Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente und Beschäftigungszeiten in den von Polen übernommenen deutschen Gebieten eines nicht als "Vertriebenen" anerkannten Versicherten
Leitsatz (amtlich)
Hat ein Versicherter erst nach dem 1945-05-08 seinen Wohnsitz in den in BVFG § 1 Abs 2 Nr 3 genannten Gebieten begründet und ist er deshalb nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik nicht als Vertriebener anerkannt worden, so können seine dort nach dem 1945-05-08 zurückgelegten Beschäftigungszeiten auch dann nicht nach FRG § 16 bei der Gewährung von Witwenrente berücksichtigt werden, wenn seine als Vertriebene anerkannte Ehefrau mit ihm in die Bundesrepublik übergesiedelt ist.
Leitsatz (redaktionell)
Eine auf FRG § 16 beruhende Beschäftigungszeit ist nur anrechenbar, wenn sie "vor der Vertreibung" zurückgelegt wurde.
Normenkette
RVO § 1268 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; FRG § 1 Buchst. a Fassung: 1965-06-09, Buchst. e Fassung: 1965-06-09, § 16 Fassung: 1960-02-25; BVFG § 1 Abs. 2 Nr. 3 Fassung: 1953-05-19; RV/UVAbk POL Fassung: 1975-10-09
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Juli 1975 wird aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, für Rentenbezugszeiten vor dem 1. Mai 1976 eine höhere Rente zu gewähren.
Insoweit wird die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 19. November 1974 zurückgewiesen.
Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Es ist umstritten, ob die Klägerin für die Zeit bis 30. April 1976 Anspruch auf eine höhere Witwenrente durch Anrechnung einer Beschäftigungszeit des Versicherten hat (§ 16 Fremdrentengesetz - FRG -).
Der Versicherte lebte bis zur Einberufung zum Wehrdienst 1942 im Rheinland. Im September 1945 floh er aus jugoslawischer Kriegsgefangenschaft nach Oberschlesien zu Verwandten. Dort heiratete er 1953 die aus K (Oberschlesien) stammende Klägerin. Er war von Februar 1948 bis November 1958 im Gaswerk H., Oberschlesien, als Kontrolleur beschäftigt. Im Januar 1959 siedelten der Versicherte und die Klägerin von Königshütte in die Bundesrepublik über. Die Klägerin erhielt den Vertriebenenausweis A. Der Antrag des Versicherten auf Ausstellung eines Vertriebenenausweises wurde abgelehnt: er könne nicht als Aussiedler im Sinne des § 1 Abs 2 Nr 3 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) anerkannt werden, da er seinen Wohnsitz in Oberschlesien erst nach dem 8. Mai 1945 begründet habe (Bescheid der Stadt R vom 17. Februar 1959). 1969 erhielt der Versicherte eine Zeitrente wegen Berufsunfähigkeit; die Beschäftigungszeit von 1948 bis 1958 wurde nicht angerechnet, weil er nicht zum Personenkreis des FRG gehörte. Er ist am 2. Januar 1973 gestorben.
Die Beklagte gewährte der Klägerin Witwenrente ohne Anrechnung der Beschäftigungszeit des Versicherten vom 16. Februar 1948 bis 30. November 1958 (Bescheid vom 14. Dezember 1973). Die Klägerin meint, diese Beschäftigungszeit müsse angerechnet werden, weil sie selbst anerkannte Vertriebene sei; es sei unschädlich, daß der Versicherte nicht als Vertriebener anerkannt worden sei.
Für die Zeit seit Inkrafttreten des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 am 1. Mai 1976 bejaht die Beklagte die Berücksichtigung der umstrittenen Beschäftigungszeiten bei der Witwenrente der Klägerin (Art 4 des Abkommens).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage der Klägerin abgewiesen (Urteil vom 19. November 1974). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte zur Gewährung einer höheren Hinterbliebenenrente unter Anrechnung der Beschäftigungszeit verurteilt; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 11. Juli 1975).
Das LSG hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, die Klägerin sei als Vertriebene (§ 1 Buchst a FRG) grundsätzlich zu allen nach dem FRG infrage kommenden Leistungen berechtigt, obwohl der Versicherte nicht als Vertriebener anerkannt worden sei. Für die Anrechnung einer Beschäftigungszeit nach § 16 FRG genüge es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), daß die Beschäftigung vor der Vertreibung des Hinterbliebenen ausgeübt worden sei, wenn der Beschäftigte selbst nicht Vertriebener gewesen sei, "weil er vor der Vertreibung des Hinterbliebenen gestorben" sei (Hinweis auf BSGE 24, 251; 36, 255; Urteile vom 28. Februar 1967 - 4 RJ 407/65, vom 17. März 1967 - 11 RA 292/65, vom 21. September 1971 - 12/11 RA 68/70). Wenn die Anerkennung des Versicherten als Vertriebener allein an der Nichterfüllung der Stichtagsvoraussetzung des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG (Wohnsitz im Vertreibungsgebiet am 8. Mai 1945) gescheitert sei, sei es gerechtfertigt, die Beschäftigungszeiten bei der Witwenrente rentensteigernd zu berücksichtigen. Da die "Aussiedler" (§ 1 Abs 2 Nr 3 BVFG) den "echten" Vertriebenen (§ 1 Abs 1 BVFG) gleichgestellt seien, ohne daß es auf die Beweggründe des Verlassens des Aussiedlungsgebietes ankomme, sei in dem "Verlassen" des Aussiedlungsgebietes die Vertreibung iS des § 16 FRG zu sehen, unabhängig davon, ob der Beschäftigte wegen Nichterfüllung der übrigen Voraussetzungen des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG die Vertriebeneneigenschaft habe erwerben können oder nicht. Für die Berücksichtigung der Beschäftigungszeit bei der Witwenrente spreche das Eingliederungsprinzip des FRG. Die Eingliederung der Hinterbliebenen von solchen Versicherten, die nicht zum Personenkreis des § 1 Buchst a bis d FRG gehörten, werde nur erreicht, wenn das Arbeits- und Versicherungsleben des Verstorbenen so behandelt werde, als ob es im Geltungsbereich des Gesetzes zurückgelegt worden wäre.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie hat sie auf ihre Verurteilung zur Gewährung einer höheren Witwenrente für die Zeit bis 30. April 1976 beschränkt.
Sie beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG aufzuheben, soweit sie verurteilt worden ist, für Rentenbezugszeiten vor dem 1. Mai 1976 eine höhere Rente zu gewähren, und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Duisburg vom 19. November 1974 insoweit zurückzuweisen.
Die Beklagte rügt die Auslegung der §§ 1, 16 FRG durch das LSG. Sie meint, die Berücksichtigung von Zeiten nach §§ 15, 16 FRG setze voraus, daß der Versicherte bzw Beschäftigte zum Personenkreis des § 1 Buchst a bis d FRG gehört habe. Die Vorschriften seien ausnahmsweise auch dann anzuwenden, wenn der Versicherte bzw Beschäftigte nur deshalb nicht als Vertriebener gemäß § 1 BVFG habe anerkannt werden können, weil er vor der Vertreibung oder Aussiedlung im Vertreibungsgebiet gestorben sei und die Hinterbliebenen als Vertriebene anerkannt seien. Die Gleichstellung des Versicherten mit einer Person iS des § 1 Buchst a FRG sei gerechtfertigt, weil er bei einer Vertreibung oder Aussiedlung ebenso wie seine Hinterbliebenen als Vertriebener anerkannt worden wäre und nur sein Verbleib im Vertreibungsgebiet bzw sein Tod die Anerkennung der Vertriebeneneigenschaft verhindert habe. Der Rechtsprechung des BSG hätten ausschließlich Sachverhalte dieser Art zugrunde gelegen. Die Ableitung der Hinterbliebenen-Rentenansprüche von den Ansprüchen des Versicherten bedeute, daß bei Hinterbliebenen nicht mehr Zeiten anrechenbar seien, als dies bei der Versichertenrente möglich gewesen wäre.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Die Beschäftigungszeit von 1948 bis 1958, die der Versicherte in Oberschlesien zurückgelegt hat, ist bei der Hinterbliebenenrente der Klägerin für die Rentenbezugszeit vor Inkrafttreten des deutsch-polnischen Rentenabkommens vom 9. Oktober 1975 am 1. Mai 1976, dh bis 30. April 1976, nicht anzurechnen (§ 16 FRG).
Die Klägerin gehört als anerkannte Vertriebene zum Personenkreis des § 1 Buchst a FRG. Sie ist daher berechtigt, die Vergünstigungen des FRG in Anspruch zu nehmen. Das Eingliederungsprinzip des FRG gilt auch für sie. Sie kann indes dennoch nicht die Anrechnung der Beschäftigungszeiten des Versicherten in Oberschlesien nach § 16 FRG für die Zeit vor Inkrafttreten des deutsch-polnischen Abkommens vom 9. Oktober 1975 verlangen.
Nach § 16 FRG steht eine "vor der Vertreibung" in den dort genannten Gebieten verrichtete Beschäftigung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Geltungsbereich des FRG, für die Beiträge entrichtet sind, gleich. Zur Bedeutung des § 16 FRG bei Hinterbliebenenrenten ist in BSGE 24, 251, 253 gesagt, daß der gesetzgeberische Gedanke des Eingliederungsprinzips, diejenigen zu schützen, die gewaltsam aus ihren früheren Lebensverhältnissen herausgerissen wurden und die in diesen Verhältnissen begründete Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens verloren haben, in gleicher Weise auf Hinterbliebene von Vertriebenen wie auf vertriebene Hinterbliebene von Personen zutreffe, die vor ihrer Vertreibung gestorben sind (vgl auch BSGE 36, 255, 256; ferner die Urteile vom 19. März 1976 - 11 RA 62/75; vom 21. September 1971 - 12/11 RA 68/70 und vom 17. März 1967 - 11 RA 292/65). In der Entscheidung vom 28. Februar 1967 - 4 RJ 407/65 - hat der Senat ausdrücklich die Frage offengelassen, ob eine andere Auslegung des § 16 FRG geboten sei, wenn andere Gründe als der vorzeitige Tod den Beschäftigten daran gehindert haben, selbst die Vertriebeneneigenschaft zu erwerben. Ein solcher Fall liegt hier vor; die dort offengebliebene Frage ist hier zu bejahen.
In § 16 Satz 1 FRG sind unter "Vertreibung" die in § 1 BVFG aufgeführten Arten der Aufgabe des Wohnsitzes in den dort genannten Gebieten zu verstehen, die die Vertriebeneneigenschaft begründen können, also auch die "Aussiedlung". "Vor der Vertreibung" bedeutet, daß die Beschäftigung rechtliche Bedeutung nach dem FRG erst erlangt, wenn ihr eine "Vertreibung" iS des § 1 BVFG nachgefolgt ist. Wenn eine "Vertreibung" des Beschäftigten durch seinen vorzeitigen Tod unmöglich geworden ist, schließt dies die Anwendung des § 16 FRG auf die Hinterbliebenenrente nach der oben angeführten Rechtsprechung nicht aus. Diese Auslegung in den genannten Entscheidungen entspricht dem Zweck des Eingliederungsprinzips für Hinterbliebene, die selbst Vertriebene sind. Diesem Zweck würde es widersprechen, wenn der Tod des Beschäftigten in den in § 16 FRG genannten Gebieten zwar als Versicherungsfall einerseits das Recht der Hinterbliebenen auf Hinterbliebenenrente begründet, andererseits aber die Gleichstellung mit Hinterbliebenen von Versicherten im Bundesgebiet bei der Gewährung von Hinterbliebenenrente beeinträchtigen würde, weil er schon in den fremden Gebieten eingetreten ist und dadurch die Erfüllung des Merkmals einer Beschäftigung "vor der Vertreibung" in der Person des Beschäftigten verhindert hat. Die Auslegung des § 16 FRG in den genannten Urteilen ist daher gerechtfertigt, wenn der Beschäftigte ohne den vorzeitigen Tod eine Vertreibung aus den in § 1 BVFG und § 16 FRG genannten Gebieten erlitten hätte. Die Rechtsprechung des BSG in den genannten Entscheidungen ist demnach dahingehend zu verstehen, daß beim Tod des Beschäftigten vor der Erfüllung des Tatbestands der Vertreibung in § 16 FRG diejenigen Merkmale des § 1 BVFG vorgelegen haben müssen, die abgesehen von der Wohnsitzbegründung im Bundesgebiet für die Annahme einer "Vertreibung" gefordert werden. Daran fehlt es im vorliegenden Fall.
Die Übersiedlung des Versicherten von Oberschlesien in die Bundesrepublik war keine "Vertreibung" oder "Aussiedlung" iS des BVFG, sondern die Rückkehr in das Herkunftsgebiet, dh in die Bundesrepublik, oder ein Wohnortwechsel aus einem sonstigen Grund. Daran ändert nichts, daß die Klägerin Vertriebene ist.
Die Worte in § 16 FRG "vor der Vertreibung" beziehen sich auf "verrichtete Beschäftigung" und betreffen die Person des Beschäftigten. Diese Auffassung steht nicht in Widerspruch zu dem angeführten Urteil des 11. Senats vom 19. März 1976. Der 11. Senat hat darin nur aus den Worten "vor der Vertreibung" einen allgemeinen Gedanken des FRG entnommen, der auch bei § 15 FRG zu berücksichtigen ist, wenn der versicherte Ehemann im fremden Gebiet verblieben und dort gestorben ist, während die Ehefrau bereits zu seinen Lebzeiten in die Bundesrepublik gelangt und als Vertriebene anerkannt worden ist.
Nach § 14 FRG bleiben § 1263 Abs 2 und § 1268 Abs 1 und 2 RVO auch bei Anwendung des § 16 FRG auf die Rente von Hinterbliebenen iS des § 1 Buchst a FRG unberührt. Die Hinterbliebenenrente wird auch in Fällen der Vertreibung aus den vom Versicherten zurückgelegten "Versicherungs"-Zeiten hergeleitet.
Im vorliegenden Fall liegt keine Vertreibung iS des § 1 BVFG vor, denn der Versicherte hat die Stichtagsvoraussetzungen einer Vertreibung nicht erfüllt. Deshalb scheitert hier die Anrechnung der Beschäftigungszeit nicht daran, daß der Versicherte den Tatbestand der Vertreibung infolge seines Todes nicht erfüllt hätte, sondern daran, daß er ihn nie erfüllen konnte.
Der Bescheid über die Ablehnung der Ausstellung eines Vertriebenenausweises für den Versicherten ist, wie die Klägerin zu Recht bemerkt, für sie nicht bindend. Die Feststellung, daß der Versicherte erst im September 1945 seinen Wohnsitz in Oberschlesien genommen hat - § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG - ist indes nicht angegriffen worden. Es ist auch nichts festgestellt, was sonst für die Vertriebeneneigenschaft des Versicherten aus anderen Gründen des § 1 BVFG sprechen könnte. § 1 Abs 3 BVFG betrifft nur Ehegatten, die nicht selbst deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige sind. Darunter fällt der Vertriebene nicht. Diese Vorschrift kann auf ihn auch nicht entsprechend angewendet werden, weil für deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige ausdrücklich die übrigen Vorschriften des § 1 geschaffen sind.
Da die Klägerin somit für die Zeit bis 30. April 1976 keinen Anspruch auf höhere Rente durch Anrechnung einer Beschäftigungszeit von 1948 bis 1958 hat, ist die Revision der Beklagten in diesem zeitlichen Umfang begründet. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz. Die Beschränkung der Revision auf Rentenbezugszeiten bis 30. April 1976 während des Revisionsverfahrens verlangt nicht, der Beklagten Verfahrenskosten aufzuerlegen. Der Erfolg der Klägerin für die Rentenbezugszeit seit dem 1. Mai 1976 beruht allein auf der durch das deutsch-polnische Renten- und Unfallversicherungsabkommen vom 9. Oktober 1975 geänderten Rechtslage. Die Beklagte hat dem durch die Beschränkung ihrer Revision ohne Verzögerung Rechnung getragen.
Fundstellen