Leitsatz (amtlich)

Ist ein Leiden auf Grund wissentlich falscher Angaben des Beschädigten als Schädigungsfolge anerkannt worden, so steht der Verwaltung außer den Rechten aus KOV-VfG §§ 41 bis 43 kein allgemeines - etwa auf Treu und Glauben gestütztes - Leistungsverweigerungsrecht zu.

 

Normenkette

BGB § 242 Fassung: 1896-08-18; KOVVfG § 42 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1955-05-02, § 41 Abs. 1 Fassung: 1955-05-02, § 43 Abs. 2 Fassung: 1955-05-02

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. März 1965 und des Sozialgerichts Augsburg vom 17. Mai 1961 sowie die Verwaltungsbescheide vom 13. September 1960 und 25. Januar 1961 aufgehoben.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

Auf Grund des Bayerischen Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) und des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) bezog der Kläger Versorgung wegen einer linksseitigen Lungentuberkulose (verschlimmert durch Einwirkungen des Kriegsdienstes) und einer Narbe nach Kopfschwartenphlegmone ohne wesentliche Folgen; die Rente war nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. festgestellt. Im Jahre 1953 ermittelte die Verwaltung alte Lazarettunterlagen, hob gemäß Art. 30 Abs. 4 KBLG durch Bescheid vom 28. August 1953 die früheren Bescheide über die Gewährung von Versorgung auf, stellte fest, daß Schädigungsfolgen nicht vorlägen und forderte die bis dahin gewährten Leistungen zurück, weil die linksseitige Lungentuberkulose - entgegen den Angaben des Klägers - bereits vor dem Wehrdienst bestanden habe und durch diesen nicht verschlimmert worden sei. Die Klage war erfolglos. Auf die Berufung des Klägers hatte das Bayerische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 13. November 1958 das Urteil des Sozialgerichts (SG) dahin abgeändert, daß der Bescheid vom 28. August 1953 aufgehoben wurde. Die Revision des Beklagten blieb erfolglos (Beschluß des Senats vom 18. Juni 1959). In Ausführung des Urteils des LSG und des Beschlusses des Bundessozialgerichts (BSG) berechnete der Beklagte mit der Benachrichtigung vom 21. Januar 1959, dem durch Widerspruch angefochtenen Bescheid vom 7. November 1959 sowie dem bindend gewordenen Bescheid vom 30. Juli 1960 die Rente des Klägers und die ihm zustehende Nachzahlung.

Am 13. September 1960 erteilte der Beklagte einen Anfechtungsbescheid gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 3 und 9 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG), weil sich aus den Urkunden, welche zur Neufeststellung der Rente (§ 30 BVG) beigezogen worden seien, die Unrichtigkeit der früheren Angaben ergeben habe; die Fristen des § 43 VerwVG in der Neufassung seien gewahrt. Die früheren Rentenbescheide und -benachrichtigungen wurden aufgehoben, die Lungentuberkulose nicht als Schädigungsfolge anerkannt und die Gewährung von Rente abgelehnt, zumal die Narbe nach Kopfschwartenphlegmone die MdE nicht herabsetze; die bis dahin gewährten Leistungen wurden gleichzeitig zurückgefordert. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 1961).

Die Klage sowie die Berufung des Klägers hatten keinen Erfolg (Urteil des SG Augsburg vom 17. Mai 1961 sowie des Bayerischen LSG vom 11. März 1965). Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger in seinem Rentenantrag und auch später bis zur Rentenbewilligung wissentlich falsche Angaben über seine Lungenerkrankung und über den geleisteten Wehrdienst gemacht hatte. Es hat deshalb die sachlichen Voraussetzungen für eine neue förmliche Feststellung des Versorgungsanspruchs als erfüllt angesehen. Es ist darüber hinaus der Ansicht gewesen, das Versorgungsamt habe die Fristen des § 43 VerwVG beachtet. Hierzu hat es ausgeführt: Für den Bescheid nach Art. 30 Abs. 4 KBLG sei nicht erforderlich gewesen, daß die Verwaltung innerhalb der Fristen des § 43 VerwVG eine erneute Prüfung des Sachverhalts mit dem Ziele einer erneuten förmlichen Entscheidung über den Versorgungsantrag eingeleitet habe. Infolgedessen könne der Lauf einer Frist im Sinne dieser Vorschrift nicht verbraucht sein. Außerdem habe die Versorgungsbehörde das Verfahren auf Nachprüfung der Rentenfeststellung bereits im Juli 1953 eingeleitet. Wenn auch damals das VerwVG noch nicht gegolten habe, sei die Versorgungsbehörde doch berechtigt und in der Lage gewesen, nach allgemeinen Verwaltungsrechtsgrundsätzen einen Anfechtungsbescheid zu erlassen. Die Frist des § 43 Abs. 1 Satz 2 VerwVG sei mit diesem Zeitpunkt, dem 2. Juli 1953, in Gang gesetzt worden und sei zur Zeit des Inkrafttretens des VerwVG noch nicht abgelaufen; sie habe auch nicht durch die Entscheidung des BSG vom 18. Juni 1959 geendet. Daß über den Bescheid nach Art. 30 Abs. 4 KBLG bereits entschieden worden sei, habe die Versorgungsbehörde nicht gehindert, einen Anfechtungsbescheid zu erlassen, weil die Voraussetzungen für beide Bescheidarten verschieden seien. Auch die Fünfjahresfrist sei nicht verstrichen gewesen. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. März 1965 und des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 17. Mai 1961 sowie der Bescheide des Versorgungsamts A vom 13. September 1960 und 25. Januar 1961 den Beklagten zu verurteilen, für die anerkannten Schädigungsfolgen über den 31. Oktober 1960 hinaus Rente nach einer MdE um 70 v. H. weiter zu gewähren.

Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 42, 43 und 47 VerwVG und ist der Ansicht, die Fristen des § 43 für den Erlaß eines Anfechtungsbescheides seien verstrichen gewesen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.

Der Kläger hat die durch Zulassung statthafte Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das Rechtsmittel ist mithin zulässig. Es muß auch Erfolg haben.

Streitig ist die Rechtmäßigkeit des Anfechtungsbescheides vom 13. September 1960. Was die allgemeinen Voraussetzungen über die Erteilung eines Anfechtungsbescheides nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 VerwVG anlangt, hat der Kläger die Feststellungen des Berufungsgerichts, daß er wissentlich falsche Angaben gemacht hat, nicht angegriffen.

Wenn das LSG weiter entschieden hat, daß die Verwaltung innerhalb der Fristen des § 43 VerwVG tätig geworden ist, ist dies nicht frei von Rechtsirrtum. Wegen des Ablaufs der Einleitungsfrist Ende September 1959 ist hier die Vorschrift des § 43 Abs. 1 Satz 2 VerwVG in der Fassung vor dem Erlaß des Ersten Neuordnungsgesetzes (1. NOG) maßgebend. Dieses erste Neuordnungsgesetz hat mit der Vorschrift, daß die Fünfjahresfrist des § 43 Abs. 2 Satz 2 VerwVG frühestens mit dem 1. 1. 1957 beginnt, an der Rechtslage nichts geändert. Denn dadurch sind am 1. 7. 1960 bereits abgelaufene Ausschlußfristen nicht verlängert worden (vgl. BSG 21, 79 ff, 81). Nach der hier maßgebenden Vorschrift des § 43 Abs. 1 Satz 2 VerwVG mußte das Versorgungsamt innerhalb von drei Monaten nach Kenntnis des Anfechtungsgrundes eine neue Prüfung eingeleitet haben. Dem LSG kann nicht gefolgt werden, wenn es der Ansicht gewesen ist, die Frist für die Prüfung sei auf jeden Fall durch das frühere Verfahren, den Bescheid auf Grund des Art. 30 Abs. 4 KBLG und die anschließenden Rechtsmittelverfahren gewahrt worden und könne überhaupt nicht mehr ablaufen. Zutreffend hat das LSG in der angefochtenen Entscheidung zunächst ausgeführt, die Verfahren bei einem Bescheid nach Art. 30 Abs. 4 KBLG und einem Anfechtungsbescheid seien grundlegend verschieden. Hiermit ist es nicht vereinbar, wenn die Vorinstanz trotzdem in dem Verwaltungshandeln vor und bei Erlaß des Bescheides nach Art. 30 Abs. 4 KBLG die Prüfung erblickt hat, welche ausschließlich in das Verfahren zum Erlaß eines Anfechtungsbescheides gehört. Vor allem aber hat das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang nicht gebührend beachtet, daß der Bescheid nach Art. 30 Abs. 4 KBLG auf das frühere Rechtsmittel des Klägers als nicht rechtmäßig aufgehoben worden ist. Das frühere Urteil des Bayerischen LSG ist (durch den Beschluß des Senats vom 18. Juni 1959) rechtskräftig geworden. Spätestens von diesem Zeitpunkt an hat der Bescheid keine Wirkungen mehr gehabt, schon weil er nicht mehr vorhanden gewesen ist. Es ist also rechtsirrig, wenn das LSG ausgeführt hat, dieser aufgehobene Bescheid habe bewirkt, daß die Fristen des § 43 VerwVG überhaupt nicht mehr ablaufen könnten.

Im vorliegenden Fall kann auch unerörtert bleiben, ob bei einem Bescheid nach Art. 30 Abs. 4 KBLG der Versorgungsanspruch oder auch die Befugnis der Verwaltung zum Erlaß eines Anfechtungsbescheides rechtshängig werden. Denn sollte auch aus diesem Grunde der Lauf sämtlicher Fristen, die mit dem Anfechtungsbescheid zusammenhängen könnten, gehemmt sein, würden diese Fristen nach rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens, also hier Ende Juni 1959 - nachdem der Beschluß des Senats vom 18. Juni 1959 dem Beklagten zugestellt worden war - wieder begonnen haben. Die Verwaltung verkennt das anscheinend auch nicht und sieht in der Revisionserwiderung den Bescheid vom 30. Juli 1960 als maßgebenden Zeitpunkt an. Dies ist schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil dieser Bescheid erst auf den Widerspruch des Klägers ergangen ist. Man müßte also bei dieser für den Beklagten günstigsten Betrachtung von dem vorangegangenen Bescheid vom 7. November 1959 ausgehen, durch welchen der Beschluß des Senats ausgeführt ist. Legt man selbst diesen Zeitpunkt zu Grunde, so war die Dreimonatsfrist vor Inkrafttreten des 1. NOG und erst recht im September 1960 verstrichen. Dies muß um so mehr gelten, wenn man von dem richtigen Zeitpunkt, dem Zugehen des Beschlusses vom 18. Juni 1959, ausgeht.

Infolgedessen hat hier der Kläger recht, wenn er der Ansicht ist, die Verwaltung habe die Fristen des § 43 VerwVG verstreichen lassen und sei im September 1960 nicht mehr berechtigt gewesen, einen Anfechtungsbescheid nach § 42 VerwVG zu erlassen. Deshalb kann das angefochtene Urteil nicht aufrechterhalten werden.

Bei der gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG nunmehr bestehenden Möglichkeit, in der Sache selbst zu entscheiden, hat der Senat zunächst geprüft, ob der Anfechtungsbescheid aus anderen als den in ihm angegebenen Gründen im Ergebnis aufrechterhalten werden kann (vgl. BSG 7, S. 8 ff; S. 169 ff). § 41 VerwVG kommt als Grundlage schon deshalb nicht in Betracht, weil nach dem rechtskräftigen Urteil des Bayerischen LSG vom 13. November 1958 nicht außer Zweifel steht, daß die früheren Bescheide über die Gewährung von Versorgung im Zeitpunkt ihres Erlasses tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sind. Da nach den - wie eingangs dargelegt - das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG der Kläger wissentlich falsche Angaben über die Lungentuberkulose gemacht hat, liegt es nahe zu prüfen, ob der Verwaltung ihm gegenüber ein allgemeines Leistungsverweigerungsrecht zusteht. Dies ist im BVG nicht ausdrücklich enthalten. Es läßt sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben auch nicht mit der Begründung herleiten, daß ein Versorgungsberechtigter durch unlauteres Verhalten - hier die wissentlich unrichtigen Angaben - keinen Vorteil zu Lasten der Allgemeinheit erlangen sollte. Der zunächst im bürgerlichen Recht entwickelte Grundsatz von Treu und Glauben ist in das allgemeine Verwaltungsrecht und die Kriegsopferversorgung übernommen worden; auch in den Entscheidungen des Bundessozialgerichts wird er herangezogen. Für den vorliegenden Fall aber kann die Verwaltung aus ihm Gegenrechte gegen den mit den früheren Bescheiden gestalteten Versorgungsanspruch nicht herleiten. Diese früheren Bescheide sind bindend geworden. Ihre Grundlage ist im Laufe der Jahre durch eine Änderung der bei ihrem Erlaß maßgebenden Verhältnisse nicht berührt worden, so daß eine Neufeststellung der Rente nach § 62 BVG nicht in Betracht kommt. Vielmehr will das Versorgungsamt die bindend gewordenen Bescheide deshalb durch einen neuen ersetzen, weil das Verfahren bis zu diesen Bescheiden aus ähnlichen Gründen wie bei der Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Gerichtsverfahrens fehlerhaft gewesen ist. Ähnlich wie bei der Wiederaufnahme des Verfahrens wird in solchen Fällen die bindende Wirkung beseitigt, also der Grundsatz der Rechtssicherheit durchbrochen. Dies kann nur in Ausnahmefällen und nur kraft gesetzlicher Ermächtigung geschehen. Demgemäß ist die Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens in der Zivilprozeßordnung und im Sozialgerichtsgesetz, die des Verwaltungsverfahrens - z. B. wegen wissentlich unwahrer Angaben - im Verwaltungsverfahrensgesetz (§ 42 und § 43 VerwVG) geregelt. Die Ähnlichkeit der beiden Regelungen wird noch dadurch unterstrichen, daß sowohl die Wiederaufnahmeklage als auch die Erteilung eines Anfechtungsbescheides nach Ablauf von fünf Jahren vom Tage der Rechtskraft der Entscheidung an grundsätzlich nicht mehr möglich ist. Der Gesetzgeber hat für das Verwaltungsverfahren dem Grundsatz der Rechtssicherheit Rechnung getragen und hat die Voraussetzung für die Erteilung eines Anfechtungsbescheides abschließend geregelt. Dies gilt insbesondere auch für die Pflicht der Verwaltung, innerhalb bestimmter Zeitspannen tätig zu werden, wenn sie die bindende Wirkung eines früheren Bescheides beseitigen will. Über diesen gesetzlich gezogenen Rahmen hinaus der Verwaltung noch ein allgemeines Leistungsverweigerungsrecht aus dem Grundsatz von Treu und Glauben zu gestatten, geht bei der grundsätzlichen Bedeutung der bindenden Wirkung und dem Vorrang der Rechtssicherheit nicht an (vgl. auch Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Allgemeiner Teil, 9. Aufl., § 9 S. 162 - 165). Aus diesen Gründen hat der Senat keine Möglichkeit gesehen, die angefochtenen Verwaltungsbescheide aus anderen als den in ihnen angegebenen Gründen aufrechtzuerhalten. Mithin hat er sie unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen - wie geschehen - aufgehoben, so daß es bei der Rentengewährung an den Kläger sein Bewenden haben muß.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1967, 1679

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