Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Hannover |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. November 1997 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt Altersrente für langjährig Versicherte auch für die Zeit vom 1. Juni 1993 bis 28. Februar 1995.
Die am 23. Mai 1930 geborene Klägerin bezog von der Beklagten seit dem 1. Juni 1990 Altersruhegeld wegen Vollendung des 60. Lebensjahres für weibliche Versicherte gemäß § 1248 Abs 3 RVO. Dieser Rente lagen ua Kindererziehungszeiten zugrunde. Mit Bescheid vom 26. April 1992 erhöhte die Beklagte die Rente ab 1. Januar 1992 um einen Zuschlag gemäß Art 82 RRG 1992.
Im März 1995 suchte die Klägerin die Auskunfts- und Beratungsstelle der Beklagten in B. E. auf und erkundigte sich nach einer Erhöhung des Rentenzahlbetrages durch Umwandlung der Rente in eine Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 36 SGB VI. Im April 1995 stellte sie sodann einen entsprechenden Rentenantrag, worauf ihr die Beklagte mit Bescheid vom 26. April 1995 anstelle der bisherigen Rente ab 1. April 1995 Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 36 SGB VI gewährte. Der monatliche Rentenbetrag erhöhte sich daraufhin um 313,81 DM. Mit ihrem Widerspruch verlangte die Klägerin die Rente bereits ab Vollendung ihres 63. Lebensjahres (23. Mai 1993). Zur Begründung berief sie sich darauf, von der Beklagten nicht über die Möglichkeit einer entsprechenden Antragstellung informiert worden zu sein. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26. September 1995 zurück und führte aus: Eine Rentengewährung komme erst ab dem Antragsmonat in Betracht. Von Amts wegen habe eine Umwandlung der Rente nicht vorgenommen werden können.
Im Klageverfahren hat sich die Beklagte mit dem von der Klägerin angenommenen Teilanerkenntnis vom 10. März 1997 verpflichtet, Altersrente für langjährig Versicherte bereits ab März 1995 zu gewähren. Die weitergehende Klage hat das SG durch Urteil vom 10. März 1997 abgewiesen. Mit dem während des Berufungsverfahrens ergangenen Ausführungsbescheid vom 25. April 1997 gewährte die Beklagte der Klägerin – in Abänderung des Bescheides vom 26. April 1995 – die Altersrente ab März 1995.
Das LSG hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 20. November 1997 zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Ein vor März 1995 gestellter Rentenantrag könne nicht im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs wegen Verletzung der die Beklagte aus §§ 14, 15 SGB I treffenden Aufklärungspflichten fingiert werden. Vor diesem Zeitpunkt habe für die Beklagte kein Anlaß bestanden, die Klägerin auf einen Antrag bezüglich einer Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 36 SGB VI hinzuweisen. Vorher habe die Klägerin sich nicht mit einem Beratungs- oder Auskunftsersuchen an die Beklagte gewandt. Die Beklagte sei auch nicht in einer Weise mit der Rentenangelegenheit der Klägerin befaßt gewesen, die ihr einen konkreten Anlaß hätte geben müssen, die Klägerin auf ihr Antragsrecht hinzuweisen. Insbesondere sei ein solcher Anlaß nicht in der Rentenerhöhung durch den Bescheid vom 26. April 1992 zu sehen. Der Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten gemäß Art 82 RRG 1992 stelle keine Neufeststellung der Rente iS von § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI dar. Es handele sich hierbei nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl BT-Drucks 11/4124, S 238 f zu Art 74) um ein maschinell abzuwickelndes typisiertes Verfahren, das eine individuelle Betrachtung mit daraus ggf folgenden Hinweispflichten nicht enthalte. Die Beklagte sei auch nicht ohne konkreten Anlaß zu einer entsprechenden Beratung der Klägerin verpflichtet gewesen. Eine solche Pflicht folge schließlich nicht aus § 115 Abs 6 SGB VI. Ein „geeigneter Fall” iS dieser Vorschrift habe nicht vorgelegen. Denn es gehe im Fall der Klägerin nicht um die Umwandlung einer vorzeitigen Rente in eine Regelaltersrente. Außerdem hätte sich erst durch eine individuelle Betrachtung des Versicherungsverlaufs der Klägerin ergeben können, ob sie ein Interesse an einem Antrag auf Rente nach § 36 SGB VI hätte haben können.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§§ 14, 15 SGB I iVm § 109 SGB VI sowie § 115 Abs 6 SGB VI) und trägt im wesentlichen vor: Die Beklagte habe gegen ihre Beratungspflicht aus § 14 SGB I verstoßen. Auch wenn die Neuberechnung der Rentenleistungen nach Inkrafttreten des RRG 1992 durch Art 82 keine Neufeststellung einer Rentenleistung iS von § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI sei, so werde doch über diese Neuberechnung durch einen Bescheid entschieden. Aus Anlaß dieses Verwaltungsverfahrens bestehe für die Beklagte die Verpflichtung, eine Beratung durchzuführen. Angesichts der gespeicherten Daten über Kindererziehungszeiten habe ein Beratungsbedarf bestanden. Ferner sei die Beklagte gemäß § 15 SGB I iVm § 109 SGB VI von Amts wegen zur Erteilung einer Rentenauskunft verpflichtet gewesen. Sie habe schließlich auch gemäß § 115 Abs 6 SGB VI auf eine Antragstellung hinwirken müssen.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. November 1997 und des Sozialgerichts Hannover vom 10. März 1997 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 26. April 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. September 1995 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. April 1997 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Altersrente auch vom 1. Juni 1993 bis 28. Februar 1995 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und ist der Auffassung, daß kein Verstoß gegen Beratungspflichten vorliege.
II
Die Revision der Klägerin ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur weiteren Sachaufklärung begründet. Der Senat konnte aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob die Klägerin einen Anspruch auf Altersruhegeld bereits vor dem 1. März 1995 hat. Das LSG wird dazu weitere Ermittlungen anzustellen haben, die sich im einzelnen aus den nachstehenden Ausführungen ergeben.
Die Klägerin erfüllt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 36 SGB VI. Ein früherer Rentenbeginn als März 1995 (Bescheid der Beklagten vom 25. April 1997) scheidet in Anwendung der Vorschrift des § 99 Abs 1 Satz 1 SGB VI aus, weil der Antrag (März 1995) erst nach Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats gestellt worden ist, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt waren (hier: 1. Juni 1993). Ob die Klägerin jedoch im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen ist, als hätte sie den Antrag vor März 1995 gestellt, läßt sich nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht beurteilen.
Allerdings hat die Beklagte keine Auskunftspflicht gemäß § 15 SGB I iVm § 109 SGB VI verletzt. Die Klägerin verkennt insoweit, daß § 109 Abs 1 Satz 1 SGB VI die Beklagte nur hinsichtlich der Regelaltersrente, dh einer Rente iS von § 35 SGB VI nach Vollendung des 65. Lebensjahres, zu einer Auskunftserteilung von Amts wegen verpflichtet, während andere Rentenauskünfte nur auf Antrag zu erteilen sind (§ 109 Abs 1 Satz 2 und 3, Abs 2 und 3 SGB VI). Die vorliegend streitige Altersrente iS von § 36 SGB VI stellt indessen keine Regelaltersrente dar.
Ob die Klägerin im Hinblick auf § 14 SGB I oder § 115 Abs 6 SGB VI im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen ist, als hätte sie die Altersrente innerhalb der Frist des § 99 Abs 1 Satz 1 SGB VI beantragt, kann auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht entschieden werden. Soweit das LSG zur Verneinung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs die Meinung vertreten hat, die Beklagte habe ihre (spontane) Beratungspflicht gegenüber der Klägerin nach § 14 SGB I verletzt, fehlen ausreichende Feststellungen darüber, ob die Beklagte die Rentenakte der Klägerin aus Anlaß der Rentenerhöhung zum 1. Januar 1992 sowie der späteren Rentenanpassungen tatsächlich nur maschinell bearbeitet hat, was vom LSG aufzuklären ist (nachfolgend Nr 1). Der Begründung des LSG für die Verneinung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs wegen Verletzung der Hinweispflicht nach § 115 Abs 6 SGB VI mangelt es an ausreichenden Feststellungen dafür, ob und ggf inwieweit die Umwandlungsfälle einer Altersrente gemäß § 1248 Abs 3 RVO in eine Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 36 SGB VI „geeignet” sind, einen Rentenantrag anzuregen (BSG Urteil vom 9. Dezember 1997 - 8 RKn 1/97 - BSGE 81, 251 = SozR 3-2600 § 115 Nr 2). Das LSG wird hierzu aufzuklären haben, ob und mit welchen Mitteln im Rentenbestand der Beklagten eine ins Gewicht fallende Erhöhung des Zahlbetrags der Rente typischerweise bei einer umschriebenen Gruppe von Versicherten feststellbar war und von welchem Zeitpunkt ab es der Beklagten möglich war, dies zu erkennen (nachfolgend Nr 2).
1. Die Klägerin hätte nur dann einen Anspruch, so gestellt zu werden, als hätte sie die Drei-Monats-Frist des § 99 Abs 1 Satz 1 SGB VI nicht versäumt, wenn die Beklagte konkret verpflichtet war, sie sowohl über die Möglichkeit des Wechsels zur Altersrente für langjährig Versicherte iS von § 36 SGB VI, als auch über die Ausschlußfrist des § 99 Abs 1 SGB VI zu beraten, und wenn sie diese Pflicht verletzt hat. Das läßt sich anhand der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht entscheiden. Eine Verletzung von Beratungs- und Auskunftspflichten mit der Folge des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ohne ein vom Versicherten herangetragenes Auskunfts- und Beratungsbegehren (sog Spontanberatung) wird vom BSG in ständiger Rechtsprechung, von der auch das LSG ausgeht, nur dann anerkannt, wenn sich im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens ein konkreter Anlaß ergibt, den Versicherten spontan auf klar zutage liegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängen und die jeder verständige Versicherte mutmaßlich nutzen würde (BSG Urteile vom 17. April 1986 - 7 RAr 81/84 - BSGE 60, 79 = SozR 4100 § 100 Nr 11, vom 25. Januar 1996 - 7 RAr 60/94 - SozR 3-3200 § 86a Nr 2 und vom 22. Oktober 1996 - 13 RJ 69/95 - SozR 3-1200 § 14 Nr 22, jeweils mwN). Die Annahme eines konkreten Anlasses für die Beratung setzt im allgemeinen voraus, daß zumindest tatsächlich eine Sachbearbeitung durch einen Mitarbeiter der Beklagten stattgefunden hat, und nicht nur eine EDV-gestützte Abarbeitung massenhafter Rentenfälle. Dazu fehlen Feststellungen des LSG. Das LSG hebt allein darauf ab, daß die Rentenerhöhung um den Zuschlag gemäß Art 82 RRG 1992 keine Neufeststellung der Rente iS von § 300 Abs 3 Satz 1 SGB VI darstelle, sondern nach dem Willen des Gesetzgebers ein maschinell abzuwickelndes typisierendes Verfahren. Die Auffassung mag zutreffen, ist aber hier unerheblich, weil nicht festgestellt wurde, wie dieses Verfahren im Fall der Klägerin gehandhabt worden ist. Hat sich jedoch ein Sachbearbeiter persönlich mit dem Versicherungs- oder Leistungsverhältnis der Klägerin befaßt, so bleibt festzustellen, ob der Wechsel zur Rente für langjährig Versicherte eine im obigen Sinne klar zutage tretende Gestaltungsmöglichkeit des Versicherungs- oder Leistungsverhältnisses war, die auch jeder verständige Versicherte mutmaßlich nutzen würde.
2. Grundsätzlich kommt der sozialrechtliche Herstellungsanspruch auch nach einer Verletzung der aus § 115 Abs 6 SGB VI resultierenden Hinweispflicht auf einen Rentenantrag in Betracht. Danach sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, daß sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. Die Rentenversicherungsträger können in gemeinsamen Richtlinien bestimmen, unter welchen Voraussetzungen solche Hinweise erfolgen sollen.
§ 115 Abs 6 SGB VI hat den Sinn und Zweck, Versicherte in bestimmten Fällen vor den Nachteilen des in § 99 SGB VI festgelegten Antragsprinzips zu bewahren, zumindest dann, wenn sie im Hinblick auf die komplizierte gesetzliche Regelung schwierig vorauszusehen sind. Die Regelung ist kein unverbindlicher Programmsatz (so im Ergebnis jedoch Meyer in GemeinschaftsKomm-SGB VI, § 115 RdNr 44, Stand: November 1992). Vielmehr hat dann, wenn die Adressaten derartiger Hinweise – jedenfalls als „Fallgruppe” – bestimmbar sind, der Angehörige dieser Gruppe auch ein subjektiv-öffentliches Recht auf Erteilung eines solchen Hinweises. Im Gegensatz zur allgemeinen Aufklärung der Versicherten über ihre Rechte (§ 13 SGB I) ist hier der Rentenversicherungsträger verpflichtet, den Angehörigen der Fallgruppe die entsprechenden Hinweise im Regelfall („soll”) zu geben. Hierauf hat der erkennende Senat bereits in seiner Entscheidung vom 7. Juli 1998 (B 5 RJ 18/98 R – zur Veröffentlichung vorgesehen) hingewiesen; er schließt sich insoweit der Rechtsprechung des 13. und 8. Senats an (BSG Urteile vom 22. Oktober 1996 - 13 RJ 23/95 - BSGE 79, 168 = SozR 3-2600 § 115 Nr 1, vom 9. Dezember 1997 - 8 RKn 1/97 - BSGE 81, 251 = SozR 3-2600 § 115 Nr 2 sowie vom 13. Mai 1998 - B 8 KN 15/97 R - AmtlMitt LVA Rheinpr 1998, 430 und - B 8 KN 16/97 R - nicht veröffentlicht).
Die Hinweispflicht nach § 115 Abs 6 Satz 1 SGB VI ist nicht davon abhängig, daß die Rentenversicherungsträger jedenfalls im streitigen Zeitraum noch keine gemeinsamen Richtlinien nach § 115 Abs 6 Satz 2 SGB VI erlassen hatten, sondern dies – zum 1. Juli 1998 – erst im Laufe des Revisionsverfahrens geschehen ist (DAngVers 1998, 448, 449). Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber die Rechtswohltat des § 115 Abs 6 Satz 1 SGB VI den Versicherten erst dann zukommen lassen wollte, sobald die Rentenversicherungsträger sich dazu entschließen würden, überhaupt tätig zu werden. Zudem spricht § 115 Abs 6 Satz 2 SGB VI von „gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung”, also einem für alle Träger der Rentenversicherung geltenden Katalog. Welche Bedeutung derartigen Richtlinien zukommt und inwieweit diese gerichtlich überprüfbar sind, war hier nicht zu beurteilen.
Wie der 13. und der 8. Senat des BSG bereits in ihren Entscheidungen deutlich gemacht haben, ist die Formulierung des Gesetzes „in geeigneten Fällen” ein gerichtlich voll überprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriff und keine Blankettformulierung ohne aus dem Gesetz präzisierbaren Inhalt (BSG Urteile vom 22.Oktober 1996 - 13 RJ 23/95 - BSGE 79, 168, 174 = SozR 3-2600 § 115 Nr 1, vom 9. Dezember 1997 - 8 RKn 1/97 - BSGE 81, 251 = SozR 3-2600 § 115 Nr 2 sowie vom 13. Mai 1998 - B 8 KN 15/97 R - AmtlMitt LVA Rheinpr 1998, 430 und - B 8 KN 16/97 R - nicht veröffentlicht). Der Inhalt dieses unbestimmten Rechtsbegriffs ist durch Gesetzesauslegung zu ermitteln. Vor allem führen dazu der oa Sinn und Zweck der Vorschrift, die Gesetzesmaterialien und der gesetzessystematische Zusammenhang des gesamten SGB. Des Hinweises bedürfen die Berechtigten jedenfalls dort, wo es für Ungeschulte schwierig ist, die gesetzliche Regelung zu durchschauen und Gestaltungsmöglichkeiten zu erkennen. Nach den Gesetzesmaterialien beruht die Einführung des § 115 Abs 6 SGB VI auf einem Vorschlag des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. Entsprechende Hinweise sollten in solchen Fällen erfolgen, in denen es naheliege, daß Versicherte Leistungen in Anspruch nehmen wollen, wie zB bei der Regelaltersrente und der Hinterbliebenenrente; hier liege ein geeigneter Bereich vor, in dem die allgemeine Aufklärungs- und Informationspflicht zu einer konkreten Informationspflicht ausgebaut werden könne. Da eine solche Informationspflicht wegen der unzureichenden Unterlagen nicht generell erfüllbar sei, sei die Selbstverwaltung aufgerufen, die Personengruppen näher zu bestimmen (BT-Drucks 11/5530, S 46 zu § 116 zu Abs 6 des Entwurfs = § 115 Abs 6 SGB VI).
Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers besteht sonach in Erweiterung und Ergänzung der spontanen Hinweispflicht bei einem konkreten Anlaß (§ 14 SGB I) gemäß § 115 Abs 6 SGB VI eine Hinweispflicht auch ohne konkreten Anlaß bei typischen Sachverhalten gegenüber einer (zB mit Mitteln der EDV) abgrenzbaren Gruppe von Versicherten, sobald es dem Versicherungsträger möglich ist zu erkennen, daß ihre Angehörigen den Rentenantrag aus Unwissenheit nicht stellen, die Rentenantragstellung in der Regel jedoch zu höheren Leistungen führt.
Mit diesen Einschränkungen trägt die Rechtsprechung einem möglicherweise aufkommenden Einwand Rechnung, daß bei einer Interpretation des § 115 Abs 6 SGB VI ohne Vorbehalte § 99 Abs 1 Satz 2 SGB VI mit seiner strengen Bindung an den Antragsmonat keinen Anwendungsbereich mehr hätte. Eine Hinweispflicht ergibt sich jedenfalls bei solchen Gestaltungsmöglichkeiten, die versteckt und nur Kennern der Materie geläufig sind. Die in der Gesetzesbegründung aufgeführten Beispiele der Regelaltersrente und der Hinterbliebenenrente bezeichnen mögliche Anwendungsbereiche, in deren Rahmen sich „geeignete Fälle” iS des Gesetzes ergeben können, obwohl es sich dabei um die in der Bevölkerung bekanntesten Rentenarten handelt und sich deshalb die in der Rechtsprechung des 8. Senats angesprochene aber offengelassene Frage stellt, ob gerade bei der Regelaltersrente stets ein Hinweis auf die Rentenantragstellung geboten ist (vgl BSG Urteile vom 9. Dezember 1997 - 8 RKn 1/97 - BSGE 81, 251 = SozR 3-2600 § 115 Nr 2 sowie vom 13. Mai 1998 - B 8 KN 15/97 R - AmtlMitt LVA Rheinpr 1998, 430 und - B 8 KN 16/97 R - nicht veröffentlicht), was der 13. Senat bejaht hat (vgl Urteil vom 22. Oktober 1996 - 13 RJ 23/95 - BSGE 79, 168 = SozR 3-2600 § 115 Nr 1). Jedenfalls handelt es sich bei den in der Gesetzesbegründung aufgeführten Beispielen nicht um einen abschließenden Katalog, wie schon die Formulierung des Gesetzes „in geeigneten Fällen” deutlich macht; die Hinweispflicht ist deshalb nicht – wie das LSG offenbar meint – auf die Regelaltersrente beschränkt (ebenso Schmidt in Kreikebohm, SGB VI-Komm, 1997, § 115 RdNr 36; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, § 115 SGB VI Anm 8, Stand: November 1992; Störmann in GesamtKomm-SGB VI, § 115 RdNr 9, Stand: März 1996; Kahl in Berliner Komm-SGB VI, § 115 RdNr 23, Stand: September 1995; Marschner in ZfSH/SGB 1998, 521 f). Auch ein Wechsel zur Altersrente für langjährig Versicherte kann ein solcher geeigneter Fall sein (vgl im übrigen Urteil des Senats vom 22. Oktober 1998 - B 5 RJ 56/97 R - zum erstmaligen Zugang zur Altersrente für langjährig Versicherte).
Ob – wie im vorliegenden Fall – der Wechsel von der einen zur anderen Art der Altersrente auch in der Regel, dh in der überwiegenden Zahl der Fälle, zu einer Leistungserhöhung führt, ist vom LSG nicht festgestellt. Ein solcher Wechsel war nach der vor dem 1. Januar 1992 bestehenden Rechtslage nicht möglich. Für die Zeit danach bedarf es näherer Feststellungen durch das LSG. Damit gegenüber den Mitgliedern der Gruppe der Bezieher einer vorgezogenen Altersrente nach altem Recht aufgrund des SGB VI eine Hinweispflicht entsteht, muß sich die anzuregende Rentenantragstellung in der überwiegenden Zahl der Fälle günstig auswirken, ohne daß im Einzelfall eine Probeberechnung erforderlich wäre oder über die Kriterien für die Gruppenbildung hinaus ein „konkreter Anlaß” iS der Rechtsprechung zu § 14 SGB I vorliegt. Denn Verwaltungsverfahren um ihrer selbst willen müssen nicht initiiert werden, auch wenn § 88 Abs 1 Satz 1 SGB VI sicherstellt, daß Beziehern einer Altersrente nach altem Recht bei einer späteren SGB VI-Rente keine Nachteile erwachsen können. Selbst wenn die Behauptung der Beklagten im Revisionsverfahren zuträfe, eine Altersrente gemäß § 36 SGB VI habe im Vergleich zu einer Altersrente gemäß § 1248 Abs 3 RVO viel eher finanzielle Nachteile mit sich gebracht, bliebe zu prüfen, ob die Klägerin zu einer abstrakt einzugrenzenden Gruppe (zB Berechtigte mit Kindererziehungszeiten) gehörte, für die sich ein derartiger Wechsel typischerweise günstig auswirkte.
Das LSG wird also zu ermitteln haben, ob unter den Bestandsrentnern der Beklagten entweder die Gruppe der Bezieherinnen von Altersrente wegen Vollendung des 60. Lebensjahres (§ 1248 Abs 3 RVO) insgesamt oder ein abgrenzbarer Teil hiervon durch die Stellung eines Antrags auf Altersrente gemäß § 36 SGB VI (ggf gestaffelt nach einzelnen Jahren, zB wegen der abgestuften Gesamtleistungsbewertung für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten nach § 263 SGB VI) – auch unter Berücksichtigung der übrigen sich aus dem SGB VI ergebenden Veränderungen (zB einerseits Verkürzung der Anrechnung von Berufsausbildungszeiten und andererseits eine mögliche Erhöhung von Entgeltpunkten bei den vorgenannten Zeiten) – typischerweise einen meßbaren finanziellen Vorteil auf Dauer erhält. Darauf, daß dies (möglicherweise atypisch) bei der Klägerin der Fall ist, kommt es bei der Regelung des § 115 Abs 6 SGB VI nicht an.
Die weitere Sachaufklärung erfolgt zweckmäßigerweise in zwei Schritten. Im ersten Schritt sind die beide Renten betreffenden Bescheide der Klägerin daraufhin zu untersuchen, auf welchen Gründen die höhere SGB VI-Rente der Klägerin beruht, obwohl keine weiteren Versicherungszeiten hinzugetreten sind und im Prinzip die Ermittlung der Werteinheiten nach früherem Recht der Ermittlung der Entgeltpunkte nach heutigem Recht entspricht. Der Tatbestand des Berufungsurteils gibt an, der monatliche Rentenbetrag habe sich durch die Umwandlung infolge der durch das RRG 1992 eingeführten höheren Bewertung von Kindererziehungszeiten erhöht; die Entscheidungsgründe führen das erstmalige Erreichen der Wartezeit von 35 Jahren durch Anrechnung der Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehungszeiten an, was jedoch wegen des Vorbezugs der Rente nach § 1248 Abs 3 RVO die Rentenerhöhung allein nicht erklären kann. Insoweit könnten vielmehr die geänderten rentenrechtlichen Zeiten (vgl §§ 54, 56 SGB VI), die im Versicherungskonto gespeichert waren, ursächlich gewesen sein sowie im Zusammenhang damit oder ausschließlich die Erhöhung der Mindestentgeltpunkte bei geringem Einkommen gemäß § 262 SGB VI, der die frühere Regelung in Art 2 § 55a ArVNG abgelöst hat. Außerdem könnte die Erhöhung aber auch darauf zurückzuführen sein, daß bei der Klägerin gemäß § 70 Abs 3 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 1996 gültigen Fassung ein höheres Entgelt für die ersten 48 Monate der Berufsausbildung zugrunde gelegt worden ist. Im zweiten Schritt ist abzuklären, ob diese Gründe genereller Art sind und eine solche Rentenerhöhung beim Versichertenbestand der Beklagten in einer Gruppe, der die Klägerin angehört, typischerweise, dh in der Mehrzahl der Fälle, und in einer relevanten Größenordnung auftritt.
Die Rechtsfolge einer unter Umständen zu fingierenden Antragstellung nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ergibt sich bei einem unterlassenen Hinweis nach § 115 Abs 6 SGB VI erst von dem Zeitpunkt an, zu dem es der Beklagten möglich war zu erkennen, daß eine umschriebene Gruppe von Versicherten durch die Antragstellung eine höhere Rente erlangt. Sie hatte in diesem Zusammenhang Rechtsänderungen zu analysieren und ihren Rentenbestand zu beobachten. Sobald sie festgestellt hat oder feststellen konnte, daß die Antragstellung auf die Altersrente iS von § 36 SGB VI bestimmbaren Bezieherinnen von Altersruhegeld iS von § 1248 Abs 3 RVO Vorteile bringt, war sie zum Handeln verpflichtet. § 115 Abs 6 SGB VI legt den Rentenversicherungsträgern auch eine „reaktive Beobachtungspflicht” auf, denn nur, wenn sie diese Pflicht erfüllen, sind sie in der Lage, auch die möglicherweise verborgenen „geeigneten Fälle” zu erkennen. Entscheidend ist deshalb, ab wann es der Beklagten mit ihren Mitteln zu erkennen möglich war oder sie sogar erkannt hat, daß durch den Antrag auf die Altersrente gemäß § 36 SGB VI in der bei der Klägerin vorliegenden Fallgestaltung eine Rentenerhöhung erzielt werden konnte.
Das LSG wird daher zu ermitteln haben, ob und ggf ab wann dies der Fall war, so daß im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Rentenantragstellung noch vor Ende August 1993 (dh innerhalb der Drei-Monats-Frist des § 99 Abs 1 Satz 1 SGB VI) oder auch zu einem späteren Zeitpunkt unterstellt werden könnte.
Sollte die Klägerin zu jener Gruppe gehören, bei der sich aus der Möglichkeit des Wechsels vom früheren Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs 3 RVO zu einer Rente nach § 36 SGB VI und aus der neu eingeführten Bewertung von Kindererziehungszeiten generell eine Besserstellung ergab, so war dies mit ihren jeweiligen Folgen spätestens nach Verabschiedung des RRG 1992 im November 1989 bereits dem Gesetzeswortlaut zu entnehmen. Außerdem war in der Fachpresse (beispielsweise AmtlMitt LVA Rheinpr 1990, 93 ff) darauf hingewiesen worden, daß Kindererziehungszeiten zu Pflichtbeitragszeiten würden und die erforderlichen Konsequenzen bei den bereits gespeicherten Zeiten maschinell gezogen werden könnten (aaO, S 121). Ferner war angeführt worden, daß wesentlich mehr Frauen die Voraussetzungen für eine Altersrente für langjährig Versicherte erfüllen könnten, weil die neu eingeführten Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung auf die Wartezeit anzurechnen seien und deshalb vor allem für Frauen ein Anspruch auf Altersrente schon vor Vollendung des 65. Lebensjahres entstehen könne (aaO, S 161 und 166). Im Hinblick darauf wäre es Aufgabe der Beklagten darzulegen – und ggf die Folgen der Nichterweislichkeit dieser Umstände zu tragen –, warum sie dies weder erkannt hat noch erkennen konnte oder aus welchen Gründen sie annehmen durfte, daß sich hieraus keine nennenswerten Rentenerhöhungen ergeben. Entsprechendes gilt auch für den Fall, daß die Rentenerhöhung bei der Klägerin auf einer anderen, gleichwohl typischen Konstellation beruhte.
Da die tatsächlichen Feststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung des Senats nicht ausreichen, ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen
NZS 1999, 250 |
SGb 1999, 25 |
Breith. 1999, 602 |
SozSi 1999, 377 |