Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 31.03.1993) |
SG Freiburg i. Br. (Urteil vom 23.08.1991) |
Tenor
Auf die Revision der Kläger werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. März 1993 und das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 23. August 1991 aufgehoben. Die Bescheide der Beklagten vom 26. Mai 1989, 23. Januar 1990 und 15. August 1990 werden aufgehoben.
Die Beklagte hat den Klägern deren außergerichtliche Kosten in allen Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die Beklagte die Waisenrente der Kläger durch die angefochtenen Bescheide mindern durfte. Die Kläger sind Kinder des im März 1987 verstorbenen S. … T. … (im folgenden: Versicherter). Dieser war türkischer Staatsangehöriger und in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigter anerkannt. Neben einer Versicherungszeit von über 60 Kalendermonaten in der Bundesrepublik hatte er in der Türkei von 1973 bis 1976 versicherungspflichtig gearbeitet. Die Landesversicherungsanstalt Baden (LVA Baden) gewährte den Klägern mit Bescheid vom 16. Juli 1987 Halbwaisenrente. Bei der Berechnung berücksichtigte sie nur die in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten. Mit Bescheid vom 22. Mai 1989 nahm die Beklagte den Bescheid der LVA Baden vom 16. Juli 1987 auch für die Vergangenheit zurück. Sie berechnete nunmehr die Halbwaisenrente der Kläger unter Berücksichtigung der Vorschriften des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit idF des Zusatzabkommens vom 2. November 1984 (BGBl 1986 II S 1040 – im folgenden: Abkommen –). Der Erhöhungsbetrag der Halbwaisenrente wurde nur noch zur Hälfte festgesetzt. Im Bescheid ist dazu der Hinweis enthalten, daß der Erhöhungsbetrag vorläufig nur zur Hälfte gezahlt werde, weil noch nicht bekannt sei, ob vom türkischen Versicherungsträger auch Waisenrente nach türkischen Rechtsvorschriften gewährt werde. Das zwischenstaatliche Verfahren mit dem türkischen Sozialversicherungsträger wurde von der Beklagten anschließend eingeleitet.
Mit ihrer Klage machten die Kläger geltend, daß die Rücknahme für die Vergangenheit – wie sie von der Beklagten vorgenommen wurde – nicht berechtigt sei.
Sie beanstandeten aber auch, daß der Erhöhungsbetrag auch für die Zukunft nur zur Hälfte ausgezahlt werden sollte. Die Beklagte änderte ihren Bescheid insoweit, als sie bis 31. März 1989 den vollen Erhöhungsbetrag gewährte (Bescheid vom 23. Januar 1990). Mit Bescheid vom 15. August 1990 wurden die Renten angepaßt. Die Klage auf Aufhebung der Bescheide vom 22. Mai 1989, 23. Januar 1990 und 15. August 1990 sowie Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der Waisenrente mit dem vollen Erhöhungsbetrag über den 31. März 1989 hinaus hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 23. August 1991). Die Berufung der Kläger hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 31. März 1993). Das LSG hat in den Entscheidungsgründen im wesentlichen ausgeführt, daß die Erhöhung der Waisenrente um den vollen Kinderzuschuß (§§ 1269 Abs 2 Satz 3, 1262 Abs 4 RVO) hier an Art 28 Abs 4 des deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens scheitere.
Dieses Urteil haben die Kläger mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Die Kläger rügen die Verletzung materiellen Rechts. Sie machen geltend, daß die Minderung des Erhöhungsbetrages nach Art 28 Abs 4 Abkommen nur zulässig sei, wenn tatsächlich eine Rente vom türkischen Versicherungsträger gezahlt werde. Im übrigen sei es aber auch weder ihrer gesetzlichen Vertreterin, die Asylberechtigte sei, noch der Klägerin zu 1) selbst, die inzwischen volljährig aber auch Asylberechtigte sei, zumutbar, für die Gewährung der türkischen Versichertenrente unmittelbar mit den türkischen Behörden Kontakt aufzunehmen.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. März 1993 dahingehend abzuändern, daß die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 22. Mai 1989, 23. Januar 1990 und 15. August 1990 verurteilt wird, ihnen über den 31. März 1989 hinaus Waisenrente mit dem vollen Erhöhungsbetrag zu gewähren, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. März 1993 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind darauf hingewiesen worden, daß im vorliegenden Fall Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Bescheide auch aus verwaltungsverfahrensrechtlichen Gesichtspunkten bestehen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Kläger ist begründet. Die angefochtenen Urteile sind aufzuheben, denn die mit der Klage angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Der aus der Rechtswidrigkeit folgende Aufhebungsanspruch ist hier auch nicht nach § 42 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB X) ausgeschlossen.
Die Bescheide vom 22. Mai 1989 und 23. Januar 1990 sind schon deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte bei ihrem Erlaß § 35 SGB X nicht beachtet hat. Die Beklagte hat mit dem Bescheid vom 22. Mai 1989 den die Kläger begünstigenden Bescheid der LVA Baden vom 16. Juli 1987 aufgehoben und zum Nachteil der Kläger geändert. Sie hat ihre Entscheidung in der Begründung deshalb zutreffend auf § 45 SGB X gestützt. Nach dieser Vorschrift kann ein begünstigender Verwaltungsakt unter bestimmten Voraussetzungen für die Zukunft und dann, wenn weitere Voraussetzungen erfüllt sind, auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG steht die Rücknahme eines Bescheides nach § 45 SGB X im Ermessen der Beklagten (vgl BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 1 mwN), so daß der Rücknahmebescheid gem § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X die Gesichtspunkte erkennen lassen muß, von denen der Versicherungsträger bei der Ausübung seines Ermessens ausgegangen ist. Weder im Bescheid vom 22. Mai 1989 noch im Bescheid vom 23. Januar 1990 ist indes erkennbar, daß die Beklagte bei der Rücknahme des Verwaltungsaktes der LVA Baden Ermessen ausgeübt hat. Der Bescheid vom 22. Mai 1989 läßt vielmehr hinsichtlich der Neuberechnung der Rente und der damit verbundenen Rücknahme des Bescheides vom 16. Juli 1987 sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft erkennen, daß die Beklagte über die Rücknahme des Bescheides vom 16. Juli 1987 gerade keine Ermessensentscheidung hat treffen wollen, sondern sich zur Aufhebung dieses Bescheides aufgrund der Annahme eines gebundenen Verwaltungshandelns für verpflichtet gehalten hat. Derartige Rücknahmebescheide unterliegen nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats allein wegen der fehlenden Ermessensentscheidung der Aufhebung (vgl Urteil des Senats vom 13. Juli 1988, SozR 1300 § 45 Nr 39 im Anschluß an das Urteil des 1. Senats, SozR aaO Nr 32).
Auch der Bescheid vom 23. Januar 1990 enthält keine Ermessenserwägungen, soweit die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 16. Juli 1987 aufrechterhalten hat. Anhaltspunkte dafür, daß die Beklagte Ermessen nicht ausüben mußte, sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist der Umstand, daß die Beklagte den Erhöhungsbetrag nur „vorläufig” lediglich zur Hälfte gewähren will, kein solcher Grund. Nach § 45 SGB X kann eine zu Unrecht erfolgte Leistungsbewilligung nicht vorläufig zurückgenommen werden. Die Rücknahme des Bescheides vom 16. Juli 1987 durch die Beklagte setzt zwingend voraus, daß die Bewilligung des vollen Erhöhungsbetrages nach Überzeugung der Beklagten zur Zeit unberechtigt ist. Ob der Bescheid gleichwohl zurückgenommen werden soll, steht dennoch im Ermessen der Beklagten. Da die Beklagte auch im Bescheid vom 23. Januar 1990 kein Ermessen ausgeübt hat, muß der Senat nicht entscheiden, ob er sich der Ansicht des 7. Senats anschließt, daß der Beklagten schon die Kompetenz fehlt, während eines Gerichtsverfahrens einen Bescheid, der ohne notwendige Ermessenserwägungen ergangen ist, durch einen neuen Bescheid mit Ermessenserwägungen zum selben Regelungsgegenstand zu ersetzen (vgl SozR 1300 § 41 Nr 2).
Soweit die Beklagte in dem Bescheid den Bescheid vom 22. Mai 1989 der LVA Baden auch für die Vergangenheit zurückgenommen hat, wird vorsorglich darauf hingewiesen, daß die Rücknahme für die Vergangenheit auch, entgegen der Annahme des LSG, durch den Bescheid vom 23. Januar 1990 nicht vollständig beseitigt worden ist. Der zuletzt genannte Bescheid hat lediglich die Rücknahme für die Zeit bis 31. März 1989 aufgehoben, indem bis zu diesem Zeitpunkt weiterhin der volle Erhöhungsbetrag gewährt wurde. Da der Bescheid vom 22. Mai 1989 aber, auf die Zukunft bezogen, erst Wirkung ab 1. Juni 1989 entfalten konnte, ist dessen Wirkung der Rücknahme für die Vergangenheit für die Zeit von April bis Mai 1989 aufrechterhalten geblieben. Die Beklagte und das LSG sind anscheinend der Auffassung, daß keine Rücknahme für die Vergangenheit iS von § 45 Abs 4 SGB X vorliegt, wenn ein Bescheid für die Vergangenheit aufgehoben wird und die durch den aufgehobenen Bescheid zuerkannte Leistung bereits vorher aufgrund verwaltungsinterner Entscheidungen nicht mehr ausgezahlt worden ist, wie das im vorliegenden Fall für die Zeit ab 1. April 1989 zunächst geschehen ist.
Dies ist unrichtig. Die Zahlungseinstellung beseitigt nicht den durch den Bescheid zuerkannten Zahlungsanspruch. Die Wirkungen eines begünstigenden Bescheides – bei einem Rentenbescheid: Anspruch auf Auszahlung der Rente – bleiben bestehen bis dieser Bescheid durch einen anderen Bescheid beseitigt wird oder der Anspruchsberechtigte stirbt.
Es besteht für den Senat bei diesem Sachverhalt keine Veranlassung, auf die vom LSG und der Beklagten erörterten Frage einzugehen, wie Art 28 Abs 4 des Abkommens auszulegen ist.
Der Anpassungsbescheid vom 15. August 1990 ist ebenfalls aufgehoben worden. Da die Beklagte aufgrund des Bescheides der LVA Baden vom 16. Juli 1987 weiter zur Leistung verpflichtet ist, ist das Klageziel der Kläger mit Aufhebung der angefochtenen Bescheide erreicht. Einer Verurteilung zur Leistung im Urteilstenor bedurfte es nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen