Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. kein Verfahrensfehler. unrichtige Anwendung/Nichtanwendung des § 123 SGG. Verbot der Schlechterstellung. angeblicher Mangel der Urteilsfindung
Orientierungssatz
Die Rüge, das LSG habe den Grundsatz des Verbots der Schlechterstellung (reformatio in peius) verletzt, betrifft nicht das Verfahren des LSG, sondern einen angeblichen Mangel der Urteilsfindung, den Inhalt der Entscheidung. Eine solche Rüge ist nicht geeignet, eine nicht zugelassene Revision statthaft zu machen.
Normenkette
SGG § 123 Fassung: 1995-09-03
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 30.10.1958) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. Oktober 1958 wird als unzulässig verworfen.
Kosten haben die Beteiligen einander nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der verstorbene Kläger leistete vor dem ersten Weltkrieg und während desselben Wehrdienst; in der Reichswehr war er Heeresanwalt, im zweiten Weltkrieg als Wehrmachtbeamter beim Oberkommando des Heeres tätig. Er bezog nach dem Reichsversorgungsgesetz (RVG) wegen "Magen-Darmleiden und Gallenblasenerkrankung" Versorgungsgebührnisse nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H.. Im Januar 1947 machte er zunächst neben seinen bereits nach altem Recht anerkannten Schäden auch die Folgen einer im zweiten Weltkrieg erlittenen Gasvergiftung geltend. Im April 1947 beantragte er sodann wegen sämtlicher bei ihm vorliegender, nach seiner Ansicht militärdienstlichen Einflüssen zur Last zu legender Gesundheitsschäden Rente nach dem Körperbeschädigtenleistungsgesetz (KBLG). Die Verwaltungsbehörde erkannte mit Bescheid vom 5. April 1950
"völligen Salzsäuremangel im Magensaft mit Neigung zu Durchfällen, leichte Gallenblasenerkrankung, Muskelriß der rechten Wade mit Bewegungsbeschränkung des rechten Sprunggelenks"
als Leistungsgrund im Sinne der Entstehung nach dem KBLG bei einer MdE um 30 v.H. ab 1. Februar 1947 an. Die weiteren Leiden, "anlagemäßige Fettsucht, Herzmuskelschaden und Schlagadererweiterung, Lungenblähung, Senkfüße, Ausstülpung der Speiseröhrenschleimhaut, Kopfneuralgie und fragliche Nierensteine links" seien keine Schädigungsfolgen.
Im Berufungsverfahren (nach altem Recht) hat der verstorbene Kläger zusätzliche Anerkennung von chronischer Ischialgie beiderseits, Herzmuskelschwäche und chronischer Bronchitis nach Chlorgasvergiftung sowie Rente nach einer MdE um 70 v.H. verlangt. Diese Leiden seien ebenso wie der im Jahre 1938 durch einen Sturz auf der Straße hervorgerufene Muskelriß an der rechten Wade durch das Oberkommando des Heeres bereits als Schädigungsfolge mit einer MdE in Höhe von 70 v.H. anerkannt gewesen. Diese Anerkennungen seien gemäß Art. 1 Abs. 4 und Art. 39 KBLG in Verbindung mit § 36 der Ersten Durchführungsverordnung zum KBLG vom 1. Mai 1949 bindend. Im Laufe des Berufungsverfahrens hat sich der Beklagte im Hinblick auf die nach früherem Versorgungsrecht festgesetzte MdE verpflichtet, Rente nach einer MdE um 40 v.H. vom 1. Februar 1947 an zu gewähren. Das Oberversicherungsamt (OVA) L... hat mit Urteil vom 13. Oktober 1952 den angefochtenen Bescheid dahin abgeändert, daß der Beklagte für verpflichtet erklärt wurde, dem verstorbenen Kläger vom 1. Februar 1947 an Rente nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren; es hat dabei die Folgen des Muskelrisses berücksichtigt. Der gegen dieses Urteil eingelegte Rekurs des verstorbenen Klägers ist nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG) übergegangen. In diesem Verfahren hat er beantragt,
chronische Ischialgie beiderseits, chronische Bronchitis mit Emphysem und chronische Herzinsuffizienz mit erheblicher Hypotonie zusätzlich im Sinne der Entstehung anzuerkennen und ihm vom 1. Februar 1947 an Versorgungsgebührnisse nach einer MdE um 70 v.H. zu gewähren.
Das LSG hat sich dem von ihm eingeholten Gutachten der Ersten Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses W... in vom 27. Mai 1958 angeschlossen und die Berufung mit Urteil vom 30. Oktober 1958 zurückgewiesen.
Der verstorbene Kläger hat gegen dieses am 17. November 1958 zugestellte Urteil Revision eingelegt. Er beantragt mit näherer Begründung:
I. Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. Oktober 1958 aufzuheben und ihm aus den Gründen des durch Berufungszurücknahme des Beklagten vom 14. Mai 1958 rechtskräftig gewordenen Urteils erster Instanz vom 13. Oktober 1952 eine Rente nach einer MdE um 50 v.H. wieder zuzusprechen;
II. chron. Bronchitis mit Emphysem, chron. Herzinsuffizienz mit erheblicher Hypotonie als nachträgliche Einwirkungen eines kriegerischen Vorgangs im Sinne des § 1 BVG anzuerkennen;
III. ihm eine Rente nach einer MdE um 80 v.H. zu gewähren;
IV. hilfsweise:
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 30.10.1958 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kostenfrage an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte und der Beigeladene haben den ursprünglichen Antrag,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts vom 30. Oktober 1958 als unzulässig zu verwerfen,
nicht aufrechterhalten und sich dem unter IV. gestellten Hilfsantrag des verstorbenen Klägers angeschlossen.
Die Beteiligten haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung nach § 124 Abs. 2, §§ 165, 153 SGG ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind.
Der frühere Kläger ist am 6. Juni 1960 verstorben. Seine Witwe, Frau Hildegard S..., hat als Erbin ihres Mannes das durch seinen Tod unterbrochene Verfahren aufgenommen.
Das Rechtsmittel ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Da das LSG die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht zugelassen hat, ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch tatsächlich vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) und auch dieser Mangel gerügt wird. Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht gegeben.
Die Klägerin rügt zunächst, die angefochtene Entscheidung verstoße gegen das Verbot der Schlechterstellung (reformatio in peius) und beruhe daher auf einer Nichtanwendung oder unrichtigen Anwendung der Vorschrift des § 123 SGG. Das LSG habe nicht nur über die von dem Verstorbenen zusätzlich erhobenen Ansprüche für Ischialgie, chronische Bronchitis und Herzmuskelschwäche und die von ihm geltend gemachte Rente nach einer MdE um 70 v.H. abweisend entschieden, sondern darüber hinaus auch die bereits rechtsverbindlich anerkannte MdE um 50 v.H. auf 40 v.H. herabgesetzt. Mit diesem Vorbringen konnte die Klägerin keinen Erfolg haben. Die Rüge, das LSG habe den Grundsatz des Verbots der Schlechterstellung (reformatio in peius) verletzt, betrifft nicht das Verfahren des LSG, sondern einen angeblichen Mangel der Urteilsfindung, den Inhalt der Entscheidung (BSG SozR SGG § 123 Bl. Da 1 Nr. 3 und § 162 Bl. Da 24 Nr. 91). Eine solche Rüge ist nicht geeignet, eine nicht zugelassene Revision statthaft zu machen. Überdies zieht die Klägerin aber auch falsche Schlüsse aus dem angefochtenen Urteil. Nach dem Urteilsspruch (Tenor) hält das LSG das angefochtene Urteil des OVA vom 13. Oktober 1952 dadurch aufrecht, daß es die Berufung des verstorbenen Klägers zurückweist. Damit hat das LSG über alle von diesem geltend gemachten Ansprüche, über die durch Bescheid vom 5. April 1950 und durch das Urteil des OVA vom 13. Oktober 1952 entschieden worden ist, erkannt und die Festsetzung des Grades der MdE mit 50 v.H. bestätigt. Hätte das LSG, wie die Klägerin meint, das Urteil des OVA ändern wollen, so hätte das im Urteilsspruch seinen Ausdruck finden müssen. Bei dem vorhandenen Widerspruch der Urteilsgründe mit dem Urteilsspruch in der Bemessung des Grades der MdE - das Urteil des OVA hat die MdE auf 50 v.H. festgesetzt, während sich das Berufungsgericht in den Urteilsgründen der Einschätzung der Ersten Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses W... B... mit 40 v.H. angeschlossen hat - geht der klare und unmißverständliche Urteilsspruch vor, so daß dieser Mangel unschädlich und nicht geeignet ist, die Rechte des verstorbenen Klägers zu mindern.
Das LSG hat den § 123 SGG - entgegen der Auffassung der Klägerin - auch sonst nicht verletzt. Diese Vorschrift besagt, das Gericht habe über die von dem verstorbenen Kläger erhobenen Ansprüche zu entscheiden, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.
Das LSG hat über die vom verstorbenen Kläger verlangte Anerkennung weiterer Gesundheitsstörungen, "chronische Ischialgie beiderseits, chronische Bronchitis mit Emphysem und chronische Herzinsuffizienz mit erheblicher Hypotonie" und über seinen Antrag auf Anerkennung einer MdE um 70 v.H. Beweis erhoben, Gutachten beigezogen und darüber auch entschieden. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Urteilsspruch, jedoch aus den Urteilsgründen. Schon im angefochtenen Bescheid der Landesversicherungsanstalt (LVA) Niederbayern vom 5. April 1950 sind die von dem Verstorbenen geltend gemachten "zusätzlichen Leiden" als Schädigungsfolgen ausdrücklich abgelehnt worden.
Das Verlangen des verstorbenen Klägers vor dem OVA auf Aufhebung dieses Bescheids umfaßte somit auch diese zusätzlichen Gesundheitsstörungen. Der Verstorbene hatte in dem Berufungsverfahren vor dem OVA Herzleiden, Ischias, Spondylosis deformans, Emphysem, Aortenerweiterung, Aortenherz, Bronchitis mit Stauungsanlage, Gallenblasenleiden und altersbedingte Erscheinungen als weitere Schädigungsfolgen geltend gemacht. Sie waren Gegenstand der Beweisaufnahme und der Entscheidung des OVA, so daß die Zurückweisung der Berufung gegen das Urteil des OVA durch das LSG auch die Entscheidung über die vor dem OVA und erneut vor dem LSG geltend gemachten weiteren Gesundheitsstörungen enthält; dem entspricht auch der Vortrag des verstorbenen Klägers in seiner Revisionsschrift, "das Berufungsgericht habe - nicht nur - über die von ihm erhobenen Ansprüche: Anerkennung chronischer Ischialgie, chronische Bronchitis und Herzmuskelschwäche als schädigende Einwirkung durch Chlorgasvergiftung und Rente nach einer MdE um 70 v.H. abweisend entschieden". Das LSG hat somit tatsächlich über alle vom verstorbenen Kläger vorgebrachten Gesundheitsstörungen entschieden. Für seinen Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und ihm aus den Gründen des durch die Berufungszurücknahme des Beklagten vom 14. Mai 1957 insoweit rechtskräftig gewordenen Urteils erster Instanz vom 13. Oktober 1952 eine Rente nach einer MdE um 50 v.H. wieder zuzusprechen, fehlt somit ein Rechtsschutzbedürfnis, denn mit der Zurückweisung der Berufung blieben die Rechte des verstorbenen Klägers aus dem Urteil des OVA auf eine Rente nach einer MdE um 50 v.H. gewahrt. Das findet auch seinen Ausdruck in dem Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA) Landshut vom 20. August 1958, worin bestätigt wird, daß das Urteil des OVA Landshut vom 13. Oktober 1952 bindend geworden und Rente nach dem BVG nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren sei.
Die weiteren Rügen des verstorbenen Klägers greifen ebenfalls nicht durch. Insoweit bezeichnet die Revisionsbegründung entgegen der ausdrücklichen Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG nicht die verletzte Rechtsnorm, und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, auch nicht die Tatsachen und Beweismittel, die den Mangel ergeben. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) genügt es jedoch bei der Rüge von Verfahrensmängeln, wenn sich aus den substantiiert vorgetragenen Tatsachen klar ergibt, welche Rechtsvorschrift als verletzt angesehen wird (BSG 1, 227 und SozR SGG § 164 Bl. Da 2 Nr. 9). Das Vorbringen läßt gerade noch erkennen, daß der verstorbene Kläger rügen wollte, das Berufungsgericht habe die Grenzen überschritten, die dem Gericht für die Würdigung der Beweisaufnahme gezogen sind. Ein Mangel des Verfahrens in bezug auf die Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten hat; insoweit kommt insbesondere ein Verstoß gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder Denkgesetze in Betracht (BSG 2, 236, 237). Es ist - im Gegensatz zur Auffassung der Revision - kein wesentlicher Mangel des Verfahrens, wenn ein Gericht die ärztliche Begutachtung einer Gesundheitsstörung im Urteil verwertet, obwohl diese Begutachtung sich über das Ersuchen hinaus auch auf andere Leiden erstreckt hatte. Die Medizinische Universitätsklinik Berlin hat sämtliche vom Kläger angeführten Leiden erschöpfend untersucht und begutachtet, und das Berufungsgericht hat nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entschieden und im Urteil die Gründe angegeben, die für seine richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das LSG hat alle ihm bekannten Tatsachen und die ihm vorliegenden Beweisunterlagen, darunter insbesondere das wissenschaftlich begründete ärztliche Gutachten des Städtischen Krankenhauses Westend Berlin-Charlottenburg vom 27. Mai 1958 und auch die Röntgenfeststellungen in seine Würdigung einbezogen und ist ohne Verstoß gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder gegen Denkgesetze zu der Auffassung gelangt, daß die vom Kläger geltend gemachten weiteren Gesundheitsstörungen, "chronische Ischialgie beiderseits, Lungenemphysem und chronische Bronchitis", weder im Sinne der Entstehung noch im Sinne der Verschlimmerung auf dem Wehrdienst des verstorbenen Klägers beruhen. Das Berufungsgericht hat somit nicht gegen § 128 SGG verstoßen. Es ist schließlich auch kein wesentlicher Mangel des Verfahrens vor dem Berufungsgericht, wenn das LSG ein Gutachten zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat, in dem ein offensichtlicher Schreibfehler in Daten ohne Rückfrage beim Krankenhaus berichtigt worden ist.
Der erst im Schriftsatz vom 16. März 1960 geltend gemachte Mangel des Verfahrens, das LSG habe im angefochtenen Urteil die Beiladung des Landes Berlin außer acht gelassen, kann nicht berücksichtigt werden, weil dieser Mangel nicht innerhalb der Revisionsbegründungsfrist gerügt worden ist (§ 164 Abs. 1 SGG) und bei einer nicht statthaften Revision nicht von Amts wegen berücksichtigt werden kann.
Die weiteren Rügen des verstorbenen Klägers, das LSG habe das Gesetz verletzt, beziehen sich auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung; sie können bei einer nicht zugelassenen Revision die Statthaftigkeit nicht begründen. Die Rüge einer Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) ist nicht erhoben.
Da hiernach die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG nicht vorliegen, ist die Revision nicht statthaft. Sie war daher nach § 169 Satz 2 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen