Entscheidungsstichwort (Thema)

Studentischer Ausgleichsdienst als Ersatzzeit

 

Orientierungssatz

Ein studentischer Ausgleichsdienst eines Wehruntauglichen zwischen 1933 und 1945 als Voraussetzung für die Aufnahme oder Fortsetzung eines akademischen Studiums ist kein militärähnlicher Dienst iS von BVG § 3 und somit nicht Ersatzzeit nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 1. Der nur mittelbar und auf den Kreis der Studenten beschränkte Zwang steht keiner allgemeinen gesetzlichen Dienstpflicht gleich (Festhaltung an BSG 1979-03-14 1 RA 41/78 = SozR 2200 § 1251 Nr 61).

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 3 Abs. 1 Buchst. i

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.04.1980; Aktenzeichen L 13 An 253/77)

SG Dortmund (Entscheidung vom 27.10.1977; Aktenzeichen S 5 An 95/76)

 

Tatbestand

Streitig ist die rentensteigernde Anrechnung eines studentischen Ausgleichsdienstes.

Der 1923 geborene Kläger unterbrach sein 1941 als Wehruntauglicher aufgenommenes Rechtsstudium für die Zeit vom 15. Oktober 1942 bis 31. März 1943, um einen studentischen Ausgleichsdienst abzuleisten. Er unterzog sich einem Lehrgang als Luftschutzausbilder und hielt sodann Kurse für Luftschutz ab.

Mit Bescheid vom 19. September 1975 und Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 1976 lehnte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) einen Antrag des Klägers ab, den Ausgleichsdienst als Ersatzzeit vorzumerken: Dieser sei allein Voraussetzung für die Aufnahme des Studiums gewesen; um militärähnlichen Dienst habe es sich nicht gehandelt.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1977), und das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung hiergegen mit dem angefochtenen Urteil vom 15. April 1980 zurückgewiesen. In der Begründung führt das Gericht aus, die fragliche Dienstleistung auf Grund von Erlassen des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung sei kein Arbeitsdienst (§ 3 Abs 1 Buchst i des Bundesversorgungsgesetzes -BVG-), aber auch kein Dienst im Luftschutz (§ 3 Abs 1 Buchst o aaO). Es habe sich auch um keinen Dienst auf Grund der Notdienstverordnung von 1938 gehandelt. Eine gesetzesergänzende Auslegung des § 3 BVG und des § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) sei nicht möglich. In seiner Eigenschaft als Staatsbürger sei der Kläger von der Pflicht zum Ausgleichsdienst überhaupt nicht betroffen gewesen; nur die Absolvierung solcher Staatsbürgerpflichten entschädige § 28 Abs 1 Nr 1 aaO. Der studentische Ausgleichsdienst stelle ein persönliches Lebensschicksal dar. Das Gesetz sei auch nicht wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes -GG- (Art 3) verfassungswidrig.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Klägers. Er bringt vor, das Berufungsgericht habe Art 3 GG verkannt. Sein Lebensweg hätte bei Nichtableistung des - von hoher Hand angeordneten, sehr wohl im Interesse der Allgemeinheit liegenden - Ausgleichsdienstes wegen der Notwendigkeit, das Studium aufzugeben, einen anderen Verlauf genommen. Die Anordnung, den Dienst zu leisten, stehe daher unmittelbarem Zwang und damit auch dem Reichsarbeitsdienst und dem Wehrdienst gleich. Auch äußerlich sei dieser Dienst bei militärähnlichen Organisationen abgewickelt worden. Der Reichsarbeitsdienst habe auch Luftschutzaufgaben gehabt.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung der Urteile des Sozialgerichts

Dortmund vom 27. Oktober 1977 und des

Landessozialgerichts für das Land

Nordrhein-Westfalen vom 15. April 1980

den Bescheid der Beklagten vom

19. September 1975 in der Gestalt des

Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 1976

abzuändern und die Beklagte zu verpflichten,

ihm die Zeit vom 15. Oktober 1942 bis zum

31. März 1943 als Ersatzzeit anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Auffassung trifft das angefochtene Urteil zu. Dem Anspruch des Klägers stehe die einschlägige Rechtsprechung des 11. und des erkennenden Senats des Bundessozialgerichts (BSG) entgegen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet.

Nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) werden als Ersatzzeit für die Erfüllung der Wartezeit, nach § 35 Abs 1 AVG (= § 1258 Abs 1 RVO) zugleich auf die Rentenhöhe ua Zeiten eines militärähnlichen Dienstes im Sinne des § 3 BVG angerechnet, der auf Grund gesetzlicher Dienstpflicht geleistet worden ist.

Der Kläger behauptet selbst nicht, daß für den von ihm vom 15. Oktober 1942 bis 31. März 1943 geleisteten studentischen Ausgleichsdienst eine Pflicht bestand, die durch Gesetz begründet worden war. Er glaubt aber, dieser Dienst sei in gesetzesergänzender Anwendung des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG wie auf Grund gesetzlicher Dienstpflicht geleistet anzusehen. Darin kann ihm nicht gefolgt werden. Der erkennende Senat hat es in bereits gesicherter Rechtsprechung immer abgelehnt, einen durch ministerielle Erlasse zwischen 1933 und 1945 begründeten studentischen Arbeitsdienst oder - einen solchen abgeltend - einen studentischen Ausgleichsdienst Wehruntauglicher als Ersatzzeit anzuerkennen. Er hat sich dabei, im wesentlichen in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des 11. Senats (BSGE 43, 192 = SozR 2200 § 1251 Nr 32), auf die Überlegung gestützt, daß ein nur mittelbarer und auf den Kreis der Studenten beschränkter Zwang keiner allgemeinen gesetzlichen Dienstpflicht gleichstehen könne (SozR 2200 § 1251 Nr 39, 40 und 61). Der Senat hält an dieser Rechtsprechung auch aus den nachfolgenden Überlegungen fest:

§ 28 Abs 1 Nr 1 AVG billigt dem Versicherten einen rentenrechtlichen Ausgleich ("Ersatz") dafür zu, daß er von hoher Hand durch staatlichen Zugriff zu einer gesetzlich festgelegten Dienstleistung herangezogen worden ist, also aus nicht von ihm selbst, sondern von der Volksgesamtheit zu vertretenden Gründen gehindert war, eine - mutmaßlich - versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit auszuüben und so rentenstützend Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung zurückzulegen (vgl dazu mit zahlreichen Nachweisen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Entscheidung des erkennenden Senats vom 24. April 1980 - 1 RA 35/79). Nach diesem Grundgedanken des Gesetzes - Entschädigung für einen von der Volksgesamtheit zu vertretenden Beitragsausfall - kann der Rentenversicherungsträger nicht ermächtigt sein, zu Lasten der Gemeinschaft aller Rentenversicherten Ersatzzeiten für Dienstleistungen zu bewilligen, die dem Versicherten - gemessen an den tatsächlichen und an den rechtlichen Gegebenheiten zur Zeit der Ableistung - erhebliche Vorteile einbrachten, die nicht ganz allgemein und für jedermann mit diesem Dienst verbunden waren. Es läßt sich ausschließen, daß der Gesetzgeber in § 28 Abs 1 Nr 1 AVG in Kauf hätte nehmen wollen, daß der durch einen solchen Vorteil begünstigte Versicherte zusätzlich noch durch Gewährung einer Ersatzzeit "entschädigt" werde.

Mit der Ableistung des hier streitigen studentischen Ausgleichsdienstes 1942/43 war für den Kläger der - weit in die Zukunft reichende - Vorteil verbunden, ein akademisches Studium weiterführen zu dürfen und damit einen akademischen Beruf zu erreichen. Die Ableistung des Ausgleichsdienstes war für den Kläger, ganz abgesehen von dessen allgemein geringer zeitlicher Dauer, ungleich leichter hinnehmbar als für einen Arbeiter oder einen Angestellten der gesetzliche Dienst im Reichsarbeitsdienst oder in der Wehrmacht und der durch ihn bewirkte Beitragsausfall in der gesetzlichen Rentenversicherung. Deshalb ist der Gleichheitssatz (Art 3 GG) nicht verletzt.

Es ist daher nicht angängig, § 28 Abs 1 Nr 1 AVG über seinen Wortlaut und über den damit zu verbindenden Sinngehalt hinaus auf Fälle zu erstrecken, in denen die Ableistung eines nicht gesetzlichen Arbeits- oder Ausgleichsdienstes Bedingung allein für die Aufnahme oder die Weiterführung eines akademischen Studiums war.

Zutreffend hat das LSG im übrigen dargelegt, daß der vom Kläger unstreitig auf Grund ministerieller Erlasse geleistete Dienst kein Dienst im Luftschutz nach § 3 Abs 1 Buchst o BVG war, weil er nicht "auf Grund der Ersten Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz" abgeleistet wurde.

Das angefochtene Urteil trifft nach allem zu, so daß die Revision hiergegen als unbegründet zurückzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658741

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