Leitsatz (amtlich)

1. Wenn eine Tätigkeit eine betriebliche Einweisungs- und Einarbeitungszeit von mehr als 3 Monaten erfordert, ist eine Verweisung grundsätzlich erst möglich, wenn die Einweisung und Einarbeitung abgeschlossen ist.

2. Ein Facharbeiter kann auf alle Lehr- und Anlernberufe (Ausbildungsberufe) und auf solche gehobene ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden, die wegen ihrer betrieblichen Bedeutung angelernten Tätigkeiten gleichstehen. Ein wichtiges Indiz für die Beurteilung der betrieblichen Bedeutung einer gehobenen ungelernten Tätigkeit ist in der Regel ihre tarifliche Einordnung.

3. Die Verwaltungen und die Gerichte können sich auf die Heranziehung solcher Tarifverträge des entsprechenden Tarifbezirkes beschränken, die wegen der großen Zahl der von ihnen erfaßten Arbeitnehmer für den Tarifbezirk repräsentativ sind.

4. Von der Heranziehung von Tarifverträgen, die nach ihrer Struktur, insbesondere nach der allgemeinen Lohnhöhe im Vergleich zu dem für den bisherigen Beruf (Hauptberuf) maßgebenden Tarifvertrag so wesentlich abweichen, daß sie nicht vergleichbar sind, ist abzusehen. Das ist zB der Fall, wenn der Ecklohn bzw der - jeweils niedrigste - Facharbeiterlohn gegenüber dem entsprechenden Tariflohn des für den Hauptberuf maßgebenden Tarifvertrags mehr als 20 % niedriger ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Eine Verletzung des SGG § 128 Abs 2 liegt dann vor, wenn das LSG eine in früheren Rechtsstreitigkeiten eingeholte Auskunft verwertet, obwohl sich der Kläger im vorliegenden Verfahren hierzu nicht äußern konnte, weil er auf die beabsichtigte Verwertung dieser Auskunft nicht hingewiesen worden ist.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 14.07.1976; Aktenzeichen L 2 J 144/75)

SG Stade (Entscheidung vom 03.07.1975; Aktenzeichen S 5 J 17/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Juli 1976 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der am 26. Dezember 1930 geborene Kläger begehrt die Zahlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er ist gelernter Maschinenschlosser. Nach der Lehre war er versicherungspflichtig tätig als Trimmer (vom 1. Oktober 1948 bis zum 6. Januar 1949), Platzarbeiter (vom 13. Februar 1950 bis zum 21. September 1950), Industriearbeiter und Fischlöscher (bis September 1961). Dann arbeitete er als Maschinenschlosser und Maschinenführer bei einer Straßenbaufirma (vom 14. September 1961 bis 14. Juli 1972) und als Tankwart (vom 15. Juli 1972 bis 27. April 1974). Seit dem 9. Oktober 1974 ist er Pförtner auf einer Schiffswerft.

Am 5. April 1973 stellte der Kläger Rentenantrag bei der Beklagten, die den Antrag mit Bescheid vom 27. Dezember 1974 mit der Begründung ablehnte, der Kläger sei noch nicht berufsunfähig i.S. des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Stade mit Urteil vom 3. Juli 1975 den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Mai 1973 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen. Auf die von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 14. Juli 1976 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Nach den Feststellungen des LSG ist der in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand befindliche Kläger im wesentlichen durch eine mittelgradige Bewegungseinschränkung des rechten Handgelenks bei anhaltender Falschgelenkbildung im Kahnbein, durch einen Verlust des linken Daumens bis auf 2/3 des Grundgliedes und den Verlust der 5. Zehe links mit Berührungsempfindlichkeit des Stumpfendes und druckempfindlicher Schwielenbildung in sonst reizlosen Narben an der Fußsohle in seiner beruflichen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Durch die vorhandenen Körperschäden könne er als Maschinenschlosser nicht mehr tätig sein, er sei aber noch fähig, leichtere und gelegentlich auch mittelschwere Arbeiten vollschichtig zu verrichten, wenn die verminderte Greiffähigkeit der linken Hand und die verminderte Beweglichkeit des rechten Handgelenks berücksichtigt würde und ein dauerndes Stehen zu vermeiden sei. Auf die gegenwärtig verrichtete Beschäftigung als Pförtner und Wachmann könne er als Facharbeiter, der die Facharbeit aus zwingenden gesundheitlichen Gründen habe aufgeben müssen, nicht zumutbar verwiesen werden, weil es sich hierbei um eine einfache Tätigkeit mit einem Stundenlohn von 7,67 DM in der Lohngruppe 3 handele. Gleichwohl sei der Kläger nicht berufsunfähig, weil er sich auf Tätigkeiten als qualifizierter Prüf- und Kontrollarbeiter, als Arbeiter an voll- oder halbautomatischen Maschinen und vielleicht auch als Schalttafelwärter verweisen lassen müsse. Zur Ausübung solcher Tätigkeiten sei er nach seiner beruflichen Vorbildung und seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen auch in der Lage. Sollte sich im Einzelfall herausstellen, daß hierzu noch eine innerbetriebliche Einarbeitung von mehreren Wochen oder gar Monaten benötigt würden, so stehe dies der Verweisung nicht entgegen. Dem Senat sei u.a. durch einen von ihm entschiedenen und mit den Beteiligten im Verhandlungstermin erörterten Fall eines innerhalb eines halben Jahres als Qualitätsprüfer innerbetrieblich erfolgreich angelernten und eingearbeiteten früheren Maschinenschlossers und Seemaschinisten bekannt, daß es solche Einarbeitungsmöglichkeiten für Berufsfremde gebe. Die Kenntnis des Senats stütze sich u.a. auch auf die in früheren Rechtsstreitigkeiten eingeholten Auskünfte des Personalleiters der Wülfeler Eisenwerke AG, in denen qualifizierte Prüf- und Kontrollarbeiten neben Tätigkeiten als Anreißer, Einrichter oder Werkzeugausgeber stets als Tätigkeiten bezeichnet worden seien, die von einem gelernten Dreher oder Schlosser verrichtet werden könnten. Auch ein seit vielen Jahren im Senat tätiger ehrenamtlicher Richter, der Direktor einer Maschinenfabrik sei, habe stets die Auffassung gebilligt, daß Tätigkeiten der vorbezeichneten Art den Kenntnissen und Fähigkeiten eines gelernten Metallfacharbeiters entsprechen. Die Funktionstüchtigkeit der beiden Hände und des linken Fußes seien beim Kläger auch nicht sehr schwerwiegend eingeschränkt, was sich u.a. daraus ergäbe, daß er trotz dieser Verletzungen, die viele Jahre zurücklägen, noch bis 1972 als Maschinist und Schlosser gearbeitet habe und die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) hinsichtlich der Bewegungsbehinderung des rechten Handgelenks und des Teilverlustes des linken Daumens jeweils nur 20 % und hinsichtlich der Fußverletzung nur 10 % betrage. Daraus folge, daß die einzelnen betroffenen Gliedmaßen in ihrer Einsatzfähigkeit nicht in einem entscheidenden Ausmaß beeinträchtigt seien. Zur Anhörung eines berufskundlichen Sachverständigen habe kein Anlaß bestanden, denn der Senat habe seine eigene Sachkunde in der mündlichen Verhandlung eingehend dargetan. Er fühle sich im vorliegenden Falle um so weniger zur Anhörung eines Sachverständigen gedrängt, weil es dem aus der Metallbranche kommenden Kläger mit seiner vieljährigen Erfahrung als Maschinenführer ohne wesentliche Umstellung verhältnismäßig leicht fallen dürfte, sich in die neue Tätigkeit an Apparaten und Maschinen, aber auch in die zum Berufsbild des Schlossers gehörenden Prüf- und Kontrollarbeiten einzuarbeiten. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen. Mit der von ihm eingelegten Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 Abs. 2 RVO und der §§ 62, 103, 106 128 und 136 Abs. 1 Nr. 6 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen worden ist.

Mit Recht rügt der Kläger eine Verletzung des § 128 Abs. 2 SGG, wonach ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Er trägt vor, er habe keine Gelegenheit erhalten, zu den in früheren Rechtsstreitigkeiten eingeholten Auskünften des Personalleiters der W. Eisenwerke AG Stellung nehmen zu können. Weder das Sitzungsprotokoll noch das Urteil läßt erkennen, daß ihm diese Gelegenheit gegeben worden ist. Das Urteil läßt auch nicht erkennen, inwieweit es sich auf diese Auskünfte stützt, insbesondere ob es diese Auskünfte als Beweismittel in das Verfahren einführen wollte oder ob es geglaubt hat, den Inhalt der Auskünfte als gerichtskundig ansehen und verwerten zu dürfen. Aus der Nennung und dem Hinweis auf diese Auskünfte muß aber geschlossen werden, daß die Auskünfte als wichtig für die Entscheidung des Rechtsstreits angesehen wurden und daher die Entscheidung auch auf diesen Auskünften mitberuht. Das Bundessozialgericht (BSG) hat wiederholt entschieden, daß ein Gericht eine "Auskunft in anderer Sache" für seine Entscheidung nur verwerten darf, wenn sich die Beteiligten zu dieser Auskunft äußern konnten. Selbst wenn das LSG die Auskünfte nicht als Beweismittel ansehen und würdigen wollte, wenn es also geglaubt hat, den Inhalt der Auskünfte als gerichtskundig ansehen und verwerten zu dürfen, sind die §§ 62 und 128 Abs. 2 SGG sowie Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verletzt, denn auch gerichtskundige Tatsachen müssen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden (vgl. SozR Nr. 70 zu § 128 SGG). Schon dieser Verfahrensverstoß mußte zu einer Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG führen; es braucht deshalb nicht geprüft zu werden, ob die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensverstöße vorliegen.

Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger den Facharbeiterberuf des Maschinenschlossers aus zwingenden gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen, so daß von diesem Beruf als Hauptberuf bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit i.S. des § 1246 Abs. 2 RVO auszugehen ist. Wenn sich auch aus der Auskunft des Arbeitgebers zur Pförtnertätigkeit keine Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Tätigkeiten des anzuwendenden Tarifvertrages ergeben, so kann aus ihr doch der Schluß gezogen werden, daß es sich bei der jetzt ausgeübten Pförtnertätigkeit um keine gehobene Pförtnertätigkeit handelt, auf die der Kläger zumutbar verwiesen werden kann. Ob er auf die ausgeübte Tätigkeit als Tankwart verwiesen werden kann, hat das LSG nicht geprüft; die Zumutbarkeit einer derartigen Verweisung hängt davon ab, wie qualifiziert diese Tätigkeit ist. Das wird das LSG noch zu prüfen haben.

Voraussetzung jeder Verweisung ist, daß der Versicherte die Verweisungstätigkeit nach seinem Gesundheitszustand und nach seinen beruflichen Fähigkeiten verrichten kann. Für das letztere gilt, daß grundsätzlich keine Verweisung auf Tätigkeiten erfolgen kann, die eine Ausbildung oder betriebliche Einweisung und Einarbeitung von mehr als drei Monaten erfordern, solange diese Einweisung und Einarbeitung noch nicht abgeschlossen ist (vgl. hierzu auch das Urteil des erkennenden Senats vom 17. Dezember 1976 - 5 RJ 86/73 und SozR Nr. 40 zu § 45 RKG und SozR Nr. 54 zu § 1246 RVO). Etwas anderes kann gelten, wenn es sich um eine mit dem bisherigen Beruf (Hauptberuf) des Versicherten verwandte Tätigkeit handelt oder wenn der Versicherte eine solche Tätigkeit schon früher verrichtet hat. Auch dann, wenn dem Versicherten eine solche Tätigkeit mit im wesentlichen voller Entlohnung angeboten wird oder wenn er sie mit dieser Entlohnung ausübt, ist eine Verweisung auf solche Tätigkeiten möglich, die eine längere Einweisungs- und Einarbeitungszeit als drei Monate erfordern.

Zur Breite der Zumutbarkeit einer Verweisung auf Tätigkeiten, die der Kläger nach seinem Gesundheitszustand und seinen beruflichen Fähigkeiten noch verrichten kann, wird das LSG die einschlägige Rechtsprechung des BSG zu beachten haben.

Als Facharbeiter kann der Kläger auf alle Lehr- und Anlernberufe (Ausbildungsberufe) verwiesen werden, aber auch auf solche gehobenen ungelernten Arbeiten, die wegen ihrer betrieblichen Bedeutung angelernten Tätigkeiten gleichstehen (SozR 2200 § 1246 Nrn. 4 und 11). Für eine Verweisung auf ungelernte Tätigkeiten sind aber konkrete Feststellungen erforderlich, allgemeine Behauptungen genügen hierfür nicht. Ein wichtiges Indiz für die Beurteilung, ob es sich um eine gehobene ungelernte Tätigkeit mit einer entsprechenden betrieblichen Bedeutung handelt, ist in der Regel ihre tarifliche Einstufung (SozR Nr. 80 zu § 1246 RVO). Ein Facharbeiter wird daher in der Regel nur auf solche ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden können, die tariflich wie Anlerntätigkeiten eingestuft sind. Bei der Prüfung, welche Tarifverträge des betreffenden Tarifbezirks für die Ermittlung der betrieblichen Bedeutung bestimmter Tätigkeiten heranzuziehen sind, ist zunächst in dem für den bisherigen Beruf (Hauptberuf) des Versicherten maßgebenden Tarifvertrag nachzuforschen. Gegebenenfalls sind aber auch andere Tarifverträge desselben Tarifbezirks zu berücksichtigen, wobei vorrangig zu versuchen ist, dem bisherigen Beruf verwandte Tätigkeiten aufzufinden. Zu beachten ist aber, daß es Tätigkeiten gibt, die nicht wegen ihrer betrieblichen Bedeutung, sondern aus anderen Gründen, beispielsweise weil es sich um Akkordarbeiten oder um Mangelberufe handelt oder weil diese Tätigkeiten mit besonderen Erschwernissen und Belastungen (z.B. schmutzige Arbeit, Nachtarbeit) verbunden sind, begünstigt sind. Die Verwaltungen und Gerichte können sich auf die Heranziehung derjenigen Tarifverträge beschränken, die für den betreffenden Tarifbezirk wegen der großen Zahl der von ihr erfaßten Arbeitnehmer repräsentativ sind. Außer Betracht müssen bei der Prüfung, ob ungelernte Arbeiten in ihrer betrieblichen Bedeutung Ausbildungsberufen gleichstehen, solche Tarifverträge bleiben, die nach ihrer Struktur, insbesondere nach der allgemeinen Lohnhöhe im Vergleich zu dem für den bisherigen Beruf maßgebenden Tarifvertrag so wesentlich abweichen, daß sie nicht mehr als vergleichbar angesehen werden können. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Ecklohn bzw. der - jeweils niedrigste - Facharbeiterlohn gegenüber dem entsprechenden Tariflohn des für den Hauptberuf maßgebenden Tarifvertrags mehr als 20 % niedriger ist. Zu beachten ist jedoch, daß bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit die Frage, welche effektive Lohneinbuße ein Versicherter im Einzelfall in Kauf nehmen muß, keine Bedeutung hat.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 288

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