Entscheidungsstichwort (Thema)

Hinterbliebenenrente. Antragstellung. Fristversäumnis

 

Orientierungssatz

Ein Geschäftsunfähiger verliert seine Rechte nicht durch Fristablauf, sofern sie innerhalb von sechs Monaten seit Wegfall des Hindernisses geltend gemacht worden sind; wird diese Frist nicht gewahrt, so verliert auch die Person, die während des Laufs der Ausschlußfrist geschäftsunfähig und ohne gesetzlichen Vertreter gewesen ist, ihre Rechte.

 

Normenkette

KBLG WB Art. 12 Abs. 1-2, Art. 9 Abs. 1 Nr. 3

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 27.04.1959)

SG Ulm (Entscheidung vom 07.03.1957)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. April 1959 wird aufgehoben; die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 7. März 1957 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die 1941 und 1943 in P... (Tschechoslowakei) geborenen Klägerinnen sind die unehelichen Kinder der J... F... Ihr Vater J... K... ist seit März 1945 vermißt. Er wurde durch Beschluß des Amtsgerichts Heidenheim vom 21. Oktober 1954 für tot erklärt, als Todeszeitpunkt wurde der 31. Dezember 1946 festgestellt. Seit 1946 leben die Klägerinnen nach ihrer Vertreibung aus der Tschechoslowakei im Gebiet des Landes Baden-Württemberg. Die Vormundschaft wurde bis 1945 von dem für P... zuständigen Jugendamt geführt, im September 1949 nahm das Kreisjugendamt H... die Vormundschaft für die Klägerinnen auf. Im Juli 1950 beantragte das Kreisjugendamt als Amtsvormund der Klägerinnen Waisenrente. Durch Bescheid vom 19. Juli 1956 gab das Versorgungsamt (VersorgA), nachdem es zunächst durch Bescheid vom 24. Juni 1953 den Antrag abgelehnt hatte, dem Antrag vom 1. Juli 1950 an statt.

Mit ihrer Klage begehrten die Klägerinnen die Waisenrente schon vom 1. Februar 1947 an. Das Sozialgericht (SG) wies durch Urteil vom 7. März 1957 die Klage ab und ließ die Berufung zu. Auf die Berufung der Klägerinnen hob das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG auf, es verurteilte den Beklagten, den Klägerinnen auch für die Zeit vom 1. Februar 1947 bis zum 30. Juni 1950 Rente zu gewähren (Urteil vom 27. April 1959). Zur Begründung führte das LSG aus, nach Art. 12 Abs. 1 und 2 des (württemberg-badischen) Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) entstehe der Anspruch auf Hinterbliebenenrente frühestens mit dem auf den Sterbetag folgenden Tage. Werde der Anspruch erst nach Ablauf eines Jahres nach dem Tode geltend gemacht, so beginne die Zahlung mit dem Monat, in dem die Voraussetzungen der Rente erfüllt seien, frühestens mit dem Monat, in dem die Anmeldung erfolgt sei. Die Klägerinnen hätten zwar nicht innerhalb eines Jahres nach dem als Todestag geltenden 31. Dezember 1946 ihren Anspruch geltend gemacht, jedoch beruhe dies darauf, daß damals ein gesetzlicher Vertreter für sie nicht habe tätig werden können, diesen Umstand hätten die Klägerinnen nicht zu verantworten. Nach der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5287 des Reichsversicherungsamts - RVA - (AN. 1939 S. 208), die einen allgemeinen Rechtsgedanken wiedergebe, dürfe aber ein geschäftsunfähiger Berechtigter seine Rechte nicht dadurch verlieren, daß er infolge eines Mangels in der gesetzlichen Vertretung an ihrer Geltendmachung gehindert sei. Die Jahresfrist des Art. 12 KBLG laufe daher erst vom Zeitpunkt der Weiterführung der Vormundschaft durch das Kreisjugendamt H... im September 1949 an. Deshalb sei der im Juli 1950 gestellte Antrag noch als rechtzeitig anzusehen, den Klägerinnen stehe sonach Waisenrente vom Inkrafttreten des KBLG, dem 1. Februar 1947, an zu. Das LSG ließ die Revision zu.

Gegen das am 11. Juni 1959 zugestellte Urteil legte der Beklagte am 25. Juni 1959 Revision ein und begründete sie am 20. August 1959, nachdem die Frist zur Begründung bis zum 11. September 1959 verlängert worden war.

Der Beklagte rügte die Verletzung der Art. 11 und 12 KBLG. Er führte aus, der Antrag sei eine materiellrechtliche Voraussetzung für das Entstehen jedes Versorgungsanspruchs. Daher müßten die vom LSG herangezogenen allgemeinen Rechtsgedanken zurücktreten. Eine rückwirkende Zubilligung der Waisenrente sei gesetzlich nicht möglich. Der Beklagte rügte weiter, das LSG habe nicht die Gründe festgestellt, die zu einer verspäteten Aufnahme der gesetzlichen Vertretung durch das Jugendamt Heidenheim geführt haben; es sei durchaus möglich, daß das Berufungsgericht zu einem anderen Urteil gelangt wäre, wenn es von diesem Amt zu vertreten sei, daß die Amtsvormundschaft erst im September 1949 aufgenommen worden sei.

Der Beklagte beantragte,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 27. April 1959 aufzuheben und die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des SG Ulm vom 7. März 1957 zurückzuweisen.

Die Klägerinnen beantragten,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist statthaft (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet.

Die Revision kann auf eine Verletzung von Vorschriften des in einem Teil des Landes Baden-Württemberg geltenden KBLG gestützt werden, da dieses inhaltsgleich in allen Ländern der früheren amerikanischen Besatzungszone gegolten hat und damit über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus geltendes Recht gewesen ist (vgl. BSG 1, 56, 59).

Da der Beklagte den Klägerinnen Waisenrente vom 1. Juli 1950 an bewilligt hat, geht der Streit der Beteiligten nur noch darum, ob den Klägerinnen die Rente bereits vom 1. Februar 1947 an zusteht.

Nach Art. 12 Abs. 1 KBLG entsteht der Anspruch auf Hinterbliebenenrente frühestens mit dem auf den Sterbetag folgenden Tag. Wenn der Anspruch auf Hinterbliebenenrente erst nach Ablauf eines Jahres nach dem Tode geltend gemacht wird, beginnt nach Art. 12 Abs. 2 KBLG die Zahlung mit dem Monat, in dem die Voraussetzungen für die Gewährung der Rente erfüllt sind, frühestens mit dem Monat, in dem die Anmeldung erfolgt ist. Nur dann, wenn der Anspruch innerhalb der Frist von einem Jahr nach dem Tode geltend gemacht worden ist, besteht Anspruch auf Zahlung der Rente von einem früheren Zeitpunkt an, nämlich vom Inkrafttreten des KBLG am 1. Februar 1947 an, frühestens von dem auf den Sterbetag folgenden Tag an. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so darf die Rente nicht rückwirkend bewilligt werden; es kommt grundsätzlich nicht darauf an, aus welchen Gründen die Anmeldung innerhalb der Jahresfrist unterblieben ist. Zwar sind in Art. 9 Abs. 1 KBLG die Fälle geregelt, in denen nach Ablauf der Ausschlußfrist für die Anmeldung des Anspruchs, die in Art. 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 KBLG bestimmt ist, der Anspruch noch geltend gemacht werden kann; hierzu gehört auch der Fall, daß der Berechtigte an der Wahrung der Ausschlußfrist durch Umstände gehindert worden ist, "die außerhalb seines Willens lagen" (Art. 9 Abs. 1 Nr. 3 KBLG). Art. 12 KBLG, der den Beginn der Zahlung auf Hinterbliebenenrente regelt, enthält jedoch keine dem Art. 9 Abs. 1 Nr. 3 KBLG entsprechende Vorschrift, er läßt nach dem Gesetzeswortlaut keine Ausnahme von dem Grundsatz zu, daß für den Beginn der Zahlung der Anmeldemonat maßgebend ist.

Selbst wenn man aber der Meinung ist, der Berechtigte müsse sich ebenso wie für die Wahrung der Ausschlußfrist in Art. 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 KBLG auch für den Beginn der Zahlung der Rente, der in Art. 12 Abs. 1 und 2 KBLG geregelt ist, darauf berufen können, daß er an der Anmeldung durch Umstände gehindert worden sei, die "außerhalb seines Willens lagen", so kann dies im vorliegenden Fall nicht dazu führen, den Beginn des Anspruchs auf Zahlung der Rente auf den 1. Februar 1947 festzusetzen. Soweit Art. 9 Abs. 1 Nr. 3 KBLG, ebenso wie § 57 Abs. 1 Nr. 3 des Bundesversorgungsgesetzes in der Fassung bis zum Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960, einen allgemeinen Rechtsgedanken enthält, besagt er nur, daß dann, wenn die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 1 Nr. 3 KBLG, § 57 Abs. 1 Nr. 3 des Bundesversorgungsgesetzes alter Fassung vorliegen, eine Frist nicht vor Ablauf von sechs Monaten abläuft, nachdem das Hindernis weggefallen ist; eine entsprechende Regelung auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts findet sich für den Ablauf der Verjährungsfrist in § 206 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches, wonach dann, wenn eine geschäftsunfähige oder in der Geschäftsfähigkeit beschränkte Person ohne gesetzlichen Vertreter ist, die gegen sie laufende Verjährung - im Regelfalle - nicht vor dem Ablauf von sechs Monaten nach dem Zeitpunkt vollendet wird, in dem die Person unbeschränkt geschäftsfähig wird oder der Mangel der Vertretung aufhört. Der allgemeine Rechtsgedanke, auf den das LSG sich berufen hat, könnte also nur dahin gehen, daß ein Geschäftsunfähiger seine Rechte nicht durch Fristablauf verliert, sofern sie innerhalb von sechs Monaten seit Wegfall des Hindernisses geltend gemacht worden sind; wird diese Frist nicht gewahrt, so verliert auch die Person, die während des Laufs der Ausschlußfrist geschäftsunfähig und ohne gesetzlichen Vertreter gewesen ist, ihre Rechte. Selbst wenn man also - obwohl Art. 12 KBLG sich nicht auf die Wahrung der Ausschlußfrist für die Anmeldung bezieht - diesen allgemeinen Rechtsgedanken auf die Regelung für den Beginn des Anspruchs auf Zahlung übertragen wollte, so könnte der Zahlungsbeginn nur dann über den Anmeldemonat hinaus vorverlegt werden, wenn der gesetzliche Vertreter "nach Wegfall des Hindernisses" das in dem Mangel der gesetzlichen Vertretung oder wie im vorliegenden Fall in der Unmöglichkeit der Ausübung der gesetzlichen Vertretung bestanden hat, binnen sechs Monaten tätig geworden ist. Das ist hier nicht geschehen, das Kreisjugendamt hat den Anspruch erst nach zehn Monaten geltend gemacht, auch unter diesem Gesichtspunkt hat der Zahlungsbeginn nicht auf einen früheren Monat als den Anmeldemonat vorverlegt werden können. Auch wenn das RVA in der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5287 aaO für den Beginn einer Invalidenrente nach § 1286 RVO alter Fassung ausgeführt hat, die in dieser Vorschrift vorgesehene Antragsfrist von einem Monat beginne mit der Beseitigung des Hindernisses, das in dem Fehlen eines gesetzlichen Vertreters bestanden habe, so hat das RVA doch ebenfalls nach Wegfall dieses Hindernisses die Wahrung der Fristen für erforderlich gehalten, die die betreffende Vorschrift selbst enthält; die Frage, wie zu entscheiden ist, wenn diese Fristen nicht eingehalten sind, hat das RVA nicht zu entscheiden gehabt.

Das LSG hat sonach zu Unrecht das Urteil des SG, das die Klage abgewiesen hat, aufgehoben; das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, da weitere Ermittlungen nicht erforderlich sind. Auf die Revision des Beklagten ist das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des SG zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2304805

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge