Orientierungssatz

Umfang der Ermittlungen für die Beurteilung von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit: Die generelle Feststellung, der allgemeine Teilzeitarbeitsmarkt des Bundesgebietes sei für Männer, die nicht mehr vollschichtig arbeiten können, praktisch verschlossen, reicht nicht schlechthin für die Verurteilung zur Rentengewährung aus. Für die individuelle Prüfung ist insbesondere auch die Frage der Vermittlungsfähigkeit durch das Arbeitsamt mit einzubeziehen.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 128 Abs. 1; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 26.02.1973)

SG Koblenz (Entscheidung vom 19.10.1971)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Februar 1973 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Es ist umstritten, ob der Kläger erwerbsunfähig ist und deshalb Versichertenrente beanspruchen kann, obwohl er noch imstande ist, Teilzeitarbeit zu leisten (§ 1247 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der Kläger, geboren 1913, hat keinen Beruf erlernt. Er arbeitete als Drahtzieher und als Postfacharbeiter. 1955 wurde er Beamter und 1970 pensioniert. Er bezieht eine Rente aus der Kriegsopferversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 v. H. wegen der Schädigungsfolgen "Schädelhirnverletzung mit mäßigem traumatischen Allgemeinsyndrom". Anträge auf höhere Rente wegen vermeintlicher Verschlimmerung der Schädigungsfolgen blieben ohne Erfolg.

Der Kläger beantragte im Oktober 1969 Versichertenrente. Die Beklagte lehnte die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit ab (Bescheid vom 6. Februar 1970). Im Klageverfahren beschrieb die Bundesanstalt für Arbeit dem Sozialgericht (SG) unter Beifügung statistischer Übersichten die Lage auf dem Teilzeitarbeitsmarkt für Versicherte mit ungelernten Arbeiten; sie meinte, bei Einschränkungen wie beim Kläger sei der Teilzeitarbeitsmarkt des Bundesgebietes praktisch verschlossen (Auskunft vom 12. August 1971). Die Beklagte widersprach dem unter Hinweis auf Zahlen des Mikrozensus. Das SG Koblenz hat die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab Antragstellung verurteilt (Urteil vom 19. Oktober 1971). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 26. Februar 1973).

Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger seit Antragstellung noch halbschichtig, evtl. bis unter vollschichtig, leichte Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen verrichten könne. Im Ergebnis komme es jedoch lediglich darauf an, ob der Kläger noch vollschichtig oder nur noch weniger als vollschichtig einsatzfähig sei. Er sei erwerbsunfähig, weil er seine restliche Arbeitskraft auf dem Teilzeitarbeitsmarkt nicht realisieren könne. Wer nicht mehr vollschichtig einsatzfähig sei, sei vom Erwerbsleben ausgeschlossen. Die Beurteilung des Teilzeitarbeitsmarktes nach Verhältniszahlen, wie in den Beschlüssen des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (GS 2/68, GS 4/69) und im Urteil vom 29. September 1970 - 5 RKn 26/69 (= SozR Nr. 28 zu § 1247 RVO) noch ausgeführt, habe in der Praxis ihre Bedeutung verloren. Das LSG hat für seine Auffassung im wesentlichen auf die Auskünfte der Bundesanstalt für Arbeit vom 12. August 1971 sowie auf statistische Übersichten in den "Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit" (ANBA 1973, 125) und auf die "Sozialpolitischen Informationen" des BMA Nr. 29 vom 6. Oktober 1971 und Nr. 36 vom 8. Dezember 1972 hingewiesen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte rügt einen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und die unrichtige Anwendung von § 1246 Abs. 2, § 1247 Abs. 2 RVO. Sie verweist auf die Ausführungen in den genannten Beschlüssen des GS, nach denen der Arbeitsmarkt einem Versicherten praktisch verschlossen sei, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger sei als 75 : 100, und in denen der Grundsatz aufgestellt sei, daß männliche Teilzeitarbeitskräfte, die nur noch halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten und im wesentlichen auf das uneingeschränkte allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden können, nicht berufsunfähig und erwerbsunfähig seien, weil ihnen nach dem Mikrozensus von 1967 der Arbeitsmarkt praktisch nicht verschlossen sei (Abschnitt C V 2 a in GS 4/69 und Abschnitt C V 1 in GS 2/68). Grundsätzlich berufsunfähig und erwerbsunfähig seien diejenigen auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbaren Teilzeitarbeitskräfte, die über die zeitliche Einschränkung ihrer Arbeitsmöglichkeit hinaus nur noch qualitäts- und quantitätsmäßig erheblich eingeschränkte Leistungen erbringen oder einen Arbeitsplatz nur unter erheblich betriebsunüblichen Bedingungen ausfüllen könnten oder nur auf einen starken eingeschränkten Teil des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden könnten (Abschnitt C V 2 b aa in GS 4/69; Abschnitt C V 1 in GS 2/68).

Das LSG habe nicht klargestellt, ob der Kläger auf den uneingeschränkten Teilzeitarbeitsmarkt verwiesen werden könne oder ob er über die zeitliche Einschränkung hinaus noch weiteren und gegebenenfalls welchen Einschränkungen unterliege. Es sei lediglich davon ausgegangen, daß männlichen Versicherten der Teilzeitarbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Der Kläger könne nach seinem noch vorhandenen Leistungsvermögen auf den gesamten allgemeinen halbschichtigen bis unter vollschichtigen Teilzeitarbeitsmarkt verwiesen werden. Der Arbeitsmarkt sei für ihn daher schon nach den den Entscheidungen des GS zugrundeliegenden Auskünften der Bundesanstalt für Arbeit offen (Hinweis auf die Entscheidungen in SozR Nr. 99 u. 105 zu § 1246 RVO sowie Nr. 23 u. 25 zu § 1247 RVO). Im übrigen habe das LSG seine Annahme, dem Kläger sei der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, nicht nur auf die Informationen des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung und der Bundesanstalt für Arbeit stützen dürfen, sondern hätte weitere Ermittlungen durchführen müssen (Hinweis auf die Entscheidungen vom 24. November 1971 - 4 RJ 467/70 und vom 29. Februar 1972 - 4 RJ 317/71). Es hätte Sachverständige mit weiteren Erhebungen beauftragen müssen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist infolge Zulassung statthaft. Sie ist auch begründet. Das LSG hat §§ 103, 128 Abs. 1 SGG, § 1246 Abs. 2, § 1247 Abs. 2 RVO verletzt.

Das LSG hat seine Feststellung, der Teilzeitarbeitsmarkt sei männlichen Versicherten, die nicht mehr vollschichtig arbeiten können, verschlossen, im wesentlichen auf statistische Veröffentlichungen für 1972 gegründet. Zwar ist dem LSG zuzugeben, daß die auf dem Mikrozensus 1967 beruhenden Erkenntnisse in den Beschlüssen des GS vom 11. Dezember 1969 nicht für alle Zeiten ohne weitere Prüfungen maßgebend sein können (vgl. Urteil des Senats vom 21. September 1971 - 12/11 RA 204/70). Doch war hier schon für die Zeit seit Oktober 1969 zu entscheiden. Für diese Zeit gelten aber noch die Ausführungen in GS 4/69, Teil C V 2 (BSG 30, 167, 188), wonach männliche und weibliche Teilzeitarbeitskräfte, die noch halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten und im wesentlichen auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden können, regelmäßig nicht berufsunfähig sind. Es kann hier auf sich beruhen, ob in späteren Entscheidungen des BSG - das LSG zitiert SozR Nr. 28 zu § 1247 RVO - die Ausführungen des GS nur modifiziert wurden oder ob sie dadurch teilweise überholt sind. Jedenfalls reicht eine generelle Feststellung, der allgemeine Teilzeitarbeitsmarkt des Bundesgebietes sei für Männer, die nicht mehr vollschichtig arbeiten könnten, praktisch verschlossen, nicht schlechthin für die Verurteilung zur Rentengewährung aus. Im Urteil des LSG ist nämlich eine Frage, die im Einzelfall von Bedeutung sein kann, nicht berührt worden.

Der GS hat - unbeschadet seiner Ausführungen über die Bedeutung der Verhältniszahlen von vorhandenen zumutbaren Arbeitsplätzen und entsprechenden Interessenten für die Feststellung eines offenen Teilzeitarbeitsmarktes - ua ausgesprochen, der Teilzeitarbeitsmarkt gelte jedenfalls dann nicht verschlossen, wenn dem Versicherten ein zumutbarer offener Arbeitsplatz angeboten wird, "gleichgültig, ob er von diesem Angebot Gebrauch macht" (BSG 30, 167, 190, 192, 207 f). Dem steht der Fall gleich, daß ein Versicherter sich ohne triftigen Grund erst gar nicht bei dem für seinen Wohnort zuständigen Arbeitsamt um die Vermittlung eines zumutbaren Arbeitsplatzes bemüht, obwohl dieses dazu in der Lage wäre. Dabei wird von der Erwägung ausgegangen, daß es nicht hingenommen werden kann, wenn ein Versicherter durch ein nicht zu billigendes Verhalten den Tatbestand der Berufsunfähigkeit herbeizuführen trachtet (vgl. Urteil des Senats vom 22. August 1973 - 12 RJ 106/72). Die Tatsachengerichte können deshalb im allgemeinen ihre Prüfung der Arbeitsmarktverhältnisse für den einzelnen Fall nicht schon mit der generellen Feststellung abschließen, der Arbeitsmarkt des Bundesgebietes sei einen Versicherten im Hinblick auf die ungünstigen Verhältniszahlen zwischen vorhandenen zumutbaren Arbeitsplätzen und entsprechenden Interessenten verschlossen (Teil C II in GS 4/69 und GS 2/68).

Bei der Feststellung des LSG, der Kläger könne bis unter vollschichtig leichte Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen verrichten, erscheint die Vermittlung eines zumutbaren Arbeitsplatzes durch das zuständige Arbeitsamt nicht von vornherein aussichtslos, so daß Anlaß zu einer Prüfung im dargelegten Sinn besteht.

Da hier Ermittlungen und Feststellungen über eine mögliche Arbeitsplatzvermittlung durch das Arbeitsamt fehlen, reicht der vom LSG bisher festgestellte Sachverhalt nicht aus, um eine Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Versichertenrente zu rechtfertigen. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu entsprechenden weiteren Ermittlungen und Feststellungen an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648433

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