Leitsatz (amtlich)
Haben sich die Beteiligten bei Beginn der Tatsacheninstanz mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß SGG § 124 Abs 2 einverstanden erklärt und wird danach eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in der nicht die Endentscheidung, sondern ein Beweisbeschluß mit nachfolgender umfangreicher Beweiserhebung vergeht, so ist die Einverständniserklärung "verbraucht".
Ein Urteil ohne mündliche Verhandlung darf alsdann nur nach einem erneuten (ausdrücklichen und vorbehaltslosen) Verzicht der Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung erlassen werden.
Normenkette
SGG § 124 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 62 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 28.04.1976; Aktenzeichen L 9 V 60/74) |
SG Münster (Entscheidung vom 30.01.1974; Aktenzeichen S 15 V 184/72) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. April 1976 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Fußverletzung als Schädigungsleiden und die Gewährung einer Teilversorgung (§§ 64 ff des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -). Er gibt dazu an, am 5. August 1939 habe er als Soldat auf dem Verladebahnhof Gleiwitz durch das Umkippen eines Munitionswagens eine schwere Schädigung des linken Mittelfußes erlitten. Die Versorgungsverwaltung lehnte den Antrag durch Bescheid vom 28. April 1971 / Widerspruchsbescheid vom 25. September 1972 mit der Begründung ab, der behauptete Unfall sei weder durch Urkunden noch durch Zeugenaussagen belegt; auch habe der Kläger nach seinen eigenen Angaben früher keine Versorgungsrente bezogen.
Das Sozialgericht (SG) hat ein Aktengutachten von Dr. P eingeholt und die Klage durch Urteil vom 30. Januar 1974 abgewiesen. Im Berufungsverfahren haben sich die Beteiligten mit Schriftsatz vom 8. Mai 1974 (Beklagter) bzw mit Schreiben vom 21. Mai 1974 (Kläger persönlich) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Beschluß vom 6. Juni 1974 den derzeitigen Prozeßbevollmächtigten des Klägers zu seinem besonderen Vertreter gemäß § 72 Abs 3 SGG bestellt. Der Kläger brachte eine weitere Zeugenerklärung bei. In der mündlichen Verhandlung vom 17. September 1975 erging ein Beweisbeschluß. Daraufhin wurden zunächst Auskünfte des Landesversorgungsamtes Berlin und der Deutschen Dienststelle eingeholt. Das LSG hat ferner den Zeugen Engelbert K am 30. Januar 1976 durch das SG Speyer, Zweigstelle Mainz, vernehmen lassen. Am 28. April 1976 hat das LSG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil die Berufung des Klägers zurückgewiesen; die Revision wurde nicht zugelassen. Das LSG hat ausgeführt, die Zulässigkeit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergebe sich aus § 124 Abs 2 SGG. Die Berufung sei in der Sache nicht begründet; ein schädigendes Ereignis sei nicht nachgewiesen. Zwar sei urkundlich belegt, daß der Kläger der von ihm angegebenen Einheit - jedenfalls am 19. September 1939 - angehört habe. Eine Meldung über das Erleiden einer Beschädigung oder über eine entsprechende ärztliche Behandlung oder einen Lazarettaufenthalt sei jedoch nicht archiviert. Auch ein Zeugenbeweis sei insoweit nicht erbracht. Zweifel seien insbesondere deshalb angebracht, weil der Kläger nach seinen eigenen Angaben zwar als dienstunfähig entlassen worden sei, aber damals keine Versorgung erhalten habe.
Auf die Beschwerde des Klägers hat der Senat durch Beschluß vom 11. August 1976 die Revision zugelassen. Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 124 Abs 1 SGG und trägt dazu vor, das LSG habe sich bei seiner Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auf die Erklärungen der Beteiligten vom 8. und 21. Mai 1974 berufen. Trotz dieser Erklärungen habe das LSG jedoch den Rechtsstreit am 17. September 1975 mündlich verhandelt. Spätestens mit dieser mündlichen Verhandlung sei die Einverständniserklärung des Klägers verbraucht gewesen. Nach dieser mündlichen Verhandlung habe das LSG noch umfangreiche Beweise erhoben, zu denen der Prozeßbevollmächtigte des Klägers in der abschließenden mündlichen Verhandlung hätte zusammenfassend Stellung nehmen können. Das LSG hätte daher einen neuen Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumen müssen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. April 1976 - Az.: L 9 V 60/74 - aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er meint, selbst wenn man von einer Verletzung des § 124 SGG ausgehe, erweise sich die Revision nicht als begründet. Nach den vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen sei das Klagebegehren nicht gerechtfertigt; eine Zurückverweisung an das LSG wäre daher überflüssig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig (§§ 160 a Abs 4 letzter Satz, 160, 164, 166 SGG); sie ist auch insoweit begründet, als sie zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung an das LSG führt.
Der Kläger rügt zutreffend eine Verletzung des § 124 SGG und als Folge davon eine Verletzung des § 62 SGG. Zwar hat er die letztere Vorschrift nicht ausdrücklich bezeichnet (vgl § 164 Abs 2 letzter Satz SGG). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) genügt es jedoch, wenn sich aus den substantiiert vorgetragenen Tatsachen klar ergibt, welche Verfahrensvorschriften als verletzt angesehen werden (vgl BSG SozR SGG § 164 Nrn 9 und 27). Das ist hier neben § 124 auch § 62 SGG.
Nach § 124 Abs 1 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig aufgrund mündlicher Verhandlung. Diese ist gleichsam das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens, um dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes - GG -; § 62 SGG; vgl BVerfGE 40, 101, 104; 42, 364, 370; Urteil des erkennenden Senats vom 9. Februar 1977 - 10 RV 93/76 -) zu genügen und den Streitstoff erschöpfend mit ihnen zu erörtern (§ 112 Abs 2 SGG; vgl BSGE 17, 44 = SozR SGG § 162 Nr 171; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 124 Anm 1). Eine Ausnahme von dem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 SGG; danach "kann" das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden (s. auch § 128 Abs 2 ZPO und § 101 Abs 2 VwGO). Es steht daher im (pflichtgemäßen) Ermessen des Gerichts, ob es ein Urteil - für Beschlüsse vgl §§ 124 Abs 3, 169 Satz 3 SGG - ohne mündliche Verhandlung erläßt (vgl BSG SozR SGG § 124 Nr 6). Das Gericht ist jedoch durch den Verzicht der Beteiligten auf mündliche Verhandlung nicht gezwungen, von dieser Abstand zu nehmen (vgl Peters/Sautter/Wolff, aaO § 124 Anm 2; Wieczorek ZPO § 128 Anm J II c 3). Der Sinn der Regelung in § 124 Abs 2 SGG, die als Ausnahmevorschrift eng auszulegen ist (vgl BSG SozR SGG § 124 Nr 6; Urteil BSG vom 9. November 1972 - 10 RV 357/72 -; BAGE 12, 56), liegt darin, die Gerichte zu entlasten und das Verfahren im Interesse der Beteiligten zu vereinfachen und zu beschleunigen (vgl BSG SozR SGG § 124 Nr 5; siehe auch BGHZ 28, 283). Das Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ist daher nur dann sinnvoll, wenn die Sach- und Rechtslage eine mündliche Erörterung mit den Beteiligten überflüssig erscheinen läßt und das Gericht nur noch darüber zu befinden hat, wie das Gesamtergebnis des Verfahrens zu würdigen (§ 128 SGG) und rechtlich zu beurteilen ist.
Bei Beachtung dieser Grundsätze kann für das vorliegende Verfahren dahinstehen, ob das Berufungsgericht den Kläger bereits bei Beginn der Instanz zu einer Einverständniserklärung gemäß § 124 Abs 2 SGG veranlassen durfte (vgl Verfügung des LSG vom 10. Mai 1974, letzter Absatz, und formularmäßige Einverständniserklärung des Klägers vom 21. Mai 1974; siehe dazu Stein/Jonas, ZPO 19. Aufl, § 128 Anm IX 2), zumal es sich um eine Tatsacheninstanz handelte und nach der Berufungsschrift des Klägers vom 21. März 1974 offensichtlich war, daß bestimmte Streitfragen tatsächlicher und medizinischer Art noch klärungsbedürftig waren. Ebenso kann dahinstehen, ob die vom Kläger persönlich am 21. Mai 1974 abgegebene Einverständniserklärung auch für seinen besonderen Vertreter maßgebend war, der erst nach Abgabe dieser Erklärung, nämlich mit Beschluß vom 6. Juni 1974, dazu bestellt worden war (vgl Bl 60 der Gerichtsakten), und ob diese Einverständniserklärung wirklich eindeutig und vorbehaltlos abgegeben war (vgl Urteil BSG vom 9. November 1972 - 10 RV 357/72 -; BGHZ 18, 61; Urteil BAG vom 6. August 1975 in AP ZPO § 128 Nr 9; Peters/Sautter/Wolff, aaO § 124 Anm 2). Bedenken bestehen insbesondere deshalb, weil der Kläger zwar den beigefügten Vordruck unterschrieben und "zur Verwendung beigefügt", gleichzeitig jedoch gebeten hatte, "alle diese meine Beweise genau zu untersuchen und zum Verfahren bei der Entscheidung zu verwerten".
Diese Fragen bedürfen jedoch keiner abschließenden Entscheidung, denn das LSG durfte bei der gegebenen Sachlage und im Hinblick auf den Ablauf des Berufungsverfahrens ohnehin nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Beteiligten hatten ihr Einverständnis mit einer derartigen Entscheidung am 8. bzw. 21. Mai 1974 erklärt. Gleichwohl hat das LSG am 17. September 1975 eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Diese Tatsache schließt zwar eine spätere Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht grundsätzlich aus, denn auch nach vorangegangener mündlicher Verhandlung kann ein Rechtsstreit in ein Verfahren ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG übergeleitet werden (vgl BSG SozR SGG § 124 Nr 4; BGHZ 11, 27; 17, 118, 120). Das LSG hat jedoch in der mündlichen Verhandlung vom 17. September 1975 einen Beweisbeschluß erlassen, "dessen Absetzung dem Berichterstatter vorbehalten blieb". Aufgrund dieses Beweisbeschlusses sind umfangreiche Auskünfte des Landesversorgungsamtes Berlin - ursprünglich war das Auskunftsersuchen des LSG an das Krankenbuchlager Berlin gerichtet - und der Deutschen Dienststelle eingeholt worden. Ferner ist auf Veranlassung des LSG der Zeuge Engelbert K. durch das zuständige SG am 30. Januar 1976 vernommen worden. Dabei kann wiederum dahinstehen, ob der besondere Vertreter des Klägers mit seinem Schriftsatz vom 28. November 1975 - er wollte zunächst das (vollständige) Ergebnis der Beweisaufnahme abwarten und alsdann zusammenfassend Stellung nehmen - die Einverständniserklärung des Klägers zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung widerrufen wollte und ob ein solcher Widerruf jederzeit und ohne weitere Einschränkungen möglich ist (so BAGE 12, 56, 58; siehe aber BGHZ 28, 278 und insbesondere Urteil BGH vom 12. Juni 1970 in Lindenmaier/Möhring, Nachschlagewerk des BGH, ZPO § 128 Nr 23) oder ob ein solcher Widerruf nur bei einer wesentlichen Änderung der Prozeßlage zulässig ist (so BGHZ 11, 27, 32; Stein/Jonas aaO § 128 Anm IX 2; zweifelnd BGH in Lindenmaier/Möhring aaO § 128 Nr 23; siehe jetzt aber § 128 Abs 2 ZPO nF und Rosenberg/Schwag, Zivilprozeßrecht 12. Aufl, § 110 Anm I 1 c).
Jedenfalls war die Einverständniserklärung des Klägers vom 21. Mai 1974 mit dem aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 17. September 1975 erlassenen Beweisbeschluß und der aufgrund dieses Beschlusses durchgeführten Beweisaufnahme "verbraucht". Nach der nahezu einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Rechtslehre bezieht sich das Einverständnis der Parteien mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nur auf die jeweils nächste Entscheidung (vgl BGHZ 17, 118, 123; 31, 210, 214; BVerwGE 14, 17; Stein/Jonas aaO § 128 Anm IX 2; Wieczorek aaO § 128 Anm J II c 3). Bei dieser Entscheidung kann es sich um ein Urteil, aber auch um einen Beweisbeschluß handeln. Ist die nächste Entscheidung nicht das abschließende Urteil, so wird in der Regel die Verzichtserklärung durch jede gerichtliche Entscheidung verbraucht, "die die Entscheidung wesentlich sachlich vorbereitet", insbesondere durch einen Beweisbeschluß (vgl BVerwGE 14, 17). Ergeht also nach dem Verzicht auf die mündliche Verhandlung ein Beweisbeschluß mit nachfolgender Beweisaufnahme, so kann ein Urteil ohne mündliche Verhandlung nur nach einem weiteren (ausdrücklichen und vorbehaltslosen) Verzicht der Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung erlassen werden. - Ob die Rechtslage anders zu beurteilen ist, wenn der Vorsitzende (bzw Berichterstatter, vgl § 155 SGG) vorbereitende Maßnahmen im Rahmen des § 106 Abs 2 SGG trifft und von deren Ergebnis die Beteiligten rechtzeitig in Kenntnis setzt, bedarf hier keiner Entscheidung. -
Ein solcher weiterer Verzicht (Einverständniserklärung) des Klägers liegt hier nicht vor. Das LSG durfte daher nach dem späteren Gesamtablauf des Verfahrens nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs 1 SGG). Durch die gleichwohl am 28. April 1976 ergangene Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ist das prozessuale Recht des Klägers, in einer mündlichen Verhandlung mit seinen Ausführungen gehört zu werden und seine Argumente vortragen zu können - wie es der Kläger in seinem Schriftsatz vom 28. November 1975 angekündigt hatte -, verletzt worden (vgl BVerfGE 42, 364, 370).
Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Kläger sich schriftsätzlich hätte äußern können. Die mündliche Verhandlung ist im sozialgerichtlichen Verfahren (siehe auch § 112 SGG) bei einer Beendigung des Rechtsstreits durch Urteil zwingend vorgeschrieben. Eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung darf nach den obigen Ausführungen nur mit dem (wirksam erklärten, nicht widerrufenen und noch wirksamen) Einverständnis der (Haupt-)Beteiligten ergehen. Das lag hier nicht (mehr) vor.
Entgegen dem Vorbringen des Beklagten kommt es bei der Geltendmachung eines Verfahrensmangels nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht darauf an, ob die angeführte Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruht. Vielmehr genügt es nach der gesetzlichen Regelung, daß die Entscheidung darauf beruhen "kann". Das ist hier der Fall, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG zu einer anderen Entscheidung (Urteil oder Beweisbeschluß) gekommen wäre, wenn es die mündliche Verhandlung durchgeführt und dabei dem besonderen Vertreter des Klägers Gelegenheit zur ausführlichen (mündlichen) Stellungnahme gegeben hätte. Eigene Tatsachenfeststellungen, die eine abschließende Entscheidung ermöglichen würden, sind dam BSG als Revisionsgericht ohnehin verwehrt (§ 163 SGG).
Das Urteil des Berufungsgerichts ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen