Leitsatz (amtlich)
In einem Verfahren, das den Anschluß einer oder mehrerer Innungen an eine bestehende IKK betrifft, hat das Gericht, das gegen die Versagung oder Erteilung der Anschlußgenehmigung bzw gegen ein Urteil auf Erteilung der Genehmigung angerufen worden ist, auch neue, nach Erlaß der letzten Verwaltungsentscheidung eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen, solange der Anschluß noch nicht vollzogen ist (Fortführung von BSG 1970-12-16 3 RK 64/67 = SozR Nr 9 zu § 250 RVO).
Leitsatz (redaktionell)
Der Grundsatz, daß sich die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Errichtungsgenehmigung nach RVO § 253 Abs 1 auf die Verhältnisse im Zeitpunkt ihres Erlasses zu beschränken hat, gilt nur, wenn die Satzung der neu zu errichtenden IKK bereits genehmigt und damit bestimmt ist, daß und wann sie ins Leben tritt (RVO § 320 Abs 1).
Normenkette
RVO § 253 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 320 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 250 Fassung: 1951-02-22, § 251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1930-07-26
Tenor
Auf die Revision des Beklagten und der Beigeladenen zu 1) wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Februar 1970 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die klagenden Innungen haben die Absicht, sich der beigeladenen Innungskrankenkasse (IKK) anzuschließen. Das beklagte Oberversicherungsamt (OVA) hat die beantragte Genehmigung versagt, weil die Leistungsfähigkeit der beigeladenen Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) M durch die - dann erforderliche - Abgabe von Mitgliedern an die IKK gefährdet werden würde (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Das Sozialgericht (SG) hat die Versagung der Genehmigung wegen der geringen Zahl der abzugebenden Mitglieder nicht für berechtigt gehalten und das OVA zur Erteilung der Genehmigung verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufungen des OVA und der AOK zurückgewiesen und ausgeführt: Nach den Verhältnissen zur Zeit der letzten Verwaltungsentscheidung, von denen auszugehen sei, habe die AOK nur 164 Mitglieder an die IKK abzugeben. Der damit verbundene Einnahmeausfall sei so gering, daß er nicht als mitursächlich für die - ohnehin gegebene - Leistungsgefährdung der AOK angesehen werden könne. Gegen diese Auffassung wenden sich das beklagte OVA und die beigeladene AOK M mit der zugelassenen Revision. Sie beantragen, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klagen abzuweisen. Die Revisionsbeklagten beantragen die Zurückweisung der Revision.
II
Die Revisionen des beklagten OVA und der beigeladenen AOK sind begründet. Die bisher getroffenen Feststellungen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits nicht zu.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die von den klagenden Innungen beantragte Genehmigung zum Anschluß an die beigeladene IKK - nach Erfüllung aller anderen Genehmigungsvoraussetzungen - nur verweigert werden darf, wenn dadurch der Bestand oder die Leistungsfähigkeit der beigeladenen AOK gefährdet werden würde (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 253 RVO). Ob eine solche Gefährdung vorliegt, hat das LSG allein nach den Verhältnissen zur Zeit der letzten Verwaltungsentscheidung (Widerspruchsbescheid des OVA vom 6. Juni 1968) beurteilt. Dem kann nicht gefolgt werden.
Der Senat hat zur Frage des maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts in Streitsachen der vorliegenden Art noch nicht ausdrücklich Stellung genommen. Er hat jedoch in einem Urteil vom 16. Dezember 1970, in dem es sich um die Genehmigung zur Errichtung einer IKK handelte, entschieden, daß die Frage, ob die Neuerrichtung einer IKK den Bestand oder die Leistungsfähigkeit einer AOK gefährde, nicht allein nach den Verhältnissen zur Zeit der Erteilung der Errichtungsgenehmigung zu beurteilen sei, wenn sich das Errichtungsverfahren bisher nur auf eine Prüfung der Errichtungsvoraussetzungen erstreckt habe, jedoch noch keine Satzung der neu zu errichtenden IKK genehmigt und deshalb auch noch nicht bestimmt sei, wann die IKK ins Leben trete (SozR Nr. 9 zu § 250 RVO). Ein Fall dieser Art unterscheide sich in mehrfacher Hinsicht von einem Überführungsverfahren nach § 14 GSv aF = § 33 SVwG (vgl. dazu BSG 14, 71, 76 = SozR Nr. 2 zu § 251 RVO; Urteil vom 18. November 1969, 3 RK 10/66, teilweise abgedruckt in SozR Nr. 3 zu § 69 SGG). Während ein solches Überführungsverfahren lediglich bezwecke, den Mitgliederkreis der IKK und ihrer Trägerinnungen wieder in Übereinstimmung zu bringen und damit einen anomalen Zustand zu beseitigen, der durch die Handwerksgesetzgebung nach 1933 herbeigeführt worden sei, bedeute die Neuerrichtung einer IKK einen Eingriff in das bestehende Organisationsgefüge der Krankenversicherung, der nach § 251 RVO nur statthaft sei, wenn dadurch der Bestand und die Leistungsfähigkeit der vorhandenen Ortskrankenkassen nicht gefährdet werde. Tatsachen, aus denen sich eine solche Gefährdung ergebe, könnten allerdings von den Gerichten nur berücksichtigt werden, wenn und solange der Mitgliederwechsel nicht vollzogen sei; eine einmal eingetretene Gestaltungswirkung könne aufgrund späterer Tatsachen nicht wieder rückgängig gemacht werden, einen entsprechenden "Restitutionsanspruch" sehe das Gesetz für die betroffene AOK nicht vor. An einer solchen Gestaltungswirkung fehle es indessen im Falle der Neuerrichtung einer IKK, solange nur der erste Abschnitt des Errichtungsverfahrens mit der Prüfung der formellen und materiellen Errichtungsvoraussetzungen (§§ 250 ff RVO) abgeschlossen sei, jedoch noch keine Satzung der neu zu errichtenden IKK genehmigt und deshalb auch noch nicht bestimmt sei, daß und wann die IKK ins Leben trete (§§ 320 ff RVO). Nur wenn diese gestaltende Verwaltungsentscheidung bereits vorliege, die IKK also ins Leben getreten sei, habe sich die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Errichtungsgenehmigung auf den Zeitpunkt ihres Erlasses zu beschränken. Sei dagegen die IKK noch nicht existent geworden, könnten und müßten zugunsten der betroffenen AOK auch solche, ihre Leistungsfähigkeit gefährdenden Umstände berücksichtigt werden, die erst während des Gerichtsverfahrens einträten. Das erfordere der Schutzzweck des § 251 RVO, dem auf Seiten der erst zu errichtenden IKK keine in gleicher Weise schutzwürdigenden Interessen gegenüberständen (aaO Bl. Aa 8 und Rückseite).
Diese Erwägungen gelten sinngemäß auch für den Fall, daß eine oder mehrere Innungen eine IKK nicht neu errichten, sondern sich einer schon bestehenden anschließen. Ein solches Anschlußverfahren ist der Sache nach eine ergänzende Form des Errichtungsverfahrens. Was diesen Sonderfall vom Regelfall unterscheidet, ist im wesentlichen nur der Umstand, daß beim nachträglichen Anschluß einer Innung das Errichtungsverfahren zeitlich auseinandergezogen ist (BSG 7, 169, 173). Auch bei einem Streit über die Erteilung einer Anschlußgenehmigung ist mithin die Frage der Bestands- oder Leistungsgefährdung einer betroffenen AOK nicht allein nach den Verhältnissen zur Zeit der Erteilung oder Versagung der Genehmigung zu beurteilen, wenn sich - wie hier - das Anschlußverfahren bisher auf eine Prüfung der Anschlußvoraussetzungen (§§ 250 ff RVO) beschränkt hat, die Änderung der Satzung der beteiligten IKK also noch nicht genehmigt und daher auch noch nicht bestimmt ist, wann diese Änderung in Kraft tritt (§ 324 RVO).
Das LSG hätte sich hier deshalb nicht mit der Prüfung begnügen dürfen, ob Bestand oder Leistungsfähigkeit der AOK bei Erlaß des Widerspruchsbescheides des beklagten OVA durch einen Anschluß der klagenden Innungen an die beigeladene IKK gefährdet war, sondern hätte auch die weitere tatsächliche Entwicklung - bis zu seiner eigenen Entscheidung - mitberücksichtigen müssen. Wenn es dies unterlassen hat, so hat es damit allerdings keine Verfahrensnormen verletzt; denn von seinem abweichenden rechtlichen Ausgangspunkt hatte es keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen (vgl. BSG 2, 84). Das LSG hat vielmehr das sachliche Recht insofern unrichtig angewendet, als es verkannt hat, daß § 251 Abs. 1 Nr. 1 RVO in schwebenden Errichtungs- oder Anschlußstreitigkeiten grundsätzlich - eine Ausnahme gilt für vollzogene Errichtungen oder Anschlüsse - auf die gegenwärtige Gefährdung der betroffenen AOK abstellt. Diesen Fehler bei der Anwendung des sachlichen Rechts hatte der Senat auch ohne Rüge eines Beteiligten zu beachten. Da er die noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, hat er den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen.
Sollten die weiteren Ermittlungen ergeben, daß Bestand und Leistungsfähigkeit der beigeladenen AOK auch später - nach Erlaß des angefochtenen Widerspruchsbescheides - durch einen Anschluß der klagenden Innungen an die beigeladene IKK nicht oder nicht wesentlich stärker berührt worden sind als bei Erlaß jenes Bescheides, so wären die Berufungen des OVA und der beigeladenen AOK gegen das erstinstanzliche Urteil unbegründet, die Zurückweisung der Berufungen durch das LSG mithin im Ergebnis richtig gewesen. Wie der Senat schon wiederholt entschieden hat, kann bei Anwendung des § 251 Abs. 1 Nr. 1 RVO die Gefährdung einer - von der Neuerrichtung oder Erweiterung einer IKK betroffenen - Krankenkasse nicht allein mit ihrer ungünstigen Vermögenslage oder einer für sie bestehenden Notwendigkeit begründet werden, im Falle einer Mitgliederüberführung die Beiträge zu erhöhen oder die Leistungen herabzusetzen. Eine Gefährdung ist vielmehr erst dann anzunehmen, wenn die betroffene Krankenkasse im Vergleich zu gleichartigen Kassen des betreffenden Wirtschaftsraumes infolge der Abgabe von Mitgliedern die bei den Vergleichskassen erhobenen Beiträge erheblich überschreiten müßte, oder wenn ihre Leistungen nicht unwesentlich unter denen vergleichbarer Kassen liegen würden (BSG 14, 71; Urteil vom 18. November 1969, 3 RK 10/66). In diesem Zusammenhang hat der Senat ferner entschieden, daß bei der vorzunehmenden Vergleichswertung alle Faktoren auszuscheiden seien, die zwar, wie z. B. ein hoher Rentneranteil, die wirtschaftliche Entwicklung der Kasse beeinflußten, jedoch nicht kausal auf der fraglichen Mitgliederabgabe beruhten.
Zu berücksichtigen sind somit bei der Prüfung, ob Bestand oder Leistungsfähigkeit einer Kasse gefährdet ist (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 RVO), nur solche Umstände, die unmittelbar mit der Errichtung oder Erweiterung der IKK zusammenhängen und darüber hinaus geeignet sind, allein oder wenigstens im Sinne einer wesentlichen Mitursache den Bestand oder die Leistungsfähigkeit der Kasse zu gefährden. Ob dabei die Leistungsfähigkeit einer Kasse durch Abgabe von Mitgliedern und den dadurch bedingten Einnahmeausfall (bzw. die Notwendigkeit zur Erhöhung der Beiträge) wesentlich gefährdet wird, kann nicht schematisch, d. h. in absoluten, für alle denkbaren Fälle gleichermaßen gültigen Zahlen festgelegt werden. Maßgebend muß vielmehr immer die Finanzlage der jeweils betroffenen Krankenkasse sein. Einer finanzstarken Krankenkasse werden also prozentual stärkere Beitragserhöhungen zuzumuten sein als einer finanzschwachen, namentlich einer schon durch eine frühere Mitgliederabgabe geschwächten Kasse. Im Ergebnis würde deshalb die betroffene Krankenkasse im Falle einer stufenweisen Erweiterung einer IKK nicht weniger geschützt sein als bei einer sich in einem Zuge vollziehenden Errichtung, so daß die von der beigeladenen AOK insoweit geäußerten Befürchtungen ("Scheibchen-Taktik") nicht begründet erscheinen. Andererseits muß auch eine finanzschwache oder sogar defizitäre Kasse, wie die beigeladene AOK, Belastungen, die mit der Errichtung oder Erweiterung einer IKK verbunden sind, insoweit hinnehmen, als sie für diese Kasse - unter voller Würdigung ihrer schlechten Wirtschaftslage - keine wesentliche Bedeutung haben. Das wäre hier indessen bei einer Abgabe von seinerzeit 164 (von insgesamt über 50.000) Mitgliedern und dem dadurch bedingten - sowohl absolut wie relativ unbedeutenden - Einnahmeverlust der beigeladenen AOK der Fall gewesen, wie das LSG im einzelnen zutreffend ausgeführt hat.
Fundstellen