Leitsatz (amtlich)

Eine Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit, die aufgrund eines Verdachts auf eine schwere Erkrankung vorbehaltslos und unbefristet gewährt wurde, kann bei Wegfall des Krankheitsverdachts jedenfalls dann nicht in die Bergmannsrente umgewandelt oder entzogen werden, wenn für den Versicherten aus dem Bewilligungsbescheid nicht erkennbar war, daß die Rente wegen des Krankheitsverdachts nur unter Vorbehalt oder nur befristet gewährt wurde (Anschluß an BSG 1968-06-27 4 RJ 377/67 = BSGE 28, 137; BSG 1969-11-28 1 RA 181/68 = BSGE 30, 154).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1286 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21, § 86 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1957-05-21

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. September 1969 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der am 1. Juni 1921 geborene Kläger war nach der üblichen Berufsentwicklung bis zum 19. Juni 1961 51 Monate lang Abteilungssteiger. Die Beklagte gewährte ihm - ausgehend von diesem Beruf - mit Widerspruchsbescheid vom 17.August 1964 und Ausführungsbescheid vom 22. September 1964 die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit vom 1.April 1964 an. Grundlage dieser Bescheide war ein Gutachten des Dr. Schüler vom 29. Juni 1964, in dem angenommen worden war, es bestehe eine noch nicht ganz fixierte Hypertonie, eine vegetative Dysfunktion, eine hypochondrisch verfärbte Persönlichkeit und der Verdacht auf einen pyelonephritischen Prozeß. Die Beklagte wandelte die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit mit Bescheid vom 25. April 1966 vom 1. Juni 1966 an in die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit um, weil nach einem Gutachten des Dr. R vom 28. September 1965 in Verbindung mit einer ergänzenden Äußerung dieses Arztes vom 27. Dezember 1965 insofern eine Besserung eingetreten sei, als der früher ausgesprochene Verdacht auf einen pyelonephritischen Prozeß nicht bestätigt werden könne. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg.

Das mit der Klage angerufene Sozialgericht (SG) hat nach Vernehmung mehrerer Zeugen ein internistisches Gutachten des Dr. D vom 26. Juni 1967 und ein neurologischpsychiatrisches Gutachten des Dr. L vom 14. Juni 1967 eingeholt. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 11.September 1967 abgewiesen. Das vom Kläger angerufene Landessozialgericht (LSG) hat ein internistisches Gutachten der Ärzte der Städtischen Krankenanstalten Essen vom 22.Februar 1969 mit ergänzenden Stellungnahmen vom 2. September 1969 und 10. September 1969 eingeholt. Das LSG hat mit Urteil vom 16. September 1969 das Urteil des SG geändert und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 25. April 1966 und vom 8. August 1966 verurteilt, dem Kläger die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit über den Monat Mai 1966 hinaus nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, es sei nicht feststellbar, welche der damaligen medizinischen Diagnosen für die Gewährung der Rente entscheidend gewesen sei. Die damals festgestellten Gesundheitsstörungen beständen auch jetzt noch. Der damals geäußerte Verdacht eines pyelonephritischen Prozesses sei objektiv unbegründet gewesen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend, das LSG habe zu Unrecht angenommen, es sei nicht feststellbar, welche der 1964 gestellten medizinischen Diagnosen für die Gewährung der Rente entscheidend gewesen seien. Bei richtiger Würdigung der vorliegenden Gutachten stehe fest, daß der Verdacht auf eine Erkrankung der Nieren ursächlich für die Anerkennung der Berufsunfähigkeit und die Gewährung der Rente gewesen sei. Bei einem Verdacht auf eine nennenswerte, Berufsunfähigkeit bedingende Krankheit sei es zulässig und sogar geboten, so zu verfahren, als sei die Krankheit wirklich vorhanden, so daß die Rente zu gewähren sei. Bestätige sich dieser Verdacht später nicht, so müsse der Versicherte so gestellt werden, als ob die früher angenommene Krankheit bestanden habe, inzwischen aber ausgeheilt sei. Das LSG habe nicht Beweis darüber erheben dürfen, ob der Krankheitsverdacht objektiv gerechtfertigt gewesen sei, sondern es habe den Grund für die Rentenbewilligung und diese selbst als gegeben hinnehmen müssen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 11. September 1967 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig.

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das LSG hat die Beklagte im Ergebnis mit Recht zur Weitergewährung der Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt.

Die Voraussetzungen des § 86 Abs. 1 Satz 3 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) für die Umwandlung einer Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit in die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit liegen nicht vor. Es kommt nicht darauf an, ob der Kläger im Zeitpunkt der Rentenfeststellung berufsunfähig war und ob er seit dem Zeitpunkt der Rentenumwandlung berufsfähig ist, denn jedenfalls fehlt es an dem Erfordernis der Änderung der Verhältnisse. Es kann dahingestellt bleiben, welche der in dem Gutachten vom 29. Juni 1964 angenommenen Gesundheitsstörungen für die Gewährung der Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit maßgebend gewesen sind. Das LSG hat - von der Beklagten unangefochten und damit nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für das Revisionsgericht bindend - festgestellt, daß in den tatsächlich vorhanden gewesenen Gesundheitsstörungen (noch nicht ganz fixierte Hypertonie, vegetative Dysfunktion, hypochondrisch verfärbte Persönlichkeit) eine Änderung nicht eingetreten ist. Darüber hinaus hat das LSG angenommen, der in dem Gutachten vom 29. Juni 1964 geäußerte Verdacht auf einen pyelonephritischen Prozeß sei objektiv unbegründet und daher für die Rentengewährung nicht ursächlich gewesen. Selbst wenn man aber mit der Beklagten davon ausgeht, der Verdacht auf einen pyelonephritischen Prozeß sei für die Rentengewährung wesentlich gewesen, so berechtigte der Wegfall dieses Verdachts die Beklagte nicht, die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit in die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit umzuwandeln, denn in dem Wegfall des Verdachts liegt keine Änderung der Verhältnisse. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits mehrfach entschieden hat (BSG 17, 295; 28, 137; 30, 154), bietet das Gesetz dem Versicherungsträger keine rechtliche Handhabe, wegen des bloßen Verdachts auf das Vorliegen einer schweren Erkrankung eine Rente zu gewähren. Im Falle des Verdachts steht weder positiv noch negativ fest, ob die Erkrankung vorliegt. Es handelt sich also um einen Fall der Beweislosigkeit (non liquet). Da auch im Recht der Sozialversicherung die Grundsätze der objektiven Beweislast gelten (vgl. BSG 30, 278, 280 mit weiteren Hinweisen), geht die Beweislosigkeit einer Tatsache zu Lasten desjenigen, der aus ihr ein Recht herleitet. Das Vorliegen einer Krankheit gehört nach § 46 Abs. 2 RKG zu den anspruchsbegründenden Voraussetzungen, so daß die Beweislosigkeit dieser Tatsache zur Ablehnung des Anspruchs führen muß. Gewährt der Versicherungsträger dem Versicherten gleichwohl eine Rente, so gibt das Gesetz dem Versicherungsträger keine rechtliche Möglichkeit, die einmal bindend gewährte Rente zu entziehen, wenn der Krankheitsverdacht fortgefallen ist (vgl. BSG 28, 137; 30, 154). Der Beklagten ist zwar zuzugeben, daß in Fällen, in denen der Verdacht auf schwere Erkrankung besteht (z.B. Krebs oder multiple Sklerose), das dringende soziale Bedürfnis bestehen kann, dem Versicherten eine Leistung zu gewähren. Das ist in den zitierten Entscheidungen auch anerkannt worden. Den Versicherungsträgern bietet sich die Möglichkeit, die bereits in dem Urteil des 4. Senats vom 6. September 1962 (BSG 17, 295) aufgezeigt worden ist, diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen. Danach könnte und sollte der Versicherungsträger die Leistung in Fällen des Verdachts auf eine schwere Erkrankung ausdrücklich bis zur endgültigen Klärung des Befundes oder nur für eine befristete Zeit oder unter Vorbehalt des - begründeten - Widerrufs gewähren. Wenn eine Leistung über die gesetzliche Verpflichtung hinaus erbracht wird, bestehen keine Bedenken, sie, anders als in den Normalfällen, auch unter den genannten Bedingungen zu gewähren. Der Versicherte kann, falls er mit einer nur vorsorglich gewährten Rente nicht einverstanden ist, versuchen - in der Regel allerdings ohne Erfolg -, im Klagewege die Gewährung einer normalen Rente zu erreichen. Verfährt der Versicherungsträger danach, so bleibt er nicht verpflichtet, beim Wegfall des Krankheitsverdachts die Rente weiterzugewähren, auf die materiell ein Anspruch nicht besteht. Andererseits ist dem Bedürfnis Rechnung getragen, dem Versicherten bis zur Klärung des Befundes eine Leistung zu gewähren.

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit aber ohne jeden Vorbehalt festgestellt; für den Kläger war nicht erkennbar, daß der Verdacht auf einen pyelonephritischen Prozeß wesentlicher Faktor für die Rentengewährung war. Weder in dem Widerspruchsbescheid vom 17. August 1964 noch in dem Ausführungsbescheid vom 22. September 1964 ist von diesem Verdacht die Rede. Die Begründung des Widerspruchsbescheides vom 17. August 1964 mußte in dem Kläger vielmehr den Eindruck erwecken, daß die Verschlechterung der Blutdruckverhältnisse die für die Rentengewährung maßgebende Ursache sei. In einem solchen Fall kann auch nach dem Urteil vom 6. September 1962 (BSG 17, 295) der bloße Wegfall des Krankheitsverdachts die Rentenentziehung nicht rechtfertigen.

Die danach unbegründete Revision der Beklagten muß zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669980

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?