Entscheidungsstichwort (Thema)
Abkommensübergreifende Zusammenrechnung von Versicherungszeiten. Zuständiger Versicherungsträger
Orientierungssatz
1. Bei der abkommensübergreifenden Zusammenrechnung von Versicherungszeiten unterscheidet sich der vertragsgesetzliche innerstaatliche deutsche Anspruch gegen den deutschen Rentenversicherungsträger in nichts von einem Anspruch, der dem Berechtigten aus einem sonstigen deutschen Gesetz gegen den deutschen Rentenversicherungsträger zusteht (vgl BSG Großer Senat vom 29.5.1984 GS 1/82 = BSGE 57, 23).
2. Ist mehr als ein zweiseitiges zwischenstaatliches Abkommen anzuwenden und in jedem der zu berücksichtigenden Abkommen ein anderer zwischenstaatlicher Versicherungsträger als Verbindungsstelle bestimmt, so wird die Zuständigkeit allein von der zeitlichen Reihenfolge abhängig gemacht, in der die nach den verschiedenen Sozialversicherungsabkommen prinzipiell als zuständig in Betracht kommenden Versicherungsträger angegangen worden sind.
Normenkette
SozSichAbk AUT Art 26 Abs 1 S 1; SozSichAbk YUG Art 3; RVO § 1250 Abs 1; AVG § 27 Abs 1; RVO § 1323; AVG § 102
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Höhe Witwenrente an die Klägerin zu zahlen ist und welcher Versicherungsträger für die Rentengewährung zuständig ist.
Die Klägerin ist jugoslawische Staatsangehörige. Ihr Ehemann, der ebenfalls die jugoslawische Staatsangehörigkeit besaß, ist am 21. Mai 1977 verstorben. Für den Ehemann sind in Österreich 23 Beitragsmonate nachgewiesen; in der Bundesrepublik Deutschland war er von November 1972 bis zu seinem Tode (55 Kalendermonate) versicherungspflichtig beschäftigt.
Die Klägerin, die seit 1977 wieder in Jugoslawien lebt, beantragte über den jugoslawischen Versicherungsträger im Oktober 1977 bei der Beklagten Hinterbliebenenrente für sich und ihre vier Kinder. Die Beklagte lehnte die Rentengewährung ab, da die Wartezeit nicht erfüllt sei (Bescheid vom 1. Juni 1978). Die österreichischen Versicherungszeiten könnten bei der Feststellung der Versicherungsleistung nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über soziale Sicherheit vom 12. Oktober 1968 (BGBl II 1969 S 1438; im folgenden: deutsch-jugoslawisches Abkommen) idF des Abkommens zur Änderung des Abkommens vom 12. Oktober 1968 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über soziale Sicherheit vom 30. September 1974 (BGBl II 1975 S 390) nicht berücksichtigt werden. Den Widerspruch wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 22. November 1978).
Während des Klageverfahrens sind die Verwaltungsakten von der Beklagten der Beigeladenen zu 1) zugeleitet worden. Diese ist die nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über soziale Sicherheit vom 22. Dezember 1966 (BGBl II 1969 S 1235; im folgenden: DÖSVA) zuständige Verbindungsstelle. Die Beigeladene zu 1) lehnte zunächst ebenfalls die Gewährung von Witwenrente ab (Bescheid vom 15. Januar 1980). Nach Änderung der Vorschriften über die "Erbringung von Leistungen an Berechtigte außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsordnung" durch das Rentenanpassungsgesetz 1982 stellte die Beigeladene zu 1) durch Bescheid vom 24. August 1983 rückwirkend ab 21. Mai 1977 einen Anspruch auf Witwenrente fest. Die Rente wurde in Höhe von 70 vH der aus den bundesdeutschen Pflichtbeiträgen errechneten Rente gezahlt.
Die Klägerin hat während des Klageverfahrens die Ansicht vertreten, die Beklagte sei als zuerst angegangener Versicherungsträger für die Feststellung der Leistungen und die Rentengewährung zuständig.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 1. Juni 1978 und 22. November 1978 verurteilt, der Klägerin Witwenrente aus der Versicherung des D. I. zu gewähren (Urteil vom 8. Mai 1985). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 20. Juli 1989 mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte der Klägerin ab 21. Mai 1977 Witwenrente nach §§ 1264, 1268 Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Anrechnung der von der Beigeladenen zu 1) erbrachten Leistungen zu gewähren habe.
SG und LSG haben sich auf den Standpunkt gestellt, daß die Beklagte als der zuerst angegangene Versicherungsträger für die Feststellung und Gewährung der Hinterbliebenenrente zuständig sei. Die Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Mai 1984 (BSGE 57, 23 = SozR 2200 § 1250 Nr 20) zur Zuständigkeit der Versicherungsträger bei multilateraler Zusammenrechnung von Versicherungszeiten sei auch auf einen Fall wie den vorliegenden anzuwenden. Die Beklagte müsse auch die ungekürzte Witwenrente an die Klägerin zahlen. Dies ergebe sich aus den für die Rentenzahlung maßgebenden Vorschriften des deutsch-jugoslawischen Abkommens.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten.
Sie macht geltend, das Urteil verstoße gegen § 1323 der RVO. SG und LSG hätten sie zu Unrecht dazu verurteilt, die ungekürzte Rente zu gewähren. Die Rente sei nach dem DÖSVA zu gewähren. Neben den Vorschriften dieses Abkommens könnten die Vorschriften des deutsch-jugoslawischen Abkommens nicht angewandt werden. Dies sei nochmals durch Ziff 2 Buchst d des Schlußprotokolls zum DÖSVA idF des 3. Zusatzabkommens vom 29. August 1980 (BGBl II 1982 S 415) klargestellt worden. Danach dürften bei Anwendung des deutsch-österreichischen Abkommens andere Abkommen nicht berücksichtigt werden. Ziff 2 Buchst d) sei eine authentische Interpretation des ohnehin schon in Art 2 Abs 2 DÖSVA vereinbarten. Auch aus dem Beschluß des Großen Senats ergebe sich nichts anderes. Dieser betreffe nur die multilaterale Zusammenrechnung von Versicherungszeiten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Juli 1989 und das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 8. Mai 1985 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 1. Juni 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. November 1978 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beigeladene zu 1) schließt sich dem Antrag der Beklagten an.
Die Beigeladene zu 2) stellt keinen Sachantrag.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung der ungekürzten Hinterbliebenenrente nach Jugoslawien, und die Beklagte ist der für die Rentenfeststellung und -zahlung zuständige Versicherungsträger.
Für die Rentenfeststellung und -zahlung der Hinterbliebenenrente an die Klägerin sind sowohl die Vorschriften des DÖSVA als auch die des deutsch-jugoslawischen Abkommens anzuwenden. Die des DÖSVA, weil der Versicherte Versicherungszeiten nur in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hatte. Nach Art 26 des DÖSVA, dessen Geltung nicht auf die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten begrenzt ist, hat die Klägerin einen Anspruch auf Zusammenrechnung der deutschen und österreichischen Versicherungszeiten für die Erfüllung der Wartezeit. Ein Rentenanspruch besteht für die Klägerin auch nur bei Zusammenrechnung der deutschen und österreichischen Versicherungszeiten nach Art 26 DÖSVA, denn allein mit den deutschen Versicherungszeiten von 55 Kalendermonaten ist die Wartezeit nach § 1263 Abs 2 RVO nicht erfüllt. Das deutsch-jugoslawische Abkommen ist für die Zahlung der Rente an die Klägerin in Jugoslawien anzuwenden, obwohl die Wartezeit des § 1263 Abs 2 RVO nur unter Berücksichtigung der nach dem DÖSVA zu berücksichtigenden österreichischen Versicherungszeiten erfüllt ist. Bei Anwendung des deutsch-jugoslawischen Abkommens sind die nach dem DÖSVA für die Wartezeit anrechenbaren österreichischen Versicherungszeiten so zu berücksichtigen, als ob sie innerstaatliche (allerdings nur für die Wartezeiterfüllung und nicht für die Rentenhöhe maßgebende) Versicherungszeiten wären.
Dies ergibt sich aus der Begründung, die der Große Senat in seiner oa Entscheidung für die abkommensübergreifende Zusammenrechnung von Versicherungszeiten gegeben hat. Danach unterscheidet sich der vertragsgesetzliche innerstaatliche deutsche Anspruch gegen den deutschen Rentenversicherungsträger in nichts von einem Anspruch, der dem Berechtigten aus einem sonstigen deutschen Gesetz gegen den deutschen Rentenversicherungsträger zusteht (BSGE 57, 23, 29, 30). Bei Anwendung des deutsch-jugoslawischen Abkommens ist die Klägerin deshalb so zu behandeln, als ob sie nach deutschen Rechtsvorschriften die Wartezeit erfüllt hat. Die Anwendung des deutsch-jugoslawischen Abkommens ist auch nicht durch Vorschriften des DÖSVA ausgeschlossen. Auch dies ist in dem oa Beschluß des Großen Senats jedenfalls für Versicherungsfälle vor dem 1. Juli 1982 festgestellt worden. Ziffer 2d des Schlußprotokolls zum DÖSVA in der Fassung durch Art I Nr 13 des 3. Zusatzabkommens vom 29. August 1980 zum DÖSVA ist nicht zu berücksichtigen, denn diese Änderung ist erst am 1. Juli 1982 in Kraft getreten (vgl die Bekanntmachung vom 20. Juli 1982 - BGBl II S 748) und bezieht sich nicht auf Versicherungsfälle vor Inkrafttreten der Änderung. Dabei kann offenbleiben, ob Ziffer 2d des Schlußprotokolls in der ab 1. Juli 1982 geltenden Fassung überhaupt eine Änderung des Art 2 Abs 2 DÖSVA oder aber eine Klarstellung beinhaltet, wie die Beklagte meint. Die vor dem 1. Juli 1982 geltende Rechtslage ist jedenfalls durch den oa Beschluß des Großen Senats klargestellt (vgl BSGE 57, 23, 34). Darauf hat das BSG bereits im Urteil vom 19. Januar 1989 (SozR 6675 Art 26 Nr 2) hingewiesen. Hier ist der Versicherungsfall 1977 eingetreten. Es gibt auch keine anderen Gründe, die es hier ausschließen würden, für den Anspruch der Klägerin auf Zahlung der Rente nach Jugoslawien die Vorschriften des deutsch-jugoslawischen Abkommens anzuwenden.
Die Klägerin hat danach Anspruch auf Zahlung der nicht nach § 1323 RVO gekürzten Rente, wie es das SG in den Gründen seiner Entscheidung ausgeführt hat. Die Kürzung der Rente nach § 1323 RVO ist nach den Art 3 ff des deutsch-jugoslawischen Abkommens ausgeschlossen.
Die Beklagte ist auch der für die Leistungsfeststellung und -gewährung zuständige Versicherungsträger. Auch im vorliegenden Fall richtet sich dessen Zuständigkeit nach den Grundsätzen, die in dem oa Beschluß des Großen Senats aufgestellt worden sind. Der Große Senat hat zwar nur festgestellt, daß dann, wenn für einen Rentenanspruch außer deutschen Beitragszeiten Beitragszeiten nach mehr als einem Sozialversicherungsabkommen in Betracht kommen, die zuerst angegangene Verbindungsstelle zuständig ist. Diese Fassung des Rechtssatzes ergab sich daraus, daß der Große Senat nur über die Frage zu entscheiden hatte, wie zu verfahren ist, wenn Versicherungszeiten sowohl in der Bundesrepublik Deutschland, als auch in Österreich als auch in Jugoslawien bzw der Türkei zurückgelegt worden waren und die Wartezeit nur bei Zusammenrechnung von Versicherungszeiten aus mindestens zwei dieser Länder erfüllt war. Ist mehr als ein zweiseitiges zwischenstaatliches Abkommen anzuwenden und in jedem der zu berücksichtigenden Abkommen ein anderer zwischenstaatlicher Versicherungsträger als Verbindungsstelle bestimmt, so muß immer bestimmt werden, welcher Versicherungsträger zuständig sein soll. Diese Frage ist auch nicht aus den Vorschriften der jeweiligen Abkommen zu beantworten. Auch auf diesem Problem beruhte die Anfrage an den Großen Senat, die zu der oa Entscheidung führte. Die Frage wird sinnvoll nur einheitlich danach entschieden, ob Abkommensvorschriften anzuwenden sind und nicht danach, welche Vorschriften im einzelnen. Der Große Senat hat für die Bestimmung des zuständigen Versicherungsträgers auch nicht auf Versicherungszeiten - etwa auf den zuletzt entrichteten ausländischen Versicherungsbeitrag - abgestellt, sondern den Anknüpfungspunkt allein von der zeitlichen Reihenfolge abhängig gemacht, in der die nach den verschiedenen Sozialversicherungsabkommen prinzipiell als zuständig in Betracht kommenden Versicherungsträger angegangen worden sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen