Entscheidungsstichwort (Thema)
Ruhen des Entschädigungsanspruchs eines Beschäftigten, der als polnischer Staatsangehöriger seit 1945 ständig in Polen lebt und 1943 in Schleswig-Holstein einen Arbeitsunfall erlitten hat
Leitsatz (amtlich)
1. Das IAOÜbk 19 geht als zwischenstaatliche Rechtsvorschrift der Ruhensbestimmung des RVO § 625 Abs 1 Nr 1 vor.
2. Einem im ehemaligen Gebiet Ostpreußen wohnhaften Unfallverletzten polnischer Staatsangehörigkeit, der 1943 im Gebiet der Bundesrepublik einen Arbeitsunfall erlitten hat, steht hiernach - ohne Rücksicht auf den sonst geltenden "Wohnsitzgrundsatz" - ein Anspruch auf Auszahlung der Unfallrente auch dann zu, wenn Polen seinerseits keine Gleichbehandlung gewähren, bzw deutschen Staatsangehörigen dort zugebilligte Unfallrenten nicht transferieren, sondern bei polnischen Bankinstituten deponieren sollte.
Orientierungssatz
Die Anwendung des RVO § 625 Abs 1 Nr 1 wird durch das Üb IAO 19 ausgeschlossen, da es der RVO als zwischenstaatliche Rechtsvorschrift vorgeht. Das Abkommen ist sowohl vom Deutschen Reich als auch von Polen 1928 ratifiziert worden. Zwar ist Deutschland 1935 aus der IAO ausgetreten, die Bundesrepublik hat aber anläßlich ihrer Wiederaufnahme in die IAO am 1951-06-12 eine Erklärung dahingehend abgegeben, daß die Verpflichtungen aus dem vom Deutschen Reich vor seinem Austritt ratifizierten Übereinkommen für sie verbindlich sind, soweit diese Verpflichtungen im Hoheitsbereich der Bundesrepublik entstanden sind oder entstehen. Damit ist die BG dem Grunde nach verpflichtet, dem Kläger nach den Vorschriften der RVO Verletztenrente zu gewähren. Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger seinen Wohnsitz in dem ehemaligen Gebiet Ostpreußens hat. Nach Üb IAO 19 Art 1 Abs 2 werden die Leistungen ohne Rücksicht auf den Wohnsitz des Geschädigten gewährt. Allein schon wegen der Höherrangigkeit dieses zwischenstaatlichen Rechtes kann der "Wohnsitzgrundsatz" (vergleiche BSG 1956-09-20 5 RKn 30/55 = BSGE 3, 286, 292; BSG 1962-06-29 2 RU 172/58 = BSGE 17, 144, 146) hier keine Anwendung finden. Im Verhältnis zu Polen taucht überdies das Problem einer "Doppelversorgung" für Unfallgeschädigte nicht auf. Ein deutscher Versicherungsträger darf nicht unter Hinweis auf eine fehlende Gegenseitigkeit von sich aus ohne weiteres eine Rentenzahlung ins Ausland verweigern. Hierzu bedürfte es eines Staatshoheitsaktes. Nach Üb IAO 19 Art 6 reicht für seine Anwendbarkeit bereits die gegenseitige Ratifikation aus. Das Abkommen ist also auch dann anzuwenden, wenn der andere Partnerstaat nicht volle Gleichbehandlung gewährt. Nach den Grundsätzen des Völkerrechts muß es der jeweiligen Regierung überlassen bleiben, was in einem solchen Falle zu tun ist. Der BMA (Erlaß vom 1962-07-16) hat sich deutscherseits ausdrücklich für eine notfalls auch einseitige Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Üb IAO 19 ausgesprochen und ist von dieser Auffassung, soweit ersichtlich, bisher nicht abgerückt. Ein Sonderabkommen ist nach Üb IAO 19 Art 1 Abs 2 nicht zwingend vorgeschrieben und kann daher nicht zur Voraussetzung für die Erfüllung der Leistung gemacht werden.
Normenkette
RVO § 625 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30, § 1546 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1924-12-15; IAOÜbk 19 Art. 1 Abs. 2 Fassung: 1925-06-05, Art. 6
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. Juli 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger, der als polnischer Staatsangehöriger in Polen lebt, Entschädigungsansprüche gegen die Beklagte wegen eines 1943 in S/Holstein erlittenen Arbeitsunfalles hat.
Der 1913 geborene Kläger wurde, nachdem er am 4. Dezember 1942 aus deutscher Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, am 7. Dezember 1942 aufgrund eigener Verpflichtung als Arbeiter bei den Verkehrsbetrieben des Kreises S/Holstein tätig. Dort erlitt er am 17. März 1943 einen Arbeitsunfall, der den Verlust des linken Auges zur Folge hatte.
Im Juni 1944 wurde er in seine Heimat entlassen und hält sich seit 1945 ständig in Polen - jetzt in G, dem früheren L/Ostpreußen - auf.
Mit Schreiben vom 10. Januar 1967 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Unfallrente. Nachdem die Beklagte mit mehreren formlosen Schreiben eine Leistung unter Hinweis auf die Ruhensvorschrift des § 625 Reichsversicherungsordnung (RVO) verweigert hatte, lehnte sie mit Bescheid vom 21. Juli 1972 die Gewährung einer Unfallrente ab, weil die Leistung nach § 625 Abs. 1 RVO ruhe und Verträge zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland, durch welche das Ruhen der Leistungen aufgehoben würde, nicht abgeschlossen worden seien.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die daraufhin erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 13. September 1973). Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat durch Beschluß vom 2. April 1974 die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, beigeladen und sodann durch Urteil vom 4. Juli 1974 die Beklagte unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 17. März 1943 Verletztenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, ein Ruhen des Anspruchs des Klägers auf Verletztenrente sei nicht eingetreten. Zwar ruhe nach § 625 Abs. 1 Nr. 1 RVO die Leistung für diejenigen ausländischen Staatsangehörigen, die sich freiwillig im Ausland aufhielten. Das gelte nach Art. 4 Abs. 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl I 241) - UVNG - auch für die Arbeitsunfälle, die sich vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1. Juli 1963 ereignet hätten. Das Ruhen der Leistung sei vorliegend jedoch durch das Übereinkommen Nr. 19 der Internationalen Arbeitsorganisation (LAO) ausgeschlossen. Denn nach dessen Art. 1 Abs. 1 sei die Gleichbehandlung bei der Entschädigung von Arbeitsunfällen für die Staatsangehörigen jedes anderen Mitgliedes vorgesehen, das das Übereinkommen ratifiziert habe. Dies sei von seiten Polens im Februar 1928, vom ehemaligen Deutschen Reich am 18. September 1928 geschehen. Die Bundesrepublik Deutschland habe die Verpflichtungen aus dem Abkommen durch ihre Erklärung vom 12.Juni 1951 soweit als verbindlich anerkannt, als diese Verpflichtungen im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland entstanden seien oder noch entständen. Da der Kläger den Arbeitsunfall in Schleswig erlitten habe, seien die Voraussetzungen des Abkommens Nr. 19 erfüllt. Dem stehe auch nicht entgegen, daß Polen die Anwendung des Übereinkommens seinerseits von dem Abschluß eines Sonderabkommens mit der Bundesrepublik Deutschland abhängig mache. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) stelle das Fehlen der Gegenseitigkeit keinen Grund für eine Leistungsverweigerung dar. Auch stehe der von der Rechtsprechung zur Entwirrung der sozialrechtlichen Beziehungen der Versicherten entwickelte "Wohnsitzgrundsatz" dem Anspruch des Klägers nicht entgegen, da nach Art. 1 Abs. 2 Satz 1 des Übereinkommens Nr. 19 die Gleichbehandlung ohne Rücksicht auf den Wohnsitz gewährt werde.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die zugelassene Revision eingelegt.
Zur Begründung hat sie ausgeführt, der "Wohnsitzgrundsatz" müsse vorliegend mit der Maßgabe der Nichtanwendung des § 625 RVO Anwendung finden, da sich der Kläger im früheren Lötzen/Ostpreußen, also in einem Gebiet aufhalte, das nach herrschender Auffassung kein Ausland im rechtlichen Sinne darstelle. Dabei komme es auf die Staatsangehörigkeit nicht an; dieser Grundsatz gelte also nicht nur für Deutsche. Daneben könne das vorgenannte Übereinkommen gegenüber Polen nicht angewandt werden, da Polen dessen Anwendung von dem Abschluß eines Sonderabkommens abhängig mache, das bislang jedoch noch nicht getroffen worden sei. Außerdem bedeute der im Übereinkommen enthaltene Grundsatz der Gleichbehandlung lediglich, daß der Berechtigte einer anderen Staatsangehörigkeit Anspruch auf diejenigen Leistungen habe, die einem Deutschen in gleicher Lage zustehen würden. Da aber die in Polen lebenden Deutschen nach dem "Wohnsitzgrundsatz" keine Ansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland geltend machen könnten, habe eine Gleichbehandlung polnischer Staatsangehöriger zur Folge, daß ihnen auch keine Ansprüche nach deutschem Recht zustehen könnten. Im übrigen hätte das LSG zumindest für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Warschauer Vertrags Leistungen nach dem Übereinkommen Nr. 19 ablehnen müssen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG Hamburg vom 4. Juli 1974 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hamburg vom 13. September 1973 zurückzuweisen, hilfsweise den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beigeladene hat sich im Revisionsverfahren weder zur Sache geäußert noch einen Antrag gestellt.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten gegen das ihr am 23. August 1974 zugestellte LSG-Urteil ist zwar erst nach Ablauf der für sie geltenden Revisionsfrist von einem Monat, nämlich am 7. Oktober 1974, eingelegt und begründet worden, die Rechtsmittelbelehrung in diesem Urteil ist jedoch unrichtig, weil sie ohne Einschränkung die Einlegung der Revision innerhalb dreier Monate für zulässig erklärt und deshalb die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG läuft. Die sonach statthafte Revision ist jedoch nicht begründet.
Da der Kläger den Arbeitsunfall im Zusammenhang mit einer Tätigkeit innerhalb der Bundesrepublik Deutschland auf deren Hoheitsgebiet erlitten hat, handelt es sich um keinen Fremdrentenfall (vgl. § 5 des Fremdrentengesetzes); vielmehr ist die Entscheidung aufgrund der Vorschriften der RVO zu treffen. Dabei ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, daß ein Ruhen der Verletztenrente des Klägers nach § 625 Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht eingetreten ist. Zwar ruht nach der vorgenannten Vorschrift, die nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG auch für vor Inkrafttreten des UVNG eingetretene Arbeitsunfälle gilt, die Leistung, solange der Berechtigte weder Deutscher i.S. des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) noch früherer deutscher Staatsangehöriger i.S. des Art. 116 Abs. 2 GG ist und sich freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs des GG aufhält. Diese Voraussetzungen liegen im Falle des Klägers vor, da dieser polnischer Staatsangehöriger ist und seit 1945 freiwillig seinen ständigen Wohnsitz in dem von Polen besetzten Teil Ostpreußens hat, das nicht zum Geltungsbereich des GG zählt (vgl. Miesbach-Baumer, Die gesetzliche Unfallversicherung, Stand: Januar 1975, Anm. 9 zu § 625 RVO; Lauterbach, Unfallversicherung, Band II, 3. Aufl., Stand: Dezember 1974, Anm. 2 zu § 625 RVO; s. auch Schroeder-Printzen, DOK 1970, 293, 296). Die Anwendung des § 625 RVO wird in dem zu entscheidenden Fall jedoch durch das Übereinkommen Nr. 19 der IAO ausgeschlossen, das der RVO als zwischenstaatliche Rechtsvorschrift vorgeht (vgl. Art. 25 GG; BSG Urteil vom 25. Mai 1965 - Az. 1 RA 251/62 -; Urteil vom 30. April 1975 - Az. 12 RJ 180/74 -; LSG NRW in Breithaupt 1970 S. 483; Lauterbach aaO Anm. 20 zu § 625 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., Band I/2, Stand: Februar 1975, S. 296 f; Plöger, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, 44. Nachtragslieferung, Allgemeiner Teil V, 1 S. 89).
Das Übereinkommen Nr. 19 vom 5. Juni 1925 betr. die Gleichbehandlung einheimischer und ausländischer Arbeitnehmer bei Entschädigung aus Anlaß von Betriebsunfällen ist vom Deutschen Reich durch Gesetz vom 21. Juli 1928 (RGBl II S. 509, BEK. v. 27. Dezember 1928 - RGBl II 1929 S. 13) und von Polen am 28. Februar 1928 (Plöger aaO Allgemeiner Teil V, 2 S. 104; Müller in BG 1929, S. 348 ff; Gissler in BG 1958 S. 209; Pesch in SGb 1968 S. 59) ratifiziert worden und für das Deutsche Reich am 18. September 1928 in Kraft getreten (RGBl II 1929, 13). Der Austritt Deutschlands aus der IAO, der im Jahre 1935 wirksam wurde, ist auf die jetzige Anwendung des Übereinkommens Nr. 19 ohne Wirkung geblieben (vgl. Gissler aaO S. 209). Denn die Bundesrepublik Deutschland hat anläßlich ihrer "Wiederaufnahme" in die IAO am 12. Juni 1951 eine Erklärung dahingehend abgegeben, daß die Verpflichtungen aus dem vom Deutschen Reich vor seinem Austritt ratifizierten Übereinkommen für sie verbindlich sind, soweit diese Verpflichtungen im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind oder entstehen (vgl. BMA-Erlaß vom 8. August 1951, BABl 1951 S. 389; BSG 30, 226, 227; Plöger aaO S. 102; Brackmann aaO S. 296 h I; Gissler aaO, Pesch aaO). Diese Erklärung bedeutet, daß das Übereinkommen Nr. 19 bei im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland entstandenen Arbeitsunfällen unmittelbar von ihren Unfallversicherungsträgern anzuwenden ist (vgl. BMA aaO; BSG 30, 227; Plöger aaO).
Nach Art. 1 Abs. 1 des vorgenannten Übereinkommens verpflichtet sich jedes Mitglied der IAO, das dieses Übereinkommen ratifiziert, den Staatsangehörigen jedes anderen, das Übereinkommen ratifizierenden Mitglieds, die auf seinem Gebiet einen Betriebsunfall erlitten haben, oder ihren Hinterbliebenen die gleiche Behandlung bei der Entschädigung aus Anlaß von Betriebsunfällen zu gewähren, wie seinen eigenen Staatsangehörigen. Demnach ist die Beklagte dem Grunde nach verpflichtet, dem Kläger nach den Vorschriften der RVO Verletztenrente zu gewähren, da dieser auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Dem steht auch nicht - wie die Revision meint - entgegen, daß der Kläger seinen Wohnsitz in dem ehemaligen Gebiet Ostpreußens hat. Denn nach Art. 1 Abs. 2 des Übereinkommens Nr. 19 wird die Gleichbehandlung den ausländischen Arbeitnehmern und ihren Hinterbliebenen ohne Rücksicht auf ihren Wohnsitz gewährt. Allein schon wegen der Höherrangigkeit dieses zwischenstaatlichen Rechts (vgl. Lauterbach aaO Anm. 20 zu § 625 RVO; Plöger aaO S. 89) kann der durch die Rechtsprechung des BSG entwickelte "Wohnsitzgrundsatz" (vgl. u.a. BSG 3, 286, 292; 17, 144, 146) keine Anwendung finden. Denn dieser Rechtsgrundsatz ist zur Regelung der Verhältnisse zwischen Versicherungsträgern und Berechtigten im zweigeteilten Deutschland geschaffen worden (vgl. BSG in SGb 1969, 294 ff = SozR § 615 aF RVO Nr. 4). Auf das gesetzlich geregelte Auslandsrentenrecht hat die Entwicklung dieser speziell für die Entwirrung der innerdeutschen sozialrechtlichen Verhältnisse bestimmten Regeln keinen Einfluß (vgl. BSG SGb aaO S. 296). Darüber hinaus erscheint es dem erkennenden Senat weder geboten noch statthaft, entgegen dem höherrangigen zwischenstaatlichen Recht ein selbständiges "Ausländerrecht" für diejenigen ausländischen Versicherten zu entwickeln, die sich, nachdem sie im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland einen Arbeitsunfall erlitten haben, wieder freiwillig in ihrem Heimatland aufhalten (vgl. insoweit auch BSG 34, 161 ff; BSG in SGb aaO). Außerdem ist zu beachten, daß nach dem Jahresbericht 1950/51 der polnischen Regierung (abgedruckt in Plöger aaO S. 108) polnische Staatsangehörige, die im Ausland einen Arbeitsunfall erlitten haben, nach der Rückkehr nach Polen Leistungen aus der polnischen Unfallversicherung nur erhalten, wenn sie aus dem Lande, in dem sich der Unfall ereignet hat, keine Rente beziehen. Das bedeutet aber, daß das Problem der "Doppelversorgung", für das der Wohnsitzgrundsatz gerade entwickelt worden ist, im Verhältnis zu Polen ersichtlich keine Rolle spielt.
Auch trifft die Auffassung der Revision bezüglich der fehlenden Reziprozität des Übereinkommens Nr. 19 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen nicht zu. Wie der 2. Senat des BSG (13, 206, 210; 30, 226, 228 mit weiteren Nachweisen) bereits mehrfach entschieden hat, darf der einzelne deutsche Versicherungsträger das Fehlen einer faktischen Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Polen von sich aus nicht ohne weiteres zum Anlaß nehmen, die Rentenzahlung ins Ausland zu verweigern. Ein solches unter den Begriff der Repressalie fallendes Verhalten wäre völkerrechtlich keinesfalls einem einzelnen Versicherungsträger gestattet; vielmehr bedürfte es hierzu eines Staatshoheitsaktes, der eine Verweigerung der Leistung nach dem Übereinkommen Nr. 19 zum Inhalt haben müßte (vgl. auch Gissler aaO S. 211 ff; Pesch aaO S. 62; Erlaß des BMA vom 14. August 1954, veröffentlicht in Plöger aaO S. 106 - 109; a.A. LSG NRW in Breithaupt 1966, 123; 1967, 477; Lauterbach aaO Anm. 52 zu § 625 RVO; Miesbach/Baumer aaO Anm. 3 zu § 625 RVO). Dieser vom 2. Senat vertretenen Auffassung schließt sich der erkennende Senat an.
Wenn dagegen Lauterbach aaO und das LSG NRW (Breithaupt 1970, 483 ff) die Auffassung vertreten, eine rein theoretische Gegenseitigkeit, die durch die Ratifizierung eintrete, sei für die Praxis nicht ausreichend; solange nicht feststehe, daß auch die Staaten des Ostblocks, die das Abkommen ratifiziert hätten, entsprechend dem Übereinkommen Nr. 19 verfahren und an deutsche Staatsangehörige in dem gleichen Umfange und unter den gleichen Voraussetzungen Leistungen gewährten wie ihren eigenen Staatsangehörigen, sei eine Leistung der deutschen Versicherungsträger aufgrund des vorgenannten Übereinkommens nicht zumutbar, so ist diesem folgendes entgegenzuhalten: Zwar kann als Regel angenommen werden, daß bei allen zwischenstaatlichen Verhandlungen und Verträgen Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit geprüft werden. Wieweit dabei aber Zugeständnisse von den Vertragspartnern gemacht werden, unterliegt nicht der rechtlichen Beurteilung, sondern ist eine politische Frage (vgl. Brackmann aaO S. 296 k I). Daneben reicht - wie auch das LSG NRW einräumt (Breithaupt 1970, 484) - nach dem Wortlaut des Übereinkommens Nr. 19 - vgl. Art. 6 - für seine Anwendbarkeit bereits allein die gegenseitige Ratifikation aus. Demgemäß hat auch der Bundesminister für Arbeit (BMA) in seinem Rundschreiben vom 29. April 1952 (abgedruckt in Plöger aaO S. 105 ff) ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das Übereinkommen Nr. 19 keine Reziprozität voraussetzt, so daß jeder Signatarstaat auch dann zur Gleichbehandlung der Angehörigen eines anderen Signatarstaates verpflichtet ist, wenn dieser entgegen den ihm obliegenden Pflichten den Angehörigen des ersteren Staates nicht oder nicht volle Gleichbehandlung gewährt (Plöger aaO S. 107). Der BMA hat in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten der Bundesregierung dargetan, auf die Erfüllung der übernommenen Pflichten hinzuwirken. Diese bestehen darin, entweder in dem alljährlich dem Internationalen Arbeitsamt zu erstattenden Bericht auf die Mißstände hinzuweisen und so den "Sachverständigenausschuß für die Anwendung der Übereinkommen und Empfehlungen" zu veranlassen, der Arbeitskonferenz zu empfehlen, den fraglichen Staat um nähere Auskünfte zu ersuchen und ggf. zur Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten anzuhalten oder bei dem Internationalen Arbeitsamt nach Maßgabe der Verfassung der IAO gegen den vertragsbrüchigen Staat Klage zu erheben. Keinesfalls kann es aber - wie oben bereits ausgeführt - im Machtbereich des einzelnen Versicherungsträgers liegen, von sich aus Leistungen an Ausländer, die im Ausland wohnen, zu verweigern; vielmehr bleibt es nach den Grundsätzen des Völkerrechts der jeweiligen Regierung überlassen, was sie in einem solchen Fall zu tun gedenkt.
In Erkenntnis der gegebenen politischen Umstände hat aber der BMA (Erlaß vom 16. Juli 1962, abgedr. in Plöger aaO S. 109/2; vgl. auch Pesch aaO S. 62) sich deutscherseits ausdrücklich für eine notfalls auch einseitige Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen Nr. 19 ausgesprochen, und er ist von dieser Auffassung - soweit ersichtlich - bisher nicht abgerückt (vgl. Pesch aaO S. 62). Zwar ist zuzugestehen, daß eine ggf. nur einseitige Erfüllung des Übereinkommens Nr. 19 unbefriedigend erscheint. Es darf aber nicht verkannt werden, daß einem Teil der ratifizierenden Staaten schon von Anfang an klar sein mußte, daß eine gewisse Einseitigkeit nicht ausgeschlossen werden konnte; ob diese Möglichkeit auch von der Bundesregierung bei Wiedereintritt in die IAO im Jahre 1951 bewußt in Kauf genommen worden ist (vgl. Pesch aaO S. 62), kann dahinstehen. Jedenfalls mußte sie damit rechnen. Dies geht schon aus der Liste der ratifizierenden Länder hervor, von denen ein Teil wie z.B. Bangladesch (1927), Burundi (1927), Ghana (1926) - vgl. Lauterbach aaO Anm. 54 zu § 625 RVO -, um nur einige Entwicklungsländer zu nennen, wegen der dort herrschenden Verhältnisse wohl kaum eine Gewähr der Gleichbehandlung und der Gegenseitigkeit mit deutschen Versicherungsleistungen bieten können. Im übrigen sind nach Art. 3 des Übereinkommens Nr. 19 nicht einmal gewisse Mindestanforderungen verbindlich festgelegt worden, sondern die Mitglieder, die noch keine entsprechenden Entschädigungseinrichtungen besitzen, haben sich lediglich "einverstanden" erklärt, eine derartige Regelung innerhalb dreier Jahre nach der von ihnen vollzogenen Ratifikation einzuführen. Unter den gegebenen Umständen erübrigten sich nähere Erörterungen darüber, ob eine unbefriedigende Einseitigkeit hier etwa deshalb nicht besteht, weil Polen - wie die Beigeladene berichtet hat - Unfallrenten zwar zubillige, jedoch grundsätzlich nicht nach Deutschland transferiere, sondern bei polnischen Bankinstituten deponiere, wo die Beträge für den Verbrauch in Polen abgehoben werden könnten. Wenn dies so ist, so sollten jedenfalls einer späteren gegenseitigen Verrechnung keine unüberwindlichen Hindernisse entgegenstehen.
Bezüglich des von der Revision geforderten Sonderabkommens zu dem Übereinkommen Nr. 19 ist darauf hinzuweisen, daß ein solches nach Art. 1 Abs. 2 des Übereinkommens nicht zwingend ist, d.h. keine zwingende Voraussetzung für die Erfüllung der im Übereinkommen bestehenden Verpflichtung darstellt (Plöger aaO S. 104 unter Hinweis auf die amtliche Auslegung durch das IAO), sondern nur "nötigenfalls" zu vereinbaren ist. Devisenrechtliche Transferschwierigkeiten können hier - wie auch in anderen Bereichen - beachtliche Hindernisse darstellen, deren Beseitigung oder Milderung außenpolitischem Verhandlungsgeschick überlassen bleiben muß.
Im übrigen bestätigt das am 9. Oktober 1975 unterzeichnete Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung, das noch nicht ratifiziert ist, in Artikel 15 Abs. 4 die vom erkennenden Senat vertretene Rechtsauffassung und bringt außerdem zum Ausdruck, daß es das vorliegende Urteil unberührt läßt (Abs. 3 aaO - vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung vom 10. 10. 1975 S. 1196).
Die Verpflichtungen aus dem Übereinkommen Nr. 19 der IAO sind ab Wiedereintritt der Bundesrepublik Deutschland am 12. Juni 1951 wirksam geworden, weshalb die fälligen Leistungen - unabhängig vom Warschauer Vertrag - an sich ab 1. Juli 1951 erstmals gewährt werden könnten (vgl. Lauterbach aaO Anm. 39 zu § 625 RVO; Plöger aaO S. 105; Gissler aaO S. 212). Der Kläger hat jedoch erst mit Schreiben vom 10. Januar 1967 bei der Beklagten einen Antrag auf Rentengewährung gestellt. Nach dem hier anwendbaren § 1546 Abs. 1 RVO aF - die durch das UVNG ab 1. Juli 1963 eingeführte Neufassung dieser Vorschrift gilt nur für Arbeitsunfälle, die sich nach seinem Inkrafttreten ereignet haben (vgl. Art. 4 §§ 1, 2 und 16 des UVNG) - war der Anspruch auf Unfallentschädigung, wenn diese nicht von Amts wegen festgestellt wurde, zur Vermeidung eines Ausschlusses spätestens zwei Jahre nach dem Unfall anzumelden. Aus den Unfallakten (vgl. insbesondere Bl. 46) ist jedoch zu entnehmen, daß ein Heilverfahren aus Anlaß des Unfalls durchgeführt und abgeschlossen worden ist. Darin ist aber eine Feststellung der Unfallentschädigung von Amts wegen i.S. des § 1546 Abs. 1 Satz 1 RVO aF zu erblicken (vgl. BSG in SozR Nr. 6 zu § 1546 RVO mit weiteren Nachweisen). Da somit ein Anspruchausschluß nach § 1546 RVO nicht zum Zuge kommen dürfte, bleibt der Beklagten die Prüfung überlassen, ab wann die Rente zu gewähren ist. Aus dem Antragsschreiben des Klägers ist zu schließen, daß er diese erst ab Antragstellung ("jetzt") begehrt. Anderenfalls hätte die Beklagte zu erwägen, ob sie unter Berücksichtigung des Erlasses des BMA vom 8. August 1951 (BABl 1951 S. 389) und des danach zu fordernden Antrages des ausländischen Berechtigten die Einrede der Verjährung (vgl. § 29 Abs. 3 RVO) erheben will. Denn die Verjährungsbestimmungen des § 29 RVO sind auf die Entschädigungsansprüche von ausländischen Staatsangehörigen, für die das Übereinkommen Nr. 19 gilt, ebenso anzuwenden wie auf Ansprüche inländischer Berechtigter (vgl. Gissler aaO S. 212). Im übrigen wird zur Frage einer etwaigen rechtsmißbräuchlichen Berufung auf die Versäumung der Anschlußfrist des § 1546 RVO aF auf BSG 10, 88 ff und 14, 246, 250 verwiesen.
Nach alledem erwies sich die Revision gegen das Grundurteil des LSG als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen