Leitsatz (amtlich)
1. Betreibt eine ersatzberechtigte Gemeinde als Sozialhilfeträgerin bei der Krankenkasse, bei der ein von ihr unterstützter Hilfsbedürftiger versichert ist, die Feststellung von Leistungen an diesen (RVO § 1538), so stellt der das Verwaltungsverfahren abschließende Bescheid der Krankenkasse einen Verwaltungsakt dar.
2. In der Klage ist hilfsweise die Erhebung des Widerspruchs jedenfalls dann enthalten, wenn es ernstlich zweifelhaft ist, ob vor Erhebung der Klage ein Vorverfahren durchzuführen ist.
Es stellt einen Verfahrensmangel dar, wenn das Gericht die Klage als unzulässig abweist, ohne den Beteiligten Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen (Anschluß an BSG 1964-02-18 11/1 RA 90/61 = BSGE 20, 199).
Leitsatz (redaktionell)
1. Ablehnung von Krankenhauspflege wegen Trunkenheit am Steuer und Ersatzanspruch des Fürsorgeträgers.
2. Stützt der Sozialhilfeträger seine Klage gegen einen ablehnenden Bescheid der KK auf RVO § 1538, so macht er nicht den Ersatzanspruch nach RVO §§ 1531 ff, sondern den Leistungsanspruch des Versicherten geltend.
Normenkette
RVO § 1538 Fassung: 1925-07-14; SGG § 78 Fassung: 1958-08-23; RVO § 1531
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. Juli 1962 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Beigeladene Arthur M. ist Pflichtmitglied der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK). Am 13. Juli 1958 erlitt er mit seinem Motorroller einen Verkehrsunfall. Wegen der Folgen dieses Unfalls befand er sich vom 13. Juli bis 19. September 1958 in Krankenhauspflege. Die Kosten in Höhe von 1054 DM übernahm zunächst der klagende Sozialhilfeträger.
Mit Schreiben vom 18. November 1958 bat der klagende Sozialhilfeträger die beklagte AOK, die Kosten der Krankenhauspflege zu übernehmen, da er für die Ablehnung der Krankenhauspflege keinen Grund sehe. Die AOK lehnte die Kostenübernahme mit Schreiben vom 24. November 1958 bis zur endgültigen Sachaufklärung ab. Es bestehe der Verdacht, daß M. bei dem Unfall unter Alkoholeinfluß gestanden habe.
Durch Urteil des Amtsgerichts Lauf/Pegnitz vom 3. Dezember 1958 wurde der Beigeladene M. wegen fahrlässiger Verkehrsgefährdung, Führung eines Kraftfahrzeugs ohne Führerschein und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Gefängnisstrafe von vier Wochen (mit Bewährungsfrist) verurteilt. Daraufhin erklärte sich die beklagte AOK gegenüber dem Städtischen Krankenhaus Nürnberg zur Übernahme der Kosten für den Unterhalt im Krankenhaus in Höhe des halben Grundlohns (66 x 4,92 = 334,56 DM) bereit; die Übernahme der weiteren Kosten lehnte sie ab (Schreiben vom 22. April 1959). Der Kläger erhielt eine Abschrift dieses Schreibens.
Der Sozialhilfeträger erhob daraufhin vor dem Sozialgericht (SG) Klage mit dem Antrage, die beklagte AOK zu verurteilen, dem Beigeladenen M. für die Zeit vom 14. Juli bis 19. September 1958 Krankenhauspflege zu gewähren. Da M. am 11. August 1959 wegen einer mit dem Unfall in Zusammenhang stehenden fistelnden Oberschenkelfraktur erneut zur stationären Behandlung in das Städtische Krankenhaus Nürnberg kam, erweiterte der klagende Sozialhilfeträger seinen Klageantrag dahingehend, daß die beklagte AOK dem Beigeladenen M. auch für die Zeit vom 11. August 1959 bis zur Aussteuerung am 21. September 1959 Krankenhauspflege zu gewähren habe. Er ist bei seiner auf § 1538 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützten Klage der Auffassung, die Ablehnung der Krankenhauspflege durch die AOK sei ermessens- und somit rechtswidrig. An der medizinischen Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung könne wegen der erheblichen Verletzungen des Versicherten nicht gezweifelt werden. Das Selbstverschulden des Versicherten an dem Unfall dürfe nicht berücksichtigt werden.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 14. Juni 1960 abgewiesen.
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Sozialhilfeträgers zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 11. Juli 1962). Es hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger begehre die Verpflichtung der beklagten AOK zur Gewährung von wiederkehrenden Leistungen (Krankenhauspflege), und zwar unter Aufhebung ihres gegenüber dem Kläger erteilten Ablehnungsbescheides. Der Kläger habe seine Klage ausdrücklich auf § 1538 RVO gestützt. Dabei sei unter Feststellung der Leistungen aus der Reichsversicherung i. S. des § 1538 RVO die Feststellung durch den Versicherungsträger nach den §§ 1545 ff RVO zu verstehen. Dieses den ersatzberechtigten Gemeinden eingeräumte Recht entspringe dem Verhältnis des Versicherten zum Versicherungsträger. Nun sei zwar für die Feststellung der Leistungen aus der Krankenversicherung in den §§ 1545 ff RVO kein formeller Bescheid vorgesehen, vielmehr in dem aufgehobenen § 1636 RVO bestimmt, daß bei Streit über die Leistungen aus der Krankenversicherung auf Antrag in erster Instanz das Versicherungsamt entscheide. Das bedeute indessen in Anpassung an die Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nur, daß nach der Ablehnung der Versicherungsleistungen durch die Krankenkasse der Versicherte und gemäß § 1538 RVO der die Feststellung der Leistung betreibende Fürsorgeträger gegen den ablehnenden Verwaltungsakt die Anfechtungsklage zum Sozialgericht erheben könne.
Der Kläger habe nicht erst mit seiner Klage zum SG, sondern bereits mit seinem Schreiben vom 18. November 1958 die beklage AOK ersucht, dem Versicherten M. Krankenhauspflege für die Zeit vom 14. Juli bis 19. September 1958 zu gewähren. Er habe zu dieser Zeit die Krankenhauskosten auf Grund der fürsorgerechtlichen Vorschriften bereits übernommen, sei also ersatzberechtigt gewesen. Sein Schreiben sei daher als Antrag auf Feststellung der Leistungen aus der Reichsversicherung i. S. des § 1538 RVO anzusehen gewesen. Eine Ersatzanzeige verlange diese Vorschrift nicht. Der Antrag sei durch die Übersendung einer Abschrift des Bescheides der beklagten AOK vom 22. April 1959 gegenüber dem Städtischen Krankenhaus Nürnberg, wonach die streitigen Krankenhauskosten nicht übernommen werden könnten, abgelehnt worden.
Die gegen den ablehnenden Bescheid der beklagten AOK erhobene Klage sei jedoch unzulässig, weil ihr das gesetzliche Vorverfahren nicht vorausgegangen sei (§§ 78, 80 Nr. 1 SGG). Das Vorverfahren sei nicht deshalb entbehrlich, weil beide Parteien öffentlich-rechtliche Körperschaften seien. Der Kläger betreibe das ihm kraft Gesetzes eingeräumte Recht auf Feststellung der Versicherungsleistungen, das seine Grundlage in dem Verhältnis des Versicherten zur Krankenkasse habe. Dies setze ein Verwaltungsverfahren voraus. Das Fehlen des gesetzlich vorgeschriebenen Vorverfahrens sei von Amts wegen zu beachten und mache die Klage unzulässig. Die beklagte AOK würde indessen zu prüfen haben, ob sie die Klage als Widerspruch gegen ihren ablehnenden Bescheid zu behandeln und zu verbescheiden habe.
Der klagende Sozialhilfeträger hat hiergegen Revision eingelegt mit dem Antrage,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die beklagte AOK zu verpflichten, dem Beigeladenen M. Krankenhauspflege für die Zeit vom 14. Juli bis 19. September 1958 und vom 11. August bis 21. September 1959 zu gewähren.
Der Kläger ist der Auffassung, die Durchführung eines Vorverfahrens sei nicht möglich, da in einem Vorverfahren nur Verwaltungsakte nachzuprüfen seien und es sich hier um zwei gleichgeordnete Körperschaften des öffentlichen Rechts handele. Da der Versicherte selbst, nachdem er die Sachleistung vom Fürsorgeträger erhalten habe, seinen Anspruch nicht mehr verfolgen könne, könne auch der Sozialhilfeträger nicht auf den Weg verwiesen werden, der dem Versicherten selbst zur Verfügung stehe. Auch habe das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) wiederholt entschieden, daß das Vorverfahren dann entbehrlich sei, wenn das Verhalten des Beklagten während des Gerichtsverfahrens mit Sicherheit erkennen lasse, daß er an der getroffenen Entscheidung festhalten wolle. Auf jeden Fall leide das Berufungsurteil an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil der Vorsitzende nach § 106 SGG dazu verpflichtet gewesen sei, auf das fehlende Vorverfahren hinzuweisen und die Beteiligten zu veranlassen, diesen Mangel zu beseitigen.
Die beklagte AOK hat die Zurückweisung der Revision beantragt. Sie hält die Durchführung eines Vorverfahrens für erforderlich. Im übrigen weist sie darauf hin, daß der Sozialhilfeträger im Rahmen des § 1583 RVO auch nur die nach §§ 1531, 1533 RVO vorgesehenen Pauschalbeträge verlangen könne. Diese seien ihm jedoch in voller Höhe überwiesen worden.
Der Beigeladene M. ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Revision ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG die vom SG ausgesprochene Abweisung der Klage bestätigt.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, die beklagte AOK habe mit ihrem dem Kläger zur Kenntnis gebrachten Schreiben vom 22. April 1959 diesem gegenüber einen Verwaltungsakt erlassen. Hier lag nicht "schlichtes Verwaltungshandeln" ohne Entscheidungscharakter vor (vgl. dazu BSG 15, 118, 123 f; 17, 173, 175). Vielmehr hat die beklagte AOK in ihrer Eigenschaft als zur Entscheidung über ein Leistungsbegehren berufener Versicherungsträger einen Einzelfall auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts verbindlich geregelt.
Der Deutung dieser ablehnenden Entscheidung als Verwaltungsakt steht nicht entgegen, daß sich die beklagte AOK und die klagende Stadtgemeinde als öffentlich-rechtliche Körperschaften gleichrangig gegenüberstehen (vgl. Salzwedel in "Rechtsschutz im Sozialrecht", 197, 212 f). Daß auch gegenüber solchen Körperschaften Verwaltungsakte in Angelegenheiten, die die §§ 79, 80 SGG betreffen, ergehen können, wird durch die Regelung in § 81 Nr. 3 i. V. m. § 78 SGG bestätigt: Die Befreiung der in § 81 Nr. 3 SGG genannten Körperschaften von der Vorverfahrenspflicht ist nur von der Auffassung her verständlich, daß gegen sie gerichtete Verwaltungsakte in den Angelegenheiten der §§ 79, 80 SGG möglich sind (vgl. BSG 15, 118, 125).
Entscheidend für die Beurteilung des Ablehnungsbescheides der beklagten AOK als eines Verwaltungsakts ist die Natur des Rechtsverhältnisses, dem der im Verwaltungsverfahren und späterhin mit der Klage geltend gemachte Anspruch entspringt. Zutreffend hat bereits das LSG in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß der klagende Sozialhilfeträger im anhängigen Verfahren keinen Ersatzanspruch eigenen Rechts (§§ 1531 ff RVO) verfolgt, sondern die Rechte des Versicherten auf die ihm zustehende Versicherungsleistung (Krankenhauspflege) betreibt.
Dieser Anspruch hat seine alleinige Grundlage in dem Versicherungsverhältnis des Beigeladenen M. zur beklagten AOK. Daß der klagende Sozialhilfeträger berechtigt ist, die Feststellung der Leistung im eigenen Namen zu betreiben und ihm insoweit für das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit Prozeßstandschaft zuerkannt ist (vgl. BSG 11, 295, 296; 16, 44, 46), verändert die Rechtsnatur des Klageanspruchs nicht (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-6. Aufl., Stand: Sept. 1963, Bd. I S. 234 a XII). Demnach stellt die Entscheidung der beklagten AOK über den Antrag des klagenden Sozialhilfeträgers auf Gewährung der Krankenhauspflege für den Beigeladenen M. einen Verwaltungsakt dar (vgl. auch BSG, Urt. v. 29.9.1965 - 2 RU 202/60 - in SozR RVO § 1583 Nr. 2, in dem für den § 1538 RVO entsprechenden § 1511 RVO entschieden ist, daß der das Verwaltungsverfahren abschließende Bescheid des Unfallversicherungsträgers auch der die Feststellung der Unfallentschädigung betreibenden Krankenkasse zuzustellen ist und damit erst für diese die Frist zur Anfechtung des Bescheids in Lauf gesetzt wird). Für die von der klagenden Stadtgemeinde erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist somit ein Vorverfahren erforderlich (§ 79 Nr. 1, § 80 Nr. 1 SGG).
Überdies entspricht die Durchführung des Vorverfahrens in Fällen der vorliegenden Art durchaus dem Zweck des Gesetzes, dem gerichtlichen Verfahren eine "Selbstkontrolle der Verwaltung vorzuschalten" (BSG 20, 199, 200). Diese Möglichkeit der Verwaltung, ihren eigenen Standpunkt noch einmal zu überprüfen, ist besonders bei Ermessensentscheidungen (§ 79 Nr. 1 SGG) - so auch in vorliegenden Fall bei der beantragten Krankenhauspflege - bedeutsam, in denen die Gerichte nur eine begrenzte Rechtskontrolle ausüben können. Dieser Zweck des Vorverfahrens bleibt uneingeschränkt bestehen, wenn anstelle des Versicherten der Sozialhilfeträger dessen Rechte geltend macht.
Da schließlich keiner der Tatbestände vorliegt, die nach § 81 SGG das Vorverfahren ausschließen, hat das LSG mit Recht angenommen, daß der Klage ein Vorverfahren vorauszugehen hat.
Die hieraus vom LSG gezogene Schlußfolgerung, die Klage müsse wegen des fehlenden Vorverfahrens als unzulässig abgewiesen werden, stößt jedoch auf verfahrensrechtliche Bedenken. Es stellt einen Verfahrensmangel dar, wenn das Gericht die Klage als unzulässig abweist, ohne den Beteiligten Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen (BSG 20, 199). Dieses hat nämlich bereits mit der Erhebung des Widerspruchs begonnen (§ 83 SGG), der hilfsweise in der Klage zu erblicken ist. Gerade in den nicht seltenen Fällen der vorliegenden Art, in denen es ernstlich zweifelhaft ist, ob ein Vorverfahren durchzuführen ist, muß davon ausgegangen werden, daß der Kläger für den Fall, daß sich die Durchführung des Vorverfahrens als notwendig erweist, dieses mit der Klage beantragt hat. Anderenfalls liefe er Gefahr, infolge Versäumung der Widerspruchsfrist - auch bei fehlender oder falscher Rechtsbehelfsbelehrung im Verwaltungsakt grundsätzlich nur ein Jahr (§ 66 Abs. 2 SGG) - seiner Rechte verlustig zu gehen. Bei dieser Rechtslage ist es auch aus prozeßökonomischen Gründen geboten, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen und so die "Filterfunktion" dieses Verfahrens wirksam werden zu lassen (BSG 20, 199, 201).
Demnach mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Diesem bleibt auch die Kostenentscheidung vorbehalten.
Fundstellen