Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung während des Hochschulbesuchs. Ruhen des Anspruchs auf Alg. widerlegbare Vermutung der Nichtverfügbarkeit
Orientierungssatz
AFG § 118 Abs 2 ist verfassungskonform dahin auszulegen, daß er die gesetzliche Vermutung dafür aufstellt, daß ein ordentlich Studierender durch den damit verbundenen Besuch der Hochschule der Arbeitsvermittlung nach AFG § 103 nicht zur Verfügung steht, der einzelne Antragsteller jedoch berechtigt ist, diese Vermutung zu widerlegen, indem er die Tatsache seiner gleichwohl vorhandenen Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung darlegt und beweist. Maßstab der Verfügbarkeit sind die allgemeinen Grundsätze des AFG § 103, dh, dem arbeitslosen Studenten kann die Vermutung der Nichtverfügbarkeit aus AFG § 118 Abs 2 und damit das Ruhen seines Anspruchs auf Alg nicht entgegengehalten werden, wenn ihm der Nachweis gelingt, daß er für eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes von mehr als geringfügigem Umfange zur Verfügung steht (Festhaltung von BSG 1978-03-21 7 RAr 98/76 = BSGE 46, 89).
Normenkette
AFG § 103 Fassung: 1969-06-25, § 118 Abs. 2 Fassung: 1975-06-24
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 17.02.1978; Aktenzeichen L 1 Ar 81/77) |
SG Kiel (Entscheidung vom 18.08.1977; Aktenzeichen S 5 Ar 100/77) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 17. Februar 1978 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg).
Der 1946 geborene Kläger ist seit 1973 ordentlicher Studierender der Medizin. Er war vom 18. Februar bis 15.April 1974 und vom 22. Juli bis 14. Oktober 1974 als Hilfspfleger beim Städtischen Krankenhaus Bad R beschäftigt; dafür wurden Beiträge zur Arbeitslosenversicherung abgeführt. Vom 20. Oktober 1974 bis 10. Februar 1977 war der Kläger als Extrawache an den Universitätskliniken K tätig; er arbeitete dort monatlich im Durchschnitt weit mehr als 100 Stunden. Im Hinblick auf sein Studium wurden für dieses Beschäftigungsverhältnis bis Februar 1976 keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet, sondern erst ab März 1976.
Der Kläger meldete sich am 6. Januar 1977 arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg. Die in dem Antragsvordruck enthaltene Frage, ob er auf eine bestimmte Lage und Verteilung seiner Arbeitszeit angewiesen sei, bejahte er zunächst in der Weise, daß die Arbeitszeit sich auf die Tage von Donnerstag bis Sonnabend in der Zeit von jeweils 20.00 Uhr bis 7.00 Uhr verteilen müsse. In einem Schreiben vom 18. Februar 1977 an das Arbeitsamt führte er ergänzend aus, daß die von ihm genannte Arbeitszeit für ihn am günstigsten sei; er würde jedoch auch zu jeder anderen Zeit arbeiten.
Die Beklagte lehnte den Antrag zunächst mit Bescheid vom 7. März 1977 ab, weil der Kläger die Anwartschaftszeit nicht erfülle. In einem weiteren Bescheid vom 9. März 1977 hob die Beklagte den Bescheid vom 7. März 1977 wieder auf, lehnte den geltend gemachten Leistungsanspruch aber erneut ab, und zwar mit der Begründung, daß der Kläger als Student der Arbeitsvermittlung nicht zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zur Verfügung stehe. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. April 1977 zurück.
Durch Urteil vom 18. August 1977 hat das Sozialgericht (SG) Kiel die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß der Kläger als voll immatrikulierter Student der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe. Im übrigen ruhe sein Anspruch nach § 118 Abs 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG).
Durch Urteil vom 17. Februar 1978 hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Es könne offen bleiben, ob der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen für das Alg bzw die Arbeitslosenhilfe (Alhi) erfülle. Selbst wenn alle Leistungsvoraussetzungen vorliegen sollten, stehe seinem Anspruch die Regelung des § 118 Abs 2 AFG entgegen. Danach ruhe der Anspruch auf Alg während der Zeit, in welcher der Arbeitslose als ordentlicher Studierender eine Hochschule besucht; das gelte gemäß § 134 Abs 2 AFG auch für den Anspruch auf Alhi. Diese Ruhensregelung greife im Falle des Klägers ein. Er sei seit 1973 ordentlicher Studierender der Universität Kiel und besuche diese Hochschule. Dies bedürfe angesichts der durch die Studienbeschränkungen im Fach Medizin und das Erfordernis einer Zwischenprüfung (Physikum) geprägten Studienganges keiner weiteren Begründung. Das Studium erstrecke sich auch nicht nur auf das jeweilige Semester, sondern auch auf die der Nacharbeit und der Erholung dienenden Semesterferien. Als Folge des Ruhens brauche der Leistungsanspruch nicht erfüllt zu werden. Das LSG führt dann mit näherer Begründung aus, daß die Regelung des § 118 Abs 2 AFG keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Insbesondere seien weder Art 3 des Grundgesetzes (GG) noch Art 14 oder Art 20 GG verletzt. Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 118 Abs 2 AFG. Er führt dazu insbesondere aus: Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung ruhe zwar sein Anspruch auf Alg und Alhi. Die wortgetreue Anwendung des § 118 Abs 2 AFG verstoße jedoch gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG. Der § 118 Abs 2 AFG habe einmal die Absicht, Doppelleistungen zu vermeiden; zur Erfüllung dieser Absicht sei die Vorschrift aber denkbar ungeeignet. Um dieses Ziel zu erreichen, hätte es genügt, in die kasuistische Aufzählung des Abs 1 noch diejenigen Sozialleistungen aufzunehmen, die von dem in Abs 2 genannten Personenkreis typischerweise bezogen werden können. Dies seien insbesondere Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Damit wäre das ungerechte Ergebnis vermieden worden, daß praktisch jeder Student vom Leistungsbezug nach dem AFG ausgeschlossen worden ist. Die Tatsache, daß allenfalls die Hälfte aller Studierenden Leistungen nach dem BAföG bezögen, bedeute, daß jeder zweite Student von der Absicht des § 118 Abs 2 AFG zu Unrecht erfaßt werde. Diese Ungleichbehandlung werde noch dadurch verstärkt, daß der Hochschulbesuch trotz Anspruchshinderung einer Beitragspflicht sonst nicht entgegenstehe. Dadurch erweise sich das Anknüpfen an das Kriterium eines Hochschulbesuchs als völlig ungeeignet zur Erreichung des sich aus der systematischen Stellung der Vorschrift ergebenden gesetzgeberischen Ziels und provoziere aufgrund dieser mangelnden Eignung eine gleichheitssatzwidrige Ungleichbehandlung gleichgelagerter Sachverhalte.
Die Regelung des § 118 Abs 2 AFG sei noch weniger geeignet zur Verwirklichung der vom Gesetzgeber selbst erwähnten Absicht einer Klarstellung, daß Studenten während der Dauer ihres Studiums keine Leistungen der Arbeitslosenversicherung erhalten könnten, weil sie nicht verfügbar seien. Die Unterstellung einer solchen Zielsetzung enthalte einen grundlegenden gedanklichen Widerspruch. Fehle nämlich bei Studierenden schlechthin die Verfügbarkeit, hätte es der Bestimmung des § 118 Abs 2 AFG nicht bedurft, da dann ein Anspruch auf Alg oder Alhi ohnehin nicht mehr in Betracht käme. § 118 Abs 2 AFG setze den Bestand eines Anspruchs logisch sogar voraus. Hierauf habe schon das Bundessozialgericht (BSG) in der Entscheidung vom 21. Juli 1977 - 7 RAr 132/75 - hingewiesen. Infolgedessen sei der Gesetzgeber mit der Regelung des § 118 Abs 2 AFG über die in ihm enthaltene mögliche Zielsetzung weit hinausgeschossen und habe damit elementar gegen den Gleichheitssatz verstoßen. Diese Regelung sei somit ein grundlegender gesetzgeberischer Fehlgriff. Es erscheine deshalb angezeigt, den Rechtsstreit auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 118 Abs 2 AFG einzuholen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 18. August 1977 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. März 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 11. Februar 1977 Alg zu gewähren,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Zur Begründung beruft sie sich auf die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils. Ergänzend führt sie aus, daß es einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG bedürfe, sofern der erkennende Senat an seiner Entscheidung vom 21.März 1978 - 7 RAr 98/76 - festhalten wolle. Die Entscheidung des LSG enthalte nämlich weder Feststellungen zu § 104 AFG (Anwartschaft) noch zu § 103 AFG (Verfügbarkeit).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begründet.
Der Anspruch des Klägers auf Alg kann nach §§ 100 ff AFG begründet sein. Aus den Feststellungen des LSG ergibt sich zwar, daß der Kläger arbeitslos war und sich arbeitslos gemeldet hat (§§ 100, 101, 102, 105 AFG), nicht jedoch, ob er die Anwartschaftszeit nach § 104 AFG erfüllt und ob er der Arbeitsvermittlung iS des § 103 AFG zur Verfügung gestanden hat. Entgegen der Auffassung des LSG kann es hierauf ankommen, denn die bisherigen Feststellungen des LSG rechtfertigen ebenfalls nicht dessen Annahme, der Anspruch des Klägers auf Alg - sollte er bestehen - habe nach Maßgabe des § 118 Abs 2 AFG idF des Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur im Geltungsbereich des Arbeitsförderungs- und des Bundesversorgungsgesetzes (HStruktG-AFG) vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113) geruht.
Nach § 118 Abs 2 AFG in der genannten Fassung ruht der Anspruch auf Alg während der Zeit, in welcher der Arbeitslose als ordentlicher Studierender eine Hochschule ... besucht. Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß es für die Anwendung dieser Vorschrift darauf ankommt, daß der Kläger die Hochschule in der Zeit, für die er Alg begehrt, tatsächlich besucht hat (vgl BSGE 46, 89 = SozR 4100 § 118 Nr 5). Zu Unrecht hat das LSG aus der von ihr getroffenen Feststellung dieses "Besuchs" jedoch ohne weiteres das Ruhen des Alg-Anspruchs nach § 118 Abs 2 AFG gefolgert.
Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, bestehen gegen eine derartige Anwendung des § 118 Abs 2 AFG erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Sie hätte nämlich zur Folge, daß ein allein nach seinem Status als ordentlicher Studierender gekennzeichneter erheblicher Personenkreis vom Zugang zur Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen wird, selbst wenn der Einzelne sämtliche sonst vom Gesetz geforderten Anspruchsvoraussetzungen erfüllt (BSGE 46, 89 = SozR 4100 § 118 Nr 5; Urteil vom 10. Oktober 1978 - 7 RAr 6/78 -). Der Senat hat deshalb, seiner Pflicht zur verfassungskonformen Auslegung des Gesetzes folgend, die Regelung des § 118 Abs 2 AFG inhaltlich dahin verstanden, daß sie die gesetzliche Vermutung dafür aufstellt, daß ein ordentlich Studierender durch den damit verbundenen Besuch der Hochschule der Arbeitsvermittlung nach § 103 AFG nicht zur Verfügung steht, der einzelne Antragsteller jedoch berechtigt ist, diese Vermutung zu widerlegen, indem er die Tatsache seiner gleichwohl vorhandenen Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung darlegt und beweist (BSG aaO). Maßstab der Verfügbarkeit sind die allgemeinen Grundsätze des § 103 AFG, dh, dem arbeitslosen Studenten kann die Vermutung der Nichtverfügbarkeit aus § 118 Abs 2 AFG und damit das Ruhen seines Anspruchs auf Alg nicht entgegengehalten werden, wenn ihm der Nachweis gelingt, daß er für eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes von mehr als geringfügigem Umfange zur Verfügung steht. An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch im vorliegenden Falle fest.
Das LSG hat - von seinem Standpunkt aus zutreffend - weder zur Frage der Verfügbarkeit des Klägers in diesem Sinne noch zu der Frage, ob er die Anwartschaftszeit erfüllt, die für eine abschließende Entscheidung erforderlichen Feststellungen getroffen. Es wird dies nachzuholen haben. Die Sache ist deshalb zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen