Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des rechtlich wesentlichen Zusammenhangs mit der Zurücklegung des Weges von der Arbeitsstätte, wenn jemand wegen Beteiligung an einem Verkehrsunfall genötigt ist, die Heimfahrt zu unterbrechen, und während dieses Zwischenaufenthalts einen Unfall erleidet.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. November 1969 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat den Klägerinnen auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der im Jahre 1933 geborene Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Klägerinnen zu 2), E M (M.), war beim Technischen Überwachungsverein S als Prüfer von Kraftfahrzeugen für den Kreis B beschäftigt. Als er am 16. Januar 1968 auf der Bundesstraße 14 mit seinem Pkw von der Arbeit nach Hause fuhr, stieß ihm etwa um 17,45 Uhr ein Verkehrsunfall zu. M. hatte in engem Bogen in den von links auf die Straße zuführenden, nicht durch Hinweiszeichen gekennzeichneten, bei Dämmerung sehr schlecht erkennbaren G-weg, einen nur für landwirtschaftliche Fahrzeuge freigegebenen Feldweg, einbiegen wollen. Sein Fahrzeug wurde von dem Pkw des Zeugen K welcher eben den Wagen des Ehemannes der Klägerin zu 1) überholen wollte, gestreift. Wie K im polizeilichen Ermittlungsverfahren angab, Hatte M. die von ihm beabsichtigte Änderung der Fahrtrichtung nicht angezeigt. Am Pkw des M. wurden durch den Unfall der linke vordere Kotflügel, das linke Scheinwerferglas sowie die linke Blinkleuchte beschädigt. M. kennzeichnete sofort den Stand seines Fahrzeuges auf der Fahrbahn mit einem Kreuzschraubenzieher. Sodann stellte er seinen Pkw im G-weg ab. K hatte nach dem Unfall seinen Pkw auf der rechten Straßenseite zum Stehen gebracht. Nach einem kurzen Gespräch mit M. ging er wieder zu seinem Fahrzeug, um zur Unfallstelle zurückzufahren. Inzwischen hatte sich M. wieder auf die Bundesstraße zurückbegeben. Zwei Schritte vom Fahrbahnrand entfernt bückte er sich. Ein am Straßenrand stehender Spaziergänger hatte den Eindruck, daß er nachsehen wollte, ob die von ihm auf der Straße angebrachte Markierung genügend sichtbar sei. In diesem Augenblick wurde M. von dem von dem Zeugen W gelenkten Pkw überfahren. Um diese Zeit herrschte auf der Bundesstraße starker Berufsverkehr; es war bereits ziemlich dunkel geworden, so daß die Fahrzeuge die Beleuchtung eingeschaltet hatte. M. erlitt durch diesen Unfall so schwere Verletzungen, daß er auf dem Transport ins Krankenhaus starb. W wurde durch Urteil des Schöffengerichts Backnang vom 21. August 1968 freigesprochen.
Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 12. März 1968 die begehrten Hinterbliebenenentschädigungen, weil M. im Zeitpunkt seines tödlich endenden Unfalls damit beschäftigt gewesen sei, die Spuren des vorangegangenen Unfalls zwecks Haftpflichtansprüchen gegenüber K zu sichern; durch dieses dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnende. Verhalten sei jedoch der innere Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit unterbrochen worden.
Auf Klage hat das Sozialgericht (SG) Stuttgart durch Urteil vom 27. Januar 1969 die Beklagte verurteilt, den Klägerinnen Hinterbliebenenrente zu gewähren.
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat durch Urteil vom 24. November 1969 (veröffentlicht in Breithaupt 1971, 636) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Im Zeitpunkt des für ihn tödlich ausgegangenen Unfalls habe M. selbst dann unter Versicherungsschutz gestanden, wenn er für seine weitere Heimfahrt den G-weg benutzt haben würde, denn sein Aufenthalt auf der Bundesstraße sei unabhängig von seinem Willen gewesen. Er sei verpflichtet gewesen, sein beschädigtes Fahrzeug von der Fahrbahn zu entfernen, zumal da es dunkel geworden und die Sicht ohnehin schlecht gewesen sei. Er habe auch die Spuren des Unfalls sichern müssen. Um sich nicht der Fahrerflucht schuldig zu machen, habe er sich der Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung an dem Unfall nicht entziehen dürfen. Sein Verweilen an der Unfallstelle habe allenfalls mittelbar auch der Sicherung etwaiger Haftpflichtansprüche gedient, sei dadurch aber nicht geboten gewesen. Das Betreten der Fahrbahn, ohne sich zu vergewissern, ob sich nicht ein Fahrzeug nähere, sei allenfalls grob fahrlässig gewesen, falls M. sich der Gefährlichkeit seines Tuns überhaupt bewußt gewesen sei. Dies schließe jedoch, da M. insoweit nicht eigenwirtschaftlich gehandelt habe, den Versicherungsschutz wegen selbst geschaffener Gefahrerhöhung nicht aus. M. habe sich daher im Zeitpunkt des zweiten Unfalls auf dem Weg von der Arbeitsstätte befunden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:
Bei lebensnaher Betrachtungsweise müsse das Verhalten des Verunglückten im Zeitpunkt des für ihn tödlich endenden Unfalls als eigenwirtschaftliche Tätigkeit angesehen werden, weil es der Sicherung etwaiger Haftpflichtansprüche gedient habe. Deshalb könne dahingestellt bleiben, ob der Versicherungsschutz aus dem Gesichtspunkt der selbst geschaffenen Gefahr abzulehnen sei.
Die Klägerinnen halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerinnen beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist nicht begründet.
Das Berufungsgericht sieht für die Bejahung des Unfallversicherungs(UV)-Schutzes als entscheidend an, daß der Ehemann der Klägerin zu 1) nach dem Zusammenstoß mit dem Pkw des Zeugen K sein Fahrzeug von der Unfallstelle habe entfernen müssen und diese nicht habe verlassen dürfen. Seine Verpflichtung, den im Zeitpunkt dieses Unfalls erheblichen Verkehr auf der Bundesstraße nicht zu behindern, somit seinen Pkw nicht auf der Straße stehen zu lassen, ergab sich, wenn auch die damals geltende Fassung der Straßenverkehrsordnung keine dem jetzt geltenden § 34 entsprechende Bestimmung enthielt, aus der allgemeinen Bestimmung des § 1. Durch § 142 des Strafgesetzbuches (StGB) war M. außerdem gehalten, an der Unfallstelle zwecks Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs sowie der Art seiner Beteiligung an dem Unfall zu verweilen (BGHSt 12, 253, 255; Dreher, Kommentar zum StGB, 31. Aufl., Anm. 3 B zu § 142; Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 15. Aufl., Randnr. 30 ff zu § 142). Der Ehemann der Klägerin zu 1) konnte sonach aufgrund dieser ihm obliegenden öffentlich-rechtlichen Verpflichtung, wenngleich § 142 StGB dem Interesse sämtlicher Unfallbeteiligter an der Feststellung des Unfallhergangs, namentlich der Erhaltung des Beweises für ihre etwaigen Schadensersatzansprüche dient (BGHSt 8, 263, 265; 12, 253, 255; Dreher, aaO, Anm. 1 zu § 142), seine Heimfahrt von der Arbeitsstätte zunächst nicht fortsetzen. Dies hatte jedoch nicht ohne weiteres eine Unterbrechung des UV-Schutzes zur Folge; dieser war jedenfalls insoweit erhalten als der dem Ehemann der Klägerin zu 1) auferlegte Zwischenaufenthalt mit der Zurücklegung des Heimwegs innerlich zusammenhing (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 1.7.1971, Band II, S. 486 s II). Die Frage, wo hier eine Grenze zu ziehen ist, bedarf nach Lage des Falles keiner Entscheidung. § 142 StGB verbietet allerdings lediglich das Sichentfernen von der Unfallstelle, gebietet darüber hinaus aber - entgegen der Auffassung des LSG - keine tätige Mitwirkung an der Aufklärung des Unfalls (BGHSt 7, 112, 117; Schönke/Schröder, aaO, Randnr. 20); der von einem Verkehrsunfall Betroffene oder daran Beteiligte unterliegt nach dieser Vorschrift nur einer passiven Feststellungspflicht (BGHSt 8, 263, 265). Der Ehemann der Klägerin zu 1) ist nun überfahren worden, als er nachsehen wollte, ob die von ihm auf der Fahrbahn angebrachte Markierung der Unfallstelle sichtbar sei. Diese Tätigkeit hat der Verfolgung und zugleich der Abwehr von Schadensersatzansprüchen aus dem vorangegangenen Verkehrsunfall gedient. Ob auch insoweit ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der Zurücklegung des Weges von der Arbeitsstätte gegeben ist (verneinend Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Stand November 1971, Kenn-Nr. 085 S. 3), kann jedoch dahingestellt bleiben. Selbst wenn es sich hier um eine lediglich dem persönlichen unversicherten Lebensbereich dienende Tätigkeit gehandelt hat, war dieser Vorgang nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG so geringfügig, daß eine Unterbrechung des UV-Schutzes zu verneinen ist (s. hierzu im einzelnen Brackmann, aaO, Band III, S. 486 v mit Nachweisen).
Der UV-Schutz entfällt nicht deshalb, weil M. sich durch diese Betätigung in eine Gefahr begeben hat und dieser erlegen ist. Der erkennende Senat hat den Begriff der "selbst geschaffenen Gefahr" stets nur mit größter Vorsicht gehandhabt (vgl. zB. BSG 6, 164, 169; 14, 64, 67; 30, 14, 15 ff). Das Verhalten des Ehemannes der Klägerin zu 1), noch dazu eines Prüfers von Kraftfahrzeugen, ist zwar überaus leichtsinnig gewesen. Es ist indessen aus der Unfallsituation heraus zu erklären. Eine solche auch bei einem Mann in mittleren Jahren nicht auszuschließende unbedachte Unfallreaktion ist deshalb noch nicht als in so hohem Maße vernunftwidrig anzusehen, daß sie als die rechtlich-wesentliche Ursache des Unfallereignisses zu werten ist. Insofern weicht die vorliegende Sache von dem in äußerer Beziehung vergleichbaren Sachverhalt ab, über den der erkennende Senat im Urteil vom 31. Mai 1967 (SozR Nr. 77 zu § 542 RVO aF) zu befinden hatte.
Die Revision der Beklagten war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Fundstellen