Leitsatz (amtlich)
1. Im Lande Nordrhein-Westfalen ist, nachdem das Reichsschiedsamt für Zahnärzte und Dentisten im Jahre 1945 seine Tätigkeit eingestellt hat, eine Nachprüfung der Entscheidungen der Schiedsämter für Zahnärzte und Dentisten außerhalb des Rechtsweges nicht mehr vorgeschrieben. Ein Vorverfahren findet daher nach GKAR Art 4 § 11 Abs 3 Halbs 2 nicht statt.
2. Die Durchführung des Vorverfahrens in den gesetzlich vorgesehenen Fällen (SGG §§ 78 ff) ist Prozeßvoraussetzung für das sozialgerichtliche Verfahren. Ist daher nach einer erst im Laufe des Revisionsverfahren eingetretenen Rechtsänderung ein Vorverfahren nicht erforderlich, so ist eine auf das Fehlen eines Vorverfahrens gestützte Prozeßabweisung des Berufungsgerichts nicht mehr begründet.
Normenkette
SGG § 78 Fassung: 1953-09-03; KARG Art. 4 § 11 Abs. 3 Hs. 2 Fassung: 1955-08-17
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 1. März 1955 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe
I.
Der Kläger ist ursprünglich als Dentist, seit 1953 als Zahnarzt in A bei K niedergelassen. Er bewarb sich mit vier anderen Zahnärzten - unter ihnen der Beigeladene - um eine für A ausgeschriebene Kassenzahnarztstelle. Das beklagte Schiedsamt hat mit Entscheidung vom 10. März 1954 den Beigeladenen für diese Kassenpraxis zugelassen; Bei der Abwägung der für den Kläger und den Beigeladenen sprechenden Momente hat es zugunsten des Beigeladenen gewertet, daß er sechs Jahre älter als der Kläger ist und zwei Kinder besitzt, während der Kläger nur ein Kind hat; der verhältnismäßig geringe Unterschied in den Daten der staatlichen Anerkennung als Dentist und der Eintragung im Dentistenregister - beide Zeitpunkte liegen beim Kläger im Jahre 1948, jeweils etwa ein Jahr vor den entsprechenden des Beigeladenen - finde seine Erklärung im Wehrdienst und den Nachkriegsverhältnissen der beiden Bewerber.
Der Kläger hat entsprechend der ihm im Bescheid des Schiedsamts erteilten Rechtsbehelfsbelehrung am 30. April 1954 beim Sozialgericht (SG.) in Düsseldorf Klage mit dem Ziel der Aufhebung der Entscheidung des Schiedsamts vom 10. März 1954 erhoben. Das SG. hat die Klage abgewiesen, weil kein Vorverfahren stattgefunden hat. Im Berufungsverfahren ist das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen der Auffassung des SG. beigetreten. Es hat die Berufung des Klägers - unter Zulassung der Revision - durch Urteil vom 1. März 1955 zurückgewiesen, weil der Kläger gegen den mit der Klage angefochtenen Verwaltungsakt des beklagten Schiedsamts nicht zuvor Widerspruch erhoben hat: Die angefochtene Zulassungsentscheidung sei eine Ermessensentscheidung im Sinne des § 79 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), deren Anfechtung durch Klage ein Vorverfahren voraussetze. Weil bei Ermessensentscheidungen der Verwaltung die verwaltungsgerichtliche Rechtskontrolle auf die Nachprüfung des Vorliegens eines Ermessensmißbrauchs (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) beschränkt und den Gerichten ein Eindringen in den Ermessensspielraum der Verwaltung versagt sei, müsse den Verwaltungsstellen nochmals Gelegenheit zur Überprüfung ihres Ermessens in einem Vorverfahren gegeben werden. Zwar könne in einem solchen Falle nicht der in § 85 SGG zum Ausdruck gebrachte Grundsatz verwirklicht werden, daß über den Widerspruch eine andere Stelle als diejenige zu entscheiden habe, die den Verwaltungsakt erlassen habe; eine solche weitere Stelle für den Erlaß des Widerspruchsbescheids sei bei der Anfechtung einer Zulassungsentscheidung des Schiedsamts nicht vorhanden. Diese Erwägung könne aber nicht den Wegfall des Vorverfahrens rechtfertigen; vielmehr müsse das Schiedsamt, das den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, auch über den Widerspruch entscheiden, zumal die Möglichkeit der Widerspruchsentscheidung durch die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen hat, als Ausnahme ohnehin in § 85 Abs. 2 Nr. 1 SGG vorgesehen sei.
Gegen das Urteil des LSG. hat der Kläger Revision mit dem Antrag eingelegt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Entscheidung des beklagten Schiedsamts vom 10. März 1954 aufzuheben,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil vom 1. März 1955 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung in der Sache selbst an das SG. Düsseldorf zurückzuverweisen.
Die Revision macht geltend, das Berufungsgericht habe die Bedeutung der §§ 78 ff. SGG verkannt: Das Vorverfahren sei nur in den vom SGG enumerativ aufgeführten Fällen zulässig und notwendig. Die Vorschrift des § 79 Nr. 1 SGG beziehe sich nur auf Ermessensleistungen, nicht aber auf Ermessensentscheidungen schlechthin. Daß der Gesetzgeber ein Vorverfahren in Angelegenheiten des Kassenarztrechts für ausgeschlossen erachtet habe, ergebe sich auch daraus, daß in § 85 SGG für die Anfechtung einer Zulassungsentscheidung des Schiedsamts keine Widerspruchsstelle vorgesehen sei. Durch die Einschaltung des Vorverfahrens in Zulassungssachen würde überdies das Zulassungsverfahren unter Mißachtung der Interessen der versicherten Bevölkerung unnötig kompliziert und verlängert werden.
Das beklagte Schiedsamt ist den Ausführungen des Klägers beigetreten, soweit er die Notwendigkeit des Vorverfahrens als Klagevoraussetzung verneint hat. Es weist noch darauf hin, daß beim Zulassungsstreit auch die "Vertragsparteien" (Verbände der Krankenkassen und die Kassenzahnärztliche Vereinigung), falls im Einzelfalle beschwert, klageberechtigt und den Versicherungsträgern gleichzuachten seien, die nach § 81 Nr. 3 SGG ohne Vorverfahren zur Klage schreiten könnten; würde man nun das Vorverfahren für die Anfechtung der Zulassungsentscheidung durch einen Zahnarzt für notwendig halten, so führe das zu dem widerspruchsvollen Ergebnis, daß der Klage des Zahnarztes - im Gegensatz zur Klage einer "Vertragspartei" - ein Vorverfahren voranzugehen hätte. Das Schiedsamt hat ferner auf die Vorschrift des Art. 4 § 11 Abs. 3 letzter Halbsatz des Gesetzes über das Kassenarztrecht (GKAR) vom 17. August 1955 (BGBl. I S. 513) hingewiesen, die es im vorliegenden Fall für anwendbar hält.
II.
Die Parteifähigkeit des beklagten Schiedsamts im Rechtsstreit vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (§ 70 SGG) unterliegt keinen Bedenken. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats sind die Zulassungsinstanzen als Behörden im Sinne des § 70 Nr. 3 SGG anzusehen (BSG. 2 S. 201 (204); Urteil vom 29.5.1956 - 6 RKa 14/54 - und Urteil vom 25. 10. 1956 - 6 RKa 2/54 -); das gilt auch für das Schiedsamt für Zahnärzte und Dentisten, dessen Zulassungsentscheidung hier angefochten ist. Durch § 1 des Gesetzes vom 29. November 1955 (GVBl. NRW Ausg. A S. 230) ist ihnen im Land Nordrhein-Westfalen die Fähigkeit zuerkannt, am Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit beteiligt zu sein.
Die Revision ist begründet.
Hierbei kann unerörtert bleiben, ob die Auffassung des Berufungsgerichts, die Klage sei unzulässig, weil ihr kein Vorverfahren im Sinne der §§ 78 ff. SGG vorangegangen sei, nach dem im Zeitpunkt des Erlasses des Berufungsurteils - 1. März 1955 - gültigen Recht zutreffend war. Maßgebend für die vom Revisionsgericht zu treffende Entscheidung ist die am 20. August 1955 (Art. 4 § 1 Abs. 1 GKAR) in Kraft getretene Vorschrift des Art. 4 § 11 Abs. 3 GKAR, die für die nach bisherigem Zulassungsrecht zu behandelnden Fälle eine dem Grundsatz des § 368 b Abs. 7 der Reichsversicherungsordnung (in der Fassung des GKAR) angepaßte Übergangsregelung vorsieht. Hiernach findet ein Vorverfahren nicht statt, wenn eine Nachprüfung der Entscheidungen der Zulassungsausschüsse außerhalb des Rechtswegs nicht vorgeschrieben ist.
Diese verfahrensrechtliche Vorschrift ist vom Revisionsgericht anzuwenden, obwohl sie erst nach Erlaß des Berufungsurteils in Kraft getreten ist. Neues Verfahrensrecht findet grundsätzlich auch in anhängigen Prozessen Anwendung, sofern die in Frage stehenden Prozeßhandlungen nicht schon bei Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen vorliegen und es sich somit nur um die Beurteilung der Frage ihrer bereits früher eingetretenen Wirksamkeit handelt (BSG. 1 S. 44 (46); 1 S. 78 (81)). Dieser Grundsatz kommt uneingeschränkt zur Geltung, wenn das Vorliegen von Prozeßvoraussetzungen nachzuprüfen ist; als eine solche ist das Erfordernis des Vorverfahrens vor Klageerhebung anzusehen (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: Januar 1957 Bd. 1 S. 240 w; Peters-Sautter-Wolff, Sozialgerichtsbarkeit, Stand: Oktober 1956 Anm. 3 zu § 78; Maunz-Schraft, Kommentar zum GSv Bd. 2 Abschn. C, Erl. zum SGG, Bl. 1 Anm. 3 zu § 86). Die Prozeßvoraussetzungen als Voraussetzungen einer Sachentscheidung müssen zur Zeit des Urteils vorliegen. Dieser Zeitpunkt ist auch maßgebend für die Frage, nach welchem Recht das Vorliegen der Prozeßvoraussetzungen zu prüfen ist. Das Revisionsgericht hat daher die Prozeßvoraussetzungen nach dem zur Zeit seiner Entscheidung geltenden Recht zu beurteilen (ebenso RG. in RGZ. 110 S. 160 (162), Warn Rspr. 1926 Nr. 167 und 191, RGZ. 146 S. 244 (246); Stein-Jonas-Schönke, ZPO 18. Aufl. Anm. III A 1 d zu § 549, III 2 zu § 300, Stein-Jonas, ZPO 14. Aufl. Anm. I zu Art. VII der VO über das Verfahren in bürgerl. Rechtsstreitigkeiten vom 13. 2. 1924 (Bd. II S. 1189); Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. S. 24; Sieg in SJZ 1950 S. 878 (883 N. 48 und 886 N. 78) Meiss in Zeitschrift für Zivilprozeß 1952 S. 114 (115/6 No 13)). Im Streitfall ist demnach die nach Art. 4 § 11 Abs. 3 GKAR eingetretene Gesetzesänderung vom Revisionsgericht zu berücksichtigen.
Der Anwendung des Art. 4 § 11 Abs. 3 GKAR auf den vorliegenden Sachverhalt steht nicht entgegen, daß diese Vorschrift nur von "Entscheidungen der Zulassungsausschüsse" spricht, der angefochtene Verwaltungsakt hingegen vom Schiedsamt für Zahnärzte und Dentisten erlassen ist. Das Schiedsamt für Zahnärzte und Dentisten ist gemäß § 15 der VO über die Zulassung von Zahnärzten und Dentisten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen ( ZulOZ .) vom 27. Juli 1933 (RGBl. I S. 541) - mehrfach geändert, zuletzt durch die 5. Verordnung vom 12. Januar 1938 (RGBl. I S. 29) - tätig geworden. Die ZulOZ . gilt noch im Lande Nordrhein-Westfalen mangels einer Neuregelung, wie sie in den meisten anderen Bundesländern erfolgt ist; ihre Fortgeltung - nach Bereinigung von den Rechtssätzen nationalsozialistischen Ideengehalts - ergibt sich aus Art. 123 Abs. 1 GG (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 4. Dezember 1956 - 6 RKa 11/54 -). Sie bleibt nach Art. 4 § 11 Abs. 2 Satz 1 GKAR bis zum Inkrafttreten der Zulassungsordnung nach § 368 c RVO in Geltung. Schon der innere und äußere Zusammenhang zwischen Abs. 2 und Abs. 3 des Art. 4 § 11 GKAR läßt es gerechtfertigt erscheinen, die Regelung des Abs. 3 auf alle nach Abs. 2 übergangsweise aufrechterhaltenen Zulassungsordnungen zu beziehen und den in Abs. 3 verwendeten Begriff "Zulassungsausschüsse" nicht eingeschränkt im rechtstechnischen Sinn, sondern als alle Zulassungsstellen erster Instanz umfassend zu verstehen; das gilt um so mehr, als das im Lande Nordrhein-Westfalen tätige Schiedsamt sich nach Aufgabenbereich und Zusammensetzung nur geringfügig von den Zulassungsausschüssen der neueren Zulassungsordnungen anderer Länder unterscheidet.
Auch die weitere in Art. 4 § 11 Abs. 3, 2. Halbs. GKAR genannte Voraussetzung, daß eine Nachprüfung der Entscheidung der Zulassungsstelle nicht vorgeschrieben ist, ist erfüllt. Zwar kennt die ZulOZ . gegen die Entscheidungen des Schiedsamts das Rechtsmittel der Revision - in bestimmten Fällen der Berufung - an das Reichsschiedsamt (§ 16). Das Reichsschiedsamt war jedoch mit der Kapitulation im Jahre 1945 außer Funktion getreten. Im Lande Nordrhein-Westfalen ist auch mangels einer gesetzlichen Grundlage keine dem Reichsschiedsamt entsprechende Stelle gebildet worden, wie es z. B. im Lande Hessen auf Grund des Anpassungsgesetzes vom 21. Februar 1949 (GVBl. für das Land Hessen S. 21) durch Errichtung eines Landesschiedsamts geschehen ist. Nach Sinn und Zweck des Art. 4 § 11 Abs. 3 GKAR soll aber nur dann anstelle des Vorverfahrens eine Nachprüfung der Entscheidung der Zulassungsinstanz außerhalb des Rechtswegs stattfinden, wenn eine zur Nachprüfung berufene Stelle vorhanden ist. Der Gesetzgeber hat bei dieser Übergangsregelung, wie der zweite Halbsatz dieser Vorschrift erkennen läßt, in Kauf genommen, daß in solchen Fällen eine verwaltungsmäßige Nachprüfung der Zulassungsentscheidung überhaupt nicht stattfindet.
Die Anwendung des Art. 4 § 11 Abs. 3 GKAR auf den vorliegenden Sachverhalt führt somit zu dem Ergebnis, daß ein Vorverfahren hier nicht erforderlich ist. Die von den Vorinstanzen wegen Fehlens eines Vorverfahrens ausgesprochene Prozeßabweisung ist nicht gerechtfertigt und die Revision mithin begründet. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung in der Sache selbst an das LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen