Leitsatz (redaktionell)
Die Behinderung, die dem Kläger bei winterlichen Straßen- und Wegeverhältnissen das Verlassen des Hauses verwehrt, bedingt noch keine Hilflosigkeit iS des BVG § 35. Soweit der Kläger für die Fortbewegung im Freien fremder Hilfe bedarf, handelt es sich um vorübergehende Ausnahmezustände; ständige fremde Hilfe ist insoweit nicht notwendig, auch nicht ständige Bereitschaft hierzu.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1957-07-01
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. November 1957 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Das Versorgungsamt (VersorgA) M stellte mit Bescheid vom 19. Juni 1951 die Versorgungsbezüge des Klägers nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) fest; es gewährte dem Kläger - wie bisher - wegen "Verlust des linken Oberschenkels eine Handbreit unterhalb des Hüftgelenks, Bewegungseinschränkung im rechten Knie- und Fußgelenk, im letzteren infolge Nervenschädigung ( Peronäus ), Hohlfußstellung, Verlust des linken Daumens im Grundglied" als Schädigungsfolgen eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H.; von einer Pflegezulage ist in dem Bescheid vom 19. Juni 1951 nichts erwähnt.
Im November 1952 beantragte der Kläger Pflegezulage nach dem BVG; er gab an, er sei auf eine ständige Hilfsperson angewiesen.
Das VersorgA lehnte den Antrag mit Bescheid vom 18. April 1953 ab, weil der Kläger nach dem Gutachten des Nervenarztes Dr. N und der versorgungsärztlichen Stellungnahme nicht hilflos sei. Der Beschwerdeausschuß wies den Einspruch des Klägers am 26. September 1953 zurück.
Das Sozialgericht (SG) Münster hob mit Urteil vom 15. September 1954 die Bescheide der Versorgungsbehörden, soweit darin die Pflegezulage abgelehnt worden ist, auf; es sprach dem Kläger die Pflegezulage ab 1. November 1952 zu und führte dazu aus, der Kläger sei so hilflos, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen könne; dies sei insbesondere dadurch bedingt, daß er kein Körperersatzstück tragen könne und daß er in der Fortbewegung erheblich behindert sei.
Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen das Urteil des SG Münster vom 15. September 1954 auf und wies die Klage ab: Das Urteil des SG habe keine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse (§ 62 BVG) betroffen, es habe vielmehr über die erstmalige Feststellung der Pflegezulage nach dem BVG entschieden, die Berufung sei daher nicht nach § 148 Ziff. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Der Kläger sei zwar durch die Schädigungsfolgen schwer betroffen, er sei jedoch nicht so hilflos, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen könne. Der Kläger habe selbst vorgetragen, er sei auf die Hilfe seiner Ehefrau nur insofern angewiesen, als er sich Bade-, Wasch- und Rasierwasser nicht selbst heranholen könne, als er mitunter die in einiger Entfernung vom Hause gelegene Toilette nicht allein aufsuchen könne und als er sich im Winter nicht ohne Begleitperson außerhalb des Hauses bewegen könne. Danach müsse für den Kläger nicht ständig fremde Hilfe bereitstehen; die Behinderungen des Klägers seien nicht so, daß "Hilflosigkeit" im Sinne des Gesetzes (§ 35 BVG) gegeben sei. Das LSG ließ die Revision zu.
Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 21. Januar 1958 zugestellt. Der Kläger legte am 18. Februar 1958 Revision ein; er beantragte,
1. das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Münster vom 15. September 1954 zurückzuweisen;
2. hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger begründete die Revision gleichzeitig: Das LSG habe § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG nicht richtig angewandt, es habe auch die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verletzt. Das LSG habe zu Unrecht angenommen, der Grad der MdE trage der Schwere der Beschädigung des Klägers hinreichend Rechnung; die Frage der Hilfsbedürftigkeit sei unabhängig von dem Grad der MdE zu prüfen. Das LSG habe das Vorbringen des Klägers, er könne sich im Winter außerhalb des Hauses nicht ohne fremde Hilfe bewegen, nicht ausreichend gewürdigt, der Kläger habe mit seinem Vorbringen gemeint, daß er bei winterlichen Straßen- und Wegeverhältnissen an der Fortbewegung derart gehindert sei, daß er von der Teilnahme am Verkehr ausgeschlossen und auf den Aufenthalt im Hause angewiesen sei; dem Kläger dürfe aber die Hilfe nicht versagt werden, die erforderlich sei, um ihm auch im Winter die Teilnahme am Straßenverkehr zu ermöglichen. Das LSG habe weitere Erhebungen anstellen müssen, wenn es dem Vorbringen des Klägers, daß er sich bei winterlichen Straßen- und Wegeverhältnissen nicht allein aus dem Hause begeben könne, nicht habe folgen wollen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft; der Kläger hat sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Die Revision ist daher zulässig; sie ist jedoch unbegründet.
Das LSG hat die Berufung zu Recht als statthaft angesehen; die Berufung ist nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen; das Urteil des SG betrifft nicht die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne dieser Vorschrift, sondern die Erstfeststellung der Pflegezulage nach dem BVG (vgl. hierzu BSG 3 S. 271 (274), BSG 8, 97; Urteil des BSG vom 12.12.1957, SozR Nr. 17 zu § 148 SGG; BSG 10 S. 202 (203)). Das LSG hat auch in der Sache selbst zutreffend entschieden.
Pflegezulage wird gewährt, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf (§ 35 Abs. 1 Satz 1 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 enthält insoweit keine sachliche Änderung gegenüber der früheren Fassung; vgl. auch BSG 8 S. 97 (99) mit weiteren Hinweisen; Urt. des BSG vom 11.6.1959, SozR Nr. 7 zu § 35 BVG und vom 23.2.1960 - 10 RV 1371/58 -).
Das LSG hat festgestellt, der Kläger bedürfe fremder Hilfe nur insofern, als er sich Bade-, Wasch- und Rasierwasser nicht selbst heranholen könne, als er mitunter die in einiger Entfernung vom Hause gelegene Toilette nicht allein aufsuchen könne und als er sich im Winter nicht ohne Begleitung zu Besorgungen oder zur Erholung aus dem Hause begeben könne. Diesen Feststellungen ist zu entnehmen, daß der Kläger im übrigen nicht gehindert ist, die gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, wie An- und Ausziehen, Essen, Waschen, Rasieren, allein vorzunehmen. Die Feststellungen, die das LSG insoweit getroffen hat, sind mit der Revision nicht angegriffen; sie sind daher für das Bundessozialgericht (BSG) bindend (§ 163 SGG). Auch den weiteren Feststellungen des LSG, daß sich fremde Hilfe bei der Heranschaffung von Wasser auf ein geringes Maß beschränken lasse, daß dem Kläger das Aufsuchen der außerhalb des Hauses gelegenen Toilette ohne fremde Hilfe nur bei besonderen Unbilden der Witterung verwehrt sei und daß damit fremde Hilfe insoweit nicht jederzeit bereitstehen müsse, begegnet die Revision nicht. Der Kläger rügt mit der Revision im wesentlichen nur, das LSG habe den Umstand, daß er sich im Winter nicht außerhalb des Hauses ohne fremde Hilfe bewegen könne, nicht ausreichend gewürdigt, es habe in diesem Umstand "Hilflosigkeit" im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG erblicken müssen; diese Rüge geht jedoch fehl. Das LSG ist davon ausgegangen, daß das Vorbringen des Klägers, er sei bei winterlichen Straßen- und Wegeverhältnissen an der Fortbewegung derart gehindert, daß er ohne fremde Hilfe von der Teilnahme am Straßenverkehr ausgeschlossen und ausschließlich auf den Aufenthalt im Hause angewiesen sei, zutrifft; es hat daher insoweit keine weiteren Erhebungen vornehmen müssen; die Verfahrensrüge des Klägers, das LSG habe den Sachverhalt nicht genügend geklärt und damit gegen § 103 SGG verstoßen, trifft danach nicht zu (§ 103 SGG).
Das LSG hat auch den Sachverhalt zutreffend gewürdigt, wenn es angenommen hat, die Behinderung, die dem Kläger "bei winterlichen Straßen- und Wegeverhältnissen" das Verlassen des Hauses verwehre, bedinge keine Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob - wie die Revision meint - die Teilnahme am Verkehr und die Bewegung in der Öffentlichkeit als wichtige Lebensfunktionen zu den gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens gehören, ohne die ein Beschädigter nicht im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG (a.F.) "bestehen" kann, und ob damit "Hilflosigkeit" im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, wenn für die Teilnahme am Verkehr des Beschädigten ständig eine Hilfskraft bereitstehen muß (vgl. auch Urteil des BSG vom 29.10.1959, BVBl. 1960 S. 45). Der Kläger bedarf nur, wenn er sich bei "winterlichen Straßen- und Wegeverhältnissen" aus dem Hause begeben will, einer Begleitperson; er ist nur dann nicht in der Lage, allein aus dem Hause zu gehen und an dem Verkehr teilzunehmen, wenn ungünstige Witterungsverhältnisse herrschen, die ihn im Gehen besonders behindern, wie etwa Glätte, Nässe, besondere Kälte, scharfer Wind und dergl. Solche Straßen- und Wegeverhältnisse bestehen auch im Winter durchaus nicht immer, sie kommen andererseits auch in anderen Jahreszeiten vor. Unter "normalen Verhältnissen", die im gesamten Ablauf des Jahres jedenfalls zeitlich überwiegen, ist der Kläger nicht gehindert, sich ohne fremde Hilfe im Freien fortzubewegen. Soweit der Kläger für die Fortbewegung im Freien danach fremder Hilfe bedarf, handelt es sich um Ausnahmezustände vorübergehender Natur; ständige fremde Hilfe ist insoweit nicht notwendig, auch nicht die ständige Bereitschaft hierzu. Behinderungen, wie sie hier vorliegen, erschweren zwar den Verkehr des Beschädigten mit der Außenwelt, sie berühren aber noch nicht das "Bestehen" des Beschädigten im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG (a.F.). Das LSG hat zu Recht angenommen, die Notwendigkeit, daß der Kläger "bei winterlichen Wege- und Straßenverhältnissen" zur Fortbewegung außerhalb des Hauses eine Begleitperson benötige, reiche auch zusammen mit den anderen Verrichtungen, für die der Kläger auf fremde Hilfe angewiesen sei, nicht aus, um Hilflosigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG annehmen zu können; es sind nur einzelne, nicht aber "die" gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, bei denen der Kläger Hilfe benötigt, und er bedarf der Hilfe nicht dauernd und auch nicht in erheblichem Maße. Der durch die Schädigung bedingte Leidenszustand des Klägers macht es weder erforderlich, daß Hilfe fortwährend geleistet wird noch daß sie jederzeit bereit sein muß (vgl. Urteile des BSG vom 23.2.1960 - 10 RV 1371/58 - und vom 28.6.1960 - 10 RV 972/56).
Das LSG hat auch nicht verkannt, daß die Frage, ob Hilflosigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG vorliegt, unabhängig von dem Grad der Einbuße an der Erwerbsfähigkeit zu prüfen ist; es hat auch insoweit § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG richtig angewandt.
Die Revision des Klägers ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen