Leitsatz (amtlich)
Eine Auswanderung nach dem 8. Mai 1945 kann nur dann - ausnahmsweise - zur Berücksichtigung des Auslandsaufenthaltes als Ersatzzeit führen, wenn hierfür Nachwirkungen von Verfolgungsmaßnahmen als wesentliche Ursache mitbestimmend waren (Ergänzung zu und Fortführung von BSG 1970-07-01 4 RJ 353/69 = SozR Nr 46 zu § 1251 RVO).
Normenkette
RVO § 1251 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 23.06.1982; Aktenzeichen L 8 J 2/82) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 19.11.1981; Aktenzeichen S 7 J 54/81) |
Tatbestand
Streitig ist die Vormerkung einer weiteren Ersatzzeit.
Der am 25. September 1924 in Berlin geborene Kläger, Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG), besuchte bis zu seinem 13. Lebensjahr ein Privatgymnasium; dann wurde er als Jude vom weiteren Schulbesuch ausgeschlossen. Von November 1940 bis November 1942 arbeitete er zwangsweise in einer Fabrik. Als seine Eltern deportiert wurden, lebte er illegal. Im September 1944 wurde er zunächst in das Konzentrationslager (KZ) Auschwitz, später in das KZ Buchenwald verbracht. Nach seiner Befreiung zog er nach Berlin, um nach Angehörigen zu forschen; seine Eltern waren in der Verfolgung umgekommen. Im Mai 1946 heiratete er eine Verfolgte, deren Angehörige ebenfalls umgekommen waren. Mit Unterstützung einer jüdischen Hilfsorganisation wanderte er im Juni 1946 nach den Vereinigten Staaten aus.
Mit Bescheid vom 14. Juli 1980 erkannte die Beklagte eine Beitragszeit vom 25. November 1940 bis zum 25. November 1942 sowie Ersatzzeiten wegen verfolgungsbedingter Freiheitsentziehung und anschließender Krankheit vom 26. November 1942 bis zum 26. Juni 1946 an; die Vormerkung des Auslandsaufenthaltes lehnte sie ab, weil dieser erst nach dem 8. Mai 1945 begründet worden und deshalb kein Ersatzzeittatbestand sei.
Das Sozialgericht Düsseldorf hat die Beklagte verpflichtet, die Zeit vom 27. Juni 1946 bis zum 31. Dezember 1949 als weitere verfolgungsbedingte Ersatzzeit anzuerkennen (Urteil vom 19. November 1981). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im Urteil vom 23. Juni 1982 ausgeführt: Der Auslandsaufenthalt des Klägers sei entgegen der Auffassung der Beklagten verfolgungsbedingt. Der Kläger habe sich zur Auswanderung entschlossen, weil seine Eltern in der Verfolgung umgekommen seien und er verfolgungsbedingt keinen Beruf erlernt habe; darüber hinaus spreche alles dafür, daß er wegen der gegen ihn gerichteten unmittelbaren Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr in Deutschland habe leben wollen. Er sei nur zunächst an der Auswanderung gehindert gewesen, weil er erst seine Geburtsurkunde habe beschaffen müssen. Die Verfolgungsmaßnahmen seien die wesentliche Ursache für den Auswanderungsentschluß des Klägers gewesen; das werde durch objektive Umstände belegt.
Mit der zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, das LSG habe den Begriff des "durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufenen Auslandsaufenthaltes" zu weit ausgelegt. Die Auswanderung müsse unmittelbar durch Verfolgungsdruck oder - in Ausnahmefällen - durch eine dem Verfolgungsdruck etwa gleichwertige Nötigung bewirkt worden sein. Beim Verlassen Deutschlands erst nach dem Kriege lägen diese Voraussetzungen nur in Einzelfällen vor, etwa wenn verfolgungsbedingte Gesundheitsschäden nur im Ausland wirksam hätten behandelt werden können oder die Familienzusammenführung eine Auswanderung erforderlich gemacht habe.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist darauf hin, daß er sich sofort nach seiner Befreiung um die Auswanderung bemüht habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, daß die Zeit vom 27. Juni 1946 bis zum 31. Dezember 1949 als weitere Ersatzzeit vorzumerken ist.
Nach § 1251 Abs 1 Nr 4 Reichsversicherungsordnung (RVO) werden als Ersatzzeiten ua Zeiten eines Auslandsaufenthaltes bis zum 31. Dezember 1949 angerechnet, sofern der Auslandsaufenthalt durch Verfolgungsmaßnahmen iS des BEG hervorgerufen worden ist oder infolge solcher Maßnahmen angedauert hat, wenn der Versicherte Verfolgter ist.
Verfolgteneigenschaft und Auslandsaufenthalt stehen außer Streit. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der am 27. Juni 1946 begonnene Auslandsaufenthalt des Klägers auch durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen worden. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat bei Gesetzestatbeständen, bei denen es - wie hier im Verhältnis Verfolgungsmaßnahme/Auslandsaufenthalt - auf einen Kausalzusammenhang ankommt, den Begriff der wesentlichen Ursächlichkeit ("wesentlichen Teilursache") zunächst in der Kriegsopferversorgung und Unfallversicherung entwickelt und dann auf die - begrenzten - Anwendungsfälle der gesetzlichen Rentenversicherung übernommen (vgl BSG, Urteil vom 13. März 1958 - 4 RJ 184/56 = SozR Nr 5 zu § 1263a RVO aF). Er ist auch für den in § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO normierten ursächlichen Zusammenhang heranzuziehen (vgl hierzu BSG, Urteil vom 21. September 1959 - 1 RA 12/58 = BSGE 10, 173, 175 und vom 13. September 1978 - 5 RJ 86/77 = SozR 2200 § 1251 Nr 51 S 127). Danach ist wesentlich (nur) jede Ursache, die nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehungen zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (vgl Urteil vom 13. September 1978 aa0 unter Hinweis auf BSGE 13, 175, 176 = SozR Nr 32 zu § 542 RVO aF). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
Bei der Beantwortung der Frage, ob die Auswanderung verfolgungsbedingt war, können typische Geschehensabläufe berücksichtigt werden. So hat der erkennende Senat im Urteil vom 1. Juli 1970 (4 RJ 353/69 = SozR Nr 46 zu § 1251 RVO) bei Auswanderungen zwischen 1933 und Kriegsende eine vereinfachende Gesetzesauslegung dahingehend für vertretbar gehalten, in der Regel einen Auslandsaufenthalt nach § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO zu unterstellen (ähnlich der 1. Senat, der im Urteil vom 5. Juli 1978 - 1 RA 75/77 = SozR 2200 § 1251 Nr 49 von einem Beweis des ersten Anscheins ausgeht). Wenn somit im Ergebnis der zeitliche Zusammenhang die Vermutung eines ursächlichen Zusammenhangs begründen soll, so bedeutet dies aber andererseits nicht, daß die Berücksichtigung eines erst nach dem 8. Mai 1945 einsetzenden Auslandsaufenthaltes eines Verfolgten schlechthin ausgeschlossen sei. Hierzu hat der erkennende Senat bereits in dem erwähnten Urteil vom 1. Juli 1970 ausgeführt, es sei denkbar, daß über das Kriegsende hinaus fortdauernde oder später eingetretene Nachwirkungen nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen im Einzelfall erst in der Nachkriegszeit Anlaß zur Auswanderung gegeben hätten, in einem solchen Fall dürfte ein Kausalzusammenhang bestehen. Daran anknüpfend und im wesentlichen mit dem LSG übereinstimmend ist der Senat der Ansicht, daß eine Auswanderung nach dem 8. Mai 1945 dann - ausnahmsweise - zur Berücksichtigung des Auslandsaufenthaltes als Ersatzzeit führt, wenn hierfür Nachwirkungen von Verfolgungsmaßnahmen als wesentliche Ursache mitbestimmend waren. Zwar räumt auch die Beklagte die Möglichkeit eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes ein, dessen Beginn erst in die Nachkriegszeit fällt. Die Voraussetzungen, die sie hierfür maßgebend sein lassen möchte, sind jedoch zu eng. Sie meint, die Nachwirkungen der erlittenen Verfolgung müßten einen Zwang zur Auswanderung bewirkt haben, der dem Verfolgungsdruck während der Zeit des Nationalsozialismus in etwa gleichgekommen sei. Indessen wird ein Zwang zur Auswanderung selbst in den Fällen nicht verlangt, in denen der Verfolgte Deutschland zwischen 1933 und dem Kriegsende verlassen hat. Denn daß die Auswanderung durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen sein muß, ist mit einem verfolgungsabhängigen Zwang zur Auswanderung nicht gleichbedeutend und - soweit ersichtlich - einem solchen von Rechtsprechung und Verwaltungspraxis auch nicht gleichgesetzt worden. Insbesondere läßt sich in diesem Zusammenhang nach der Ansicht des Senats nicht die zu anderen Vorschriften, nämlich § 1315 Abs 1 Nr 1 RVO aF iVm § 1321 Abs 5 RVO aF entwickelte Rechtsprechung des BSG heranziehen zu der für die Auszahlung der vollen Rente ins Ausland entscheidenden Frage, ob Verfolgte, die nach Kriegsende Deutschland verließen, dies freiwillig oder unfreiwillig getan haben (vgl BSG, Urteil vom 20. Dezember 1967 - 12 RJ 596/64 = Mitt LVA Rheinprovinz ab 1968, 252 = Mitt Ruhrkn 1969, 112; Urteil vom 29. Mai 1968 - 4 RJ 407/67 = BSGE 28, 99); denn dort war über das sich aus dem Gesetz ergebende Begriffspaar freiwillig/unfreiwillig zu entscheiden, während der Wortlaut des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO hierüber nichts aussagt. Wenn die Beklagte gleichwohl einen "Zwang (oder eine Nötigung) zur Auswanderung" voraussetzen will, dann interpretiert sie im Ergebnis in den Gesetzeswortlaut das Tatbestandsmerkmal "unfreiwillig" hinein.
Im übrigen braucht auch bei der vom Senat für richtig geheißenen Lösung die von der Beklagten offenbar befürchtete Ausweitung des Anwendungsbereichs der Vorschrift nicht einzutreten. Denn zum einen reicht es für die Annahme einer wesentlichen Bedingung nicht schon aus, die frühere Verfolgung als Auswanderungsmotiv zu behaupten, sondern es müssen - wie bereits das LSG ausgeführt hat - objektive Umstände vorhanden sein, die den Auswanderungsentschluß maßgebend bestimmt haben. Andererseits spielt auch bei Nachkriegsauswanderungen der zeitliche Zusammenhang als Indiz für den ursächlichen Zusammenhang insofern eine Rolle, als grundsätzlich verlangt werden muß, daß der Verfolgte so bald wie möglich nach dem 8. Mai 1945 seine Auswanderung betrieben hat.
Die vorgenannten Kriterien hat das LSG bei seiner Entscheidung beachtet. Es hat - ohne daß insoweit Revisionsrügen erhoben worden sind - festgestellt, daß der Kläger sich zur Auswanderung entschlossen hatte, weil - wie er erst nach Kriegsende erfahren konnte - seine Eltern in der Deportation umgekommen waren. Er hatte verfolgungsbedingt keinen Beruf erlernt, war deshalb mittellos und wanderte mit Unterstützung einer jüdischen Hilfsorganisation im Juni 1946 nach den Vereinigten Staaten aus. Das Berufungsgericht hat ferner unwidersprochen ausgeführt, der einjährige Aufenthalt des Klägers in Berlin spreche nicht gegen sein Begehren; der Kläger sei zunächst deshalb an der Auswanderung gehindert gewesen, weil er sich erst eine Geburtsurkunde habe beschaffen müssen. Hinzu kommt, daß der Kläger am 8. Mai 1945 noch nicht volljährig gewesen, sondern dies erst am 25. September 1945 geworden ist. Schließlich sind verfolgungsunabhängige Umstände, die zur Auswanderung geführt haben könnten, nach den Feststellungen des Berufungsgerichts weder erkennbar noch von den Beteiligten vorgetragen worden.
Die hiernach vom LSG gezogene Schlußfolgerung, Verfolgungsmaßnahmen seien, wenn nicht die alleinige, so doch zumindest die wesentliche Ursache für die Auswanderung gewesen, läßt keine Rechtsfehler erkennen. Damit rechtfertigt sich die Vormerkung der streitigen Zeit als Ersatzzeit iS des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO. Die Revision der Beklagten konnte daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen