Entscheidungsstichwort (Thema)
Zweck des Begründungszwangs. Schriftsatz nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist
Leitsatz (amtlich)
Die Bezugnahme auf die Nichtzulassungsbeschwerde reicht für die Revisionsbegründung dann nicht aus, wenn mit der Beschwerde mehrere Zulassungsgründe geltend gemacht worden waren und die Revisionsbegründung nicht erkennen läßt, auf welchen dieser Gründe die Revision gestützt werden soll (Anschluß an BVerwG 6.12.1984 9 C 41/84 = NJW 1985, 1235).
Orientierungssatz
1. Zur Frage der Voraussetzungen und des Zwecks des Revisionsbegründungszwanges.
2. Zur Begründung eines Wiedereinsetzungsantrags bei Versäumung der Revisionsbegründungsfrist reicht es nicht aus, wenn der Prozeßbevollmächtigte geltend macht, er habe erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist neue Erkenntnisse erhalten.
Normenkette
SGG § 164 Abs 2 S 1, § 164 Abs 2 S 3, §§ 166, 160 Abs 2 Nr 1, § 160 Abs 2 Nr 3, § 67
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 02.07.1985; Aktenzeichen L 3 Kg 8/85) |
SG Osnabrück (Entscheidung vom 15.01.1985; Aktenzeichen S 6 Kg 19/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte dem Kläger Kindergeld unter Berücksichtigung von zwei Pflegekindern zu gewähren hat.
Der Kläger ist Polizeimeister im Dienste des beklagten Landes. Für seine beiden Kinder Sabine (S.) und Birgit (B.), die aus seiner geschiedenen Ehe stammen und in seinem Haushalt leben, bezog er fortlaufend Kindergeld. Im April 1983 zeigte er bei dem Beklagten an, daß seine Verlobte, Frau W. B., mit ihren ehelichen Kindern Nicole (N.) und Simone (Si.) zu ihm in den Haushalt gezogen sei. Seinen Antrag, ihm unter Berücksichtigung dieser beiden Kinder als Pflegekinder Kindergeld zu gewähren, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 16. Juni 1983 ab. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. Mai 1983 unter Berücksichtigung der Kinder N. und Si. als Pflegekinder Kindergeld zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Es hat zur Begründung ua ausgeführt, die Kinder N. und Si. seien nach § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 6 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) als Pflegekinder des Klägers anzusehen. Er habe sie auch in seinen Haushalt aufgenommen, so daß sie bei der Kindergeldgewährung entsprechend berücksichtigt werden müßten.
Zur Begründung der - vom Senat zugelassenen - Revision nimmt der Beklagte Bezug auf seine Begründungen des Antrages auf Klageabweisung in den Vorinstanzen sowie auf den Schriftsatz vom 16. August 1985, mit dem er die Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und begründet hat, und führt aus, daß dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zukomme.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 2. Juli 1985 und das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 15. Januar 1985 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Der Kläger beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig. Sie entspricht nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form (§ 164 Abs 2 Sätze 1 und 3 SGG). Der Beklagte hat die Revision nicht ordnungsgemäß begründet.
1. Die Bezugnahme auf das Vorbringen in den Vorinstanzen genügt in keinem Falle den Anforderungen an eine Revisionsbegründung (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 30. Juni 1964 - 3 RK 38/60 - SozR § 164 Nr 53). Die Pflicht zur schriftlichen Begründung des Rechtsmittels soll eine sorgfältige Vorbereitung des Revisionsverfahrens gewährleisten. Diesem Zweck dient auch der Vertretungszwang vor dem BSG (§ 166 SGG; vgl Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 2. Aufl, § 166 Anm 1). Der Prozeßbevollmächtigte des Revisionsklägers hat - für das Revisionsgericht objektiv erkennbar - den Streitstoff zu sichten und die im Revisionsverfahren noch entscheidungserheblichen Gesichtspunkte herauszuarbeiten. Das Gesetz geht davon aus, daß die Partei dadurch gezwungen ist, die Rechtslage gewissenhaft zu prüfen und - im Interesse der Entlastung des Revisionsgerichts - uU von einer aussichtslosen Revision abzusehen oder das Ausmaß der revisionsgerichtlichen Prüfung zu beschränken. Aus der Bezugnahme auf das Vorbringen in den Vorinstanzen läßt sich nicht erkennen, ob die Partei zur Vorbereitung des Revisionsverfahrens den Prozeßstoff in diesem Sinne gesichtet hat.
2. Zwar hat der Beklagte in seinem Schriftsatz vom 11. Dezember 1985 zusätzlich auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Bezug genommen. Dies macht die Revision im vorliegenden Falle aber auch nicht statthaft.
Soweit es um die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts geht, ist die Verweisung auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde an sich zulässig (BSG, Urteile vom 24. August 1976 - 8 RU 152/75 - und vom 27. August 1976 - 5 RJ 70/76 - SozR 1500 § 164 Nr 3 und 4 sowie Urteil vom 28. Juni 1984 - 2 RU 63/83 - SGb 1985, 292, 293; BVerwGE 21, 286, 288). Hat sich nämlich der Revisionskläger in einer dem Revisionsverfahren vorausgehenden Nichtzulassungsbeschwerde mit dem angefochtenen Urteil gründlich auseinandergesetzt, so würde ihn das Verbot der Verweisung auf die Schriftsätze im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde in der Regel zu einer bloßen Wiederholung des bereits Vorgetragenen und damit zur Einhaltung leerer Förmlichkeiten zwingen (BSG, Urteil vom 27. August 1976, aa0). Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Die vollinhaltliche Bezugnahme auf die Schriftsätze zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ist dann nicht ausreichend, wenn mit der Beschwerde mehrere Zulassungsgründe geltend gemacht worden sind. In einem solchen Falle muß sich aus der Revisionsschrift eindeutig ergeben, welche der Zulassungsgründe nunmehr als Gründe zur Stützung der Revision dienen sollen (so BVerwG, Beschluß vom 6. Dezember 1984 - 9 C 41/84 - NJW 1985, 1235 zu den mit § 164 Abs 2 Satz 1 und Satz 3 SGG inhaltlich - im wesentlichen - übereinstimmenden Vorschriften des § 139 Abs 1 Satz 1 2. Halbsatz und Abs 2 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-). Dies folgt zwangsläufig aus dem Sinn und Zweck der Vorschriften des § 164 Abs 2 SGG. Um dem Revisionsgericht unnötige Arbeit zu ersparen, darf der Umfang der gewünschten Überprüfung des angefochtenen Urteils nicht unklar bleiben.
Ein solcher Ausnahmefall, in dem die Bezugnahme auf die Schrift zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde nicht genügt, liegt hier vor. Der Beklagte hatte im Beschwerdeverfahren als Zulassungsgründe sowohl die grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG als auch Verfahrensmängel gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend gemacht. Wenn er nunmehr in der Revisionsschrift vom 11. Dezember 1985 lediglich ausführt, daß dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung zukomme, und im übrigen ohne Einschränkung auf seine Begründung in der Beschwerdeschrift vom 16. August 1985 Bezug nimmt, wird nicht deutlich, auf welche Gründe sich die Revision stützt, zumal in der Revisionsschrift - entgegen § 164 Abs 2 Satz 3 SGG - nicht einmal die verletzten Rechtsnormen angegeben sind und die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache keinen Revisionsgrund darstellt.
Zwar könnte aus den Ausführungen des Beklagten in seinem weiteren Schriftsatz vom 10. Februar 1986 geschlossen werden, daß er nur die Verletzung materiellen Rechts rügen will. Dieser Schriftsatz kann aber schon deshalb nicht berücksichtigt werden, weil er nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist beim BSG eingegangen ist (vgl hierzu BFH, Beschluß vom 25. Oktober 1985 - III R 181/82; Redeker/von Oertzen, VwGO, Kommentar, 8. Aufl, § 139 Anm 7). Der Beschluß über die Zulassung der Revision ist dem Beklagten am 6. Dezember 1985 zugestellt worden. Die Zwei-Monats-Frist des § 164 Abs 2 Satz 1 SGG, in der die Revision nach Zustellung des Beschlusses zu begründen war, lief somit am 6. Februar 1986 ab. Die weitere Revisionsbegründung des Beklagten hat das BSG - ausweislich des Eingangsstempels auf dem Schriftsatz vom 10. Februar 1986 - aber erst am 18. Februar 1986 erreicht.
3. Der von dem beklagten Land gestellte Hilfsantrag hat keinen Erfolg. Nach § 67 Abs 1 SGG wäre dem Antrag nur zu entsprechen, wenn der Beklagte ohne Verschulden verhindert gewesen wäre, die Begründungsfrist einzuhalten. Das ist aber nicht der Fall. Soweit der Beklagte zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags geltend macht, er habe erst durch das Schreiben des Berichterstatters vom 8. April 1986 von dem genannten Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts Kenntnis erhalten, genügt dies nicht zur Annahme eines Wiedereinsetzungsgrundes. Daraus wird nämlich nicht erkennbar, welcher Umstand ihn gehindert hat, innerhalb der Revisionsbegründungsfrist das Rechtsmittel ordnungsgemäß zu begründen. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG konnte der Beklagte sich jedenfalls nicht darauf verlassen, daß es ausreicht, auf das Vorbringen zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ohne genaue Bezeichnung der Revisionsgründe Bezug zu nehmen, wenn - wie hier - im Beschwerdeverfahren mehrere Zulassungsgründe vorgebracht worden waren. Denn die Rechtsprechung hat eine Bezugnahme bisher nur als zulässig angesehen, soweit der Revisionskläger den Verstoß gegen materielles Recht rügt. Im Beschluß des 8. Senats des BSG vom 24. August 1976 (aa0) ist darüber hinaus ausdrücklich hervorgehoben worden, daß bei der Rüge von Verfahrensfehlern eine solche Bezugnahme nicht ausreicht.
Die danach nicht der gesetzlichen Form entsprechende Revision war gemäß § 169 Satz 2 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen