Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschädigtenrente. besonderes berufliches Betroffensein. Beweisantrag zum Umfang der Schädigungsfolge und der dadurch bedingten MdE. Amtsermittlungspflicht
Orientierungssatz
1. Zur Feststellung einer Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung durch das LSG, wenn es im Rahmen der ihm obliegenden Aufklärungspflicht nicht festgestellt hat, ob die vom Kläger geltend gemachten Schmerzen auf der Vorderseite des linken Oberschenkels tatsächlich auf die als Schädigungsfolgen anerkannten Granatsplitterverletzungen zurückzuführen, mit welcher Einzel-MdE sie ggf zu bewerten sind und ob sich daraus ein rentenberechtigter Grad der MdE ergibt.
2. Die fehlende Benachrichtigung eines Beteiligten von der Ladung eines medizinischen Sachverständigen ist ein Verfahrensmangel; dieser wird aber geheilt, wenn der im mündlichen Termin anwesende Beteiligte der Beweisaufnahme nicht widerspricht (vgl BSG vom 23.8.1960 - 9 RV 1042/57).
3. Die Forderung der Rechtsprechung nach einer Einbuße von mindestens 20 vH als Voraussetzung für die Annahme eines erheblichen wirtschaftlichen Nachteils als Ausdruck einer besonderen Berufsbetroffenheit gilt nicht bei niedrigeren Einkommen, weil dann auch erheblich näher beieinander liegende Vergleichsbeträge nicht mehr als im wesentlichen gleichwertig angesehen werden können (vgl BSG vom 19.2.1969 - 10 RV 561/66 = BSGE 29, 139 = SozR Nr 37 zu § 30 BVG).
Normenkette
BVG § 30 Abs. 2; SGG §§ 62, 103, 111 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der 1921 geborene Kläger wurde als Soldat im Zweiten Weltkrieg verwundet. Auf den nach Wiederherstellung der Deutschen Einheit gestellten Versorgungsantrag erkannte der Beklagte einen großen "Narbenbruch der Bauchdecke nach Bauchschußverletzung, Granatsplitterverletzung linker Unterarm ohne Funktionseinschränkung" und "reaktionslos eingeheilter Granatsplitter linker Oberschenkel in Knienähe" als Schädigungsfolgen an; die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) erreicht nach den Bescheiden vom 24. März und 5. August 1992 nicht den rentenberechtigenden Grad von 25 vH. Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 1993; Urteile des Sozialgerichts vom 31. Mai 1995 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 10. Dezember 1996).
Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Die Schädigungsfolgen seien mit einer MdE unter 25 vH zutreffend eingeschätzt. Ein höherer Grad ergebe sich auch nicht aus einer besonderen beruflichen Betroffenheit iS des § 30 Abs 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Denn etwaige schädigungsbedingte Rentenminderungen führten jedenfalls zu keiner erheblichen wirtschaftlichen Einbuße für den Kläger.
Mit der- vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Grundgesetz ≪GG≫; § 62 SGG).
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Urteile des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 10. Dezember 1996 und des Sozialgerichts Schwerin vom 31. Mai 1995 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung der Bescheide vom 24. März 1992, 5. August 1992, 12. Januar 1993 und 22. August 1995 zu verurteilen, dem Kläger unter Berücksichtigung besonderer beruflicher Betroffenheit ab 1. Januar 1991 Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 vH zu gewähren.
Der Beklagte stellt keinen Antrag. Er hält das angegriffene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Der Kläger rügt zu Recht, das LSG habe seine Pflicht zur Sachaufklärung (§ 103 SGG) verletzt. Es ist nicht weiter der Frage nachgegangen, ob die als Schädigungsfolgen anerkannten Granatsplitterverletzungen- wie der Kläger behauptet - ständig Schmerzen verursachen. Das Berufungsgericht hat zwar den Sachverständigen Prof. Dr. H. danach gefragt, ob weitere fachärztliche Untersuchungen ... zur Beurteilung der geltend gemachten Einschränkung wegen Beschwerden durch Granatsplitter aus der Sicht des Gutachters erforderlich seien. Der Sachverständige hat dies mit der Begründung verneint: Die Schmerzen auf der Vorderseite des linken Oberschenkels seien mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Hüfte (Coxarthrose) fortgeleitet. Das LSG hätte sich hiermit aber nicht zufriedengeben dürfen. Im Rahmen der ihm obliegenden Aufklärungspflicht war es vielmehr verpflichtet, den Sachverhalt- soweit wie möglich - weiter aufzuklären und insbesondere festzustellen, ob die vom Kläger als Folge der Granatsplitterverletzung geltend gemachten Schmerzen auf der Vorderseite des linken Oberschenkels tatsächlich auf diese Kriegsverletzung zurückzuführen, mit welcher Einzel-MdE sie ggf zu bewerten sind und ob sich daraus ein rentenberechtigender Grad der MdE ergibt. Näheren Aufschluß darüber, ob die behaupteten Schmerzen von dem schädigungsfremden Hüftleiden fortgeleitet sind oder von den anerkannten Schädigungsfolgen ausgehen, hätte nur ein- vom Kläger beantragtes - neurologisches Gutachten bringen können.
Außer dem Grad der "medizinischen" MdE wird das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch zu überprüfen haben, ob dieser MdE-Grad wegen etwaiger besonderer beruflicher Betroffenheit zu erhöhen ist. Das LSG hat seine Feststellungen zu diesem Punkt zwar verfahrensfehlerfrei getroffen. Es durfte dabei insbesondere die Aussage der Zeugin G. in der mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember 1996 verwerten. Die dagegen gerichtete Verfahrensrüge des Klägers, er sei in der Ladung zum genannten Termin unter Verstoß gegen § 111 Abs 2 SGG auf die beabsichtigte Zeugenvernehmung nicht hingewiesen worden, greift nicht durch. Denn der Senat hat mit Urteil vom 23. August 1960- 9 RV 1042/57 - bereits entschieden, daß die fehlende Benachrichtigung eines Beteiligten von der Ladung eines medizinischen Sachverständigen wohl ein Verfahrensmangel ist, dieser aber geheilt wird, wenn der im mündlichen Termin anwesende Beteiligte- wie hier - der Beweisaufnahme nicht widerspricht (insoweit nicht abgedruckt in SozR Nr 13 zu § 106 SGG, vgl Breith 1961, 89, 90).
Das LSG hat aber zu Unrecht offengelassen, wie hoch der schädigungsbedingte Minderverdienst des Klägers während seines Berufslebens und daraus folgend die Rentenminderung gewesen ist. Es hat unter Berufung auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (SozR 3100 § 30 Nr 37 ≪richtig: Nr 36≫) gemeint, eine für die Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs 2 BVG erforderliche erhebliche wirtschaftliche Einbuße liege erst bei einer Differenz von 20 % zwischen tatsächlich erzieltem und ohne die Schädigung erreichtem Alterseinkommen vor und so hoch seien die schädigungsbedingten Einbußen des Klägers jedenfalls nicht. Das LSG hat verkannt, daß die Forderung der Rechtsprechung nach einer Mindesteinbuße von 20 % bei niedrigeren Einkommen nicht gilt, weil dann auch erheblich näher beieinander liegende Vergleichsbeträge nicht mehr als im wesentlichen gleichwertig angesehen werden können (BSGE 29, 139, 142, 143 ff = SozR Nr 37 zu § 30 BVG; Förster in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, § 30 BVG Rz 30). Es liegt nahe, daß das Alterseinkommen des Klägers, eines einfachen Arbeiters, als "geringeres Einkommen" iS der zitierten Rechtsprechung anzusehen ist und deshalb schon eine Differenz von weniger als 20 % eine erhebliche Einbuße darstellt. Die Höhe der Differenz wird deshalb vom LSG zu ermitteln sein.
Das LSG wird auch über die Erstattung von Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen