Bereich der Zulässigkeit der Rücknahme (vor-)verlagert (§ 48 Abs 1 SGB X) und damit eine "Gewichtsverlagerung" (5b-Senat des BSG, Urteil vom 11. Juli 1985 aa0) herbeigeführt hat, kann nicht dazu führen, die rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung und die Rückforderung der erbrachten Leistung nunmehr als einen einheitlichen Verfügungssatz anzusehen oder § 27 Abs 2 BKGG entgegen seinem Wortlaut auszulegen und die bisherige Rechtsprechung des BSG zum Ausschluß der Berufung in den Fällen der Rücknahme eines begünstigenden und die Leistung ablehnenden Verwaltungsaktes aufzugeben (ebenso: 11a-Senat des BSG, SozR 1500 § 146 Nr 18 sowie 5b-Senat des BSG aa0 zu §§ 146, 149 SGG).
Daß der Gesetzgeber dem Betroffenen in Fällen des § 27 Abs 2 BKGG ohne Rücksicht auf die Höhe des Anspruchs nur die erste Instanz zur Verfügung stellt, kann - wie auch in den Fällen der §§ 145, 146, 148 SGG - bei hohen Streitwerten zu Härten führen. Da die geltende gesetzliche Regelung aber auf einer entsprechenden Konzeption des Gesetzgebers und nicht auf einer unerkannt gebliebenen Regelungslücke im Gesetz beruht, ist der Senat nicht befugt, im Wege der richterlichen Lückenfüllung die gesetzliche Regelung des § 27 Abs 2 BKGG dahin zu erweitern, daß die Berufung in solchen Fällen insgesamt statthaft ist, in denen die Bewilligung einer 1.000,-- DM übersteigenden Leistung aufgehoben und die Leistung gleichzeitig nach § 50 SGB X zurückgefordert wird. Das LSG hat deshalb die Berufung bezüglich der Aufhebung der Kindergeldbewilligung zutreffend als ausgeschlossen angesehen. Es ist auch rechtlich nicht zu beanstanden, daß das LSG in der dem SG-Urteil beigefügten fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung keine Zulassungsentscheidung des SG iS des § 150 Nr 1 SGG erblickt hat (BSGE 5, 92, 95). Da die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 150 Nr 2 und Nr 3 SGG nicht gegeben sind, ist die Berufung bezüglich der Aufhebung der Kindergeldbewilligung zu Recht als unzulässig verworfen worden.
Die Revision hat aber auch keinen Erfolg, soweit sie die Rückforderung des Kindergeldes betrifft. Zwar ist die Berufung insoweit - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - im Hinblick auf die Regelung des § 149 SGG statthaft. Entgegen der Auffassung der Klägerin hat die Beklagte das für den Sohn Michael gezahlte Kindergeld zu Recht zurückgefordert. Die Rückzahlungspflicht ergibt sich aus § 50 Abs 1 SGB X. Sie setzt voraus, daß die Kindergeldbewilligung wirksam aufgehoben worden ist. Diese Voraussetzung liegt vor. Das SG hat die Klage gegen die Aufhebung der Kindergeldbewilligung abgewiesen. Besondere Umstände, die die Rückforderung des Kindergeldes als unzulässige Rechtsausübung erscheinen lassen könnten, sind vom LSG nicht festgestellt worden; es besteht auch kein Anhalt für ihr Vorliegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen