Leitsatz (redaktionell)
Unterbleibt die in SGG § 112 Abs 1 vorgeschriebene Darstellung des Sachverhalts, so stellt das einen wesentlichen Verfahrensmangel iS der SGG §§ 150 Nr 2, 162 Abs 1 Nr 2 dar.
Orientierungssatz
Das Unterbleiben der Darstellung des Sachverhalts in der mündlichen Verhandlung ist ein wesentlicher Mangel des Verfahrens.
Normenkette
SGG § 112 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 3. Dezember 1964 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger begehrt Einkommensausgleich gemäß § 17 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Das Versorgungsamt lehnte den Antrag ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) hat die zugelassene Berufung durch Urteil vom 3. Dezember 1964 als unbegründet zurückgewiesen, ohne die Revision zuzulassen. In der Niederschrift über die Sitzung des LSG ist der Vordruck über die Darstellung des Sachverhalts durchstrichen; in ihr ist zuerst vermerkt, daß und mit welchem Ergebnis der Beigeladene B befragt worden ist, und daß dann der Kläger und der Vertreter des Beklagten das Wort erhalten und Anträge zur Sache gestellt haben.
Der Kläger hat gegen das ihm am 28. Dezember 1964 zugestellte Urteil des LSG mit Schriftsatz vom 13. Januar 1965, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 14. Januar 1965, Revision eingelegt und sie gleichzeitig begründet. Er beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Berufungsgerichts vom 3. Dezember 1964 zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht zurückzuverweisen,
und die Kostenentscheidung dem abschließenden Urteil vorzubehalten.
In der Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, rügt der Kläger als wesentliche Verfahrensmängel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Verstöße gegen die §§ 103, 106 und 128 SGG, vor allem aber gegen § 112 Abs. 1 SGG. Er meint, diese Vorschrift habe das LSG dadurch verletzt, daß es ohne vorherige Darstellung des Sachverhalts durch den Berichterstatter in eine Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses eingetreten sei. Als Beweis dafür diene das Protokoll über die mündliche Verhandlung des LSG vom 3. Dezember 1964, in dem die Worte "Nach Darstellung des Sachverhalts durch den Berichterstatter erhielten ..." gestrichen sind.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie als unbegründet zurückzuweisen.
Er erklärt, er könne zu der vom Kläger gerügten Verletzung des § 112 Abs. 1 SGG ohne Einsicht in das Protokoll nicht Stellung nehmen und stelle anheim, die angebotenen Beweise zu erheben.
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Da das LSG die Revision nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen und auch nicht über die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs unter Anwendung der Kausalitätsnorm im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG zu entscheiden gehabt hat, ist die Revision nur statthaft, wenn mit Erfolg ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Der Kläger hat als wesentliche Verfahrensmängel Verstöße gegen verschiedene Vorschriften des SGG gerügt. Für die Statthaftigkeit der Revision genügt es, wenn eine dieser Verfahrensrügen durchgreift; auf weitere Verfahrensrügen braucht dann nicht mehr eingegangen zu werden (vgl. BSG in SozR SGG § 162 Nr. 122). Der Kläger rügt vornehmlich, daß in der Sitzung des LSG vom 3. Dezember 1964 die Darstellung des Sachverhalts durch den Berichterstatter unterblieben und dadurch § 112 Abs. 1 SGG verletzt sei, was einen wesentlichen Verfahrensmangel bedeute. Diese Rüge ist auch gerechtfertigt.
Nach § 112 Abs. 1 SGG eröffnet und leitet der Vorsitzende die mündliche Verhandlung. Sie beginnt nach Aufruf der Sache mit der Darstellung des Sachverhalts. Diese Vorschrift ist vom LSG in der Sitzung vom 3. Dezember 1964 nicht beachtet worden. Ausweislich der Sitzungsniederschrift, gegen deren Richtigkeit und Vollständigkeit keine Einwendungen erhoben worden sind, sind in dem dafür verwendeten Formblatt die vorgedruckten Worte "Nach Darstellung des Sachverhalts durch den Berichterstatter erhielten ..." handschriftlich gestrichen worden. Der im Formblatt auf die gestrichenen Worte folgende Text ist dann handschriftlich geändert und durch Einfügung des Wortes "erhielten" ergänzt worden. In dieser Hinsicht enthält die Niederschrift nunmehr nur noch folgenden Wortlaut: "Die Beteiligten erhielten das Wort. Das Sach- und Streitverhältnis wurde mit ihnen erörtert." Darauf folgen die Sachanträge und schließlich die Feststellung über den Schluß der mündlichen Verhandlung durch den Vorsitzenden. Dieser Ablauf des Verfahrens verstößt gegen § 112 Abs. 1 SGG und begründet einen wesentlichen Verfahrensmangel. Die Darstellung des Sachverhalts ist das Kernstück und ein wesentlicher Bestandteil der mündlichen Verhandlung (vgl. Teutsch, KOV 1954, 83). Sie bildet die Grundlage und ergibt zusammen mit den sich anschließenden Erklärungen der Beteiligten und den Erörterungen mit dem Gericht überhaupt erst die mündliche Verhandlung, deren Zweck es ist, durch umfassende Klärung und Erörterung des Streitstoffes die Voraussetzungen einer einwandfreien Urteilsfindung zu schaffen. Die Darstellung des Sachverhalts soll einerseits die Unterrichtung der Beteiligten über die für die Beurteilung bedeutsamen Umstände und damit die Erörterung des Streitstoffes in dem für die Entscheidung erheblichen Umfang sicherstellen sowie den Beteiligten Gelegenheit bieten, die in dieser Hinsicht wesentlichen Tatsachen zu erkennen und, soweit erforderlich, zu ergänzen oder richtigzustellen. Sie soll andererseits die Richter - die mit der Sache bisher nicht unmittelbar befaßten Berufsrichter ebenso wie die ehrenamtlichen Beisitzer - mit dem Gegenstand des Rechtsstreits und der Verhandlung so vollständig vertraut machen, daß sie wissen, worauf es bei der dann zu treffenden Entscheidung ankommt, und daß sie der Verhandlung folgen sowie unter Umständen auch Fragen stellen können (§ 112 Abs. 4 SGG), um damit in der Lage zu sein, den geltend gemachten Anspruch auch sachgerecht beurteilen zu können. Dies ist vor allem den ehrenamtlichen Beisitzern aber nicht möglich, wenn sie die für die Entscheidung wesentliche Umstände erst während der Beratung erfahren. Unterbleibt die im Gesetz vorgeschriebene Darstellung des Sachverhalts, so fehlt eine wesentliche Voraussetzung für eine verfahrensrechtlich einwandfreie mündliche Verhandlung. Eine so unvollständige Verhandlung kann nicht als ordnungsmäßige Grundlage der zu treffenden Entscheidung betrachtet werden, zumal das Gericht sich seine Überzeugung unmittelbar aus der mündlichen Verhandlung bilden soll. Die Vorschrift des § 112 Abs. 1 SGG enthält eine aus rechtsstaatlichen Gründen im öffentlichen Interesse zwingend gebotene Regelung. Deren Nichtbeachtung durch Unterlassung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Darstellung des Sachverhalts begründet einen wesentlichen Verfahrensmangel.
Die Rüge des Klägers ist daher gerechtfertigt und seine Revision schon aus diesem Grunde statthaft gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, ohne daß auf die weiter geltend gemachten Verfahrensrügen eingegangen zu werden braucht. Die sonach zulässige Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf dem gerügten wesentlichen Verfahrensmangel. Es ist möglich, daß das LSG bei einer verfahrensrechtlich einwandfrei durchgeführten Verhandlung eine andere Entscheidung getroffen hätte. Das Urteil des LSG mußte daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben werden. Gleichzeitig war die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dem Senat erschien dies tunlich zur Herbeiführung einer verfahrensrechtlich einwandfreien Verhandlung durch das LSG.
Fundstellen