Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeitsrente. Erwerbsunfähigkeitsrente. erste Folgerente. Altersrente. zweite Folgerente. Zusammentreffen mit Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Rechtsänderung. Grenzbetrag
Leitsatz (amtlich)
Hat der Bezieher einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung bereits vor dem 1.1.1992 auch eine - noch nach den Vorschriften der RVO berechnete - Rente wegen Berufsunfähigkeit bezogen und schließen sich hieran in der Zeit nach dem 1.1.1992 zunächst Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (erste Folgerente) und später Altersrente (zweite Folgerente) an, ist für beide Folgerenten der dem Berechtigten günstigere Grenzbetrag durch vergleichende Gegenüberstellung der Anrechnungsbeträge alten und neuen Rechts iS des § 266 SGB 6 zu ermitteln.
Normenkette
SGB VI § 93 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a, Abs. 3, §§ 266, 311 Abs. 5, § 312; RVO § 1278
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Februar 2005 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die Beklagte auf die Altersrente (AlR) für schwerbehinderte Menschen des Klägers ab 1. Juni 2002 Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) in richtiger Höhe anrechnet.
Der 1942 geborene Kläger erhält nach einem Versicherungsfall im Mai 1981 Verletztenrente aus der gesetzlichen UV nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH von der jetzigen Maschinenbau- und Metall Berufsgenossenschaft. Ab Juli 1985 gewährte ihm die Beklagte Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) nach einem Versicherungsfall im Mai 1983 in voller Höhe, weil die Summe der Renten geringer war als der Grenzbetrag nach § 1278 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs erhielt der Kläger ab April 1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), nunmehr – wegen höherer Gesamtrentenleistungen – unter Anrechnung der Verletztenrente (Ausführungsbescheid vom 22. Januar 1997).
Auf Antrag des Klägers gewährte die Beklagte ab Juni 2002 AlR für schwerbehinderte Menschen (Bescheid vom 25. Juni 2002). Den Monatsbruttobetrag der Rente stellte die Beklagte für die Zeit ab Juni 2002 mit € 918,94 und ab Juli 2002 mit € 938,75 fest. Die Verletztenrente rechnete sie nach Maßgabe des § 93 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) und nach Vergleich mit dem Grenzbetrag des § 311 Abs 5 SGB VI an und ermittelte einen auf € 815,34 (Juni 2002) bzw € 832,59 (ab Juli 2002) geminderten Zahlbetrag. Den dagegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 5. Juni 2003).
Das Sozialgericht Köln (SG) hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 19. August 2003 mit der Begründung abgewiesen, dass für die Anrechnungsentscheidung allein § 93 SGB VI maßgeblich sei. Der vom Kläger geltend gemachte 80 %-Grenzbetrag des § 311 SGB VI komme hier von vornherein nicht in Betracht, weil er vor Beginn der AlR zuletzt EU-Rente bezogen habe, welche, anders als § 311 SGB VI fordere, erst nach dem 31. Dezember 1991 begonnen habe.
Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) mit Urteil vom 9. Februar 2005 zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: Die Vorstellung des Klägers beziehe sich allein auf die Zahlen 70 % und 80 % des maßgebenden Jahresarbeitsverdienstes als Grenzwert. Dies stimme so nicht. In allen Fällen sei nach § 266 SGB VI vielmehr von den 80 % noch der Grundrentenbetrag nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) abzuziehen. Zu Recht habe die Beklagte deshalb den höheren Grenzbetrag aus § 93 SGB VI angewandt. Das zeige eine exemplarische Vergleichsberechnung der Grenzbeträge im Juni 2002 nach § 93 SGB VI (€ 1.065,10) und den §§ 266, 311 Abs 5 SGB VI (€ 1.061,26 = Grenzbetrag des § 311 Abs 5 SGB VI, gemindert um den sich nach § 93 Abs 2 Nr 2a SGB VI ergebenden Betrag der Grundrente nach dem BVG aus einer MdE um 40 vH ≪€ 156≫). Letzterer Betrag sei um € 4,00 niedriger als ersterer. Deshalb ergebe in diesem Fall die Altfall-Übergangsregelung keine Besserstellung im Vergleich zu Neufällen. Eine doppelte Begünstigung (höherer Grenzbetrag und Außerachtlassung der BVG-Grundrente) sei nicht gewollt. Die Anrechnungsfreiheit der BU-Rente sei Folge der geringeren Rentenhöhe gewesen und nicht eines höheren Grenzbetrags.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision fordert der Kläger einen höheren Zahlbetrag. Aus der Ergänzung des § 311 Abs 2 Nr 1a SGB VI durch § 266 SGB VI folge, dass die Rente in die nach § 311 Abs 1 SGB VI zu bildende Summe beider Renten nur um den Betrag gemindert einzustellen sei, um den sie den Grenzbetrag des § 311 Abs 5 SGB VI übersteige (Hinweis auf BSG Urteil vom 31. März 1998 – B 4 RA 118/95 R).
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Februar 2005 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 19. August 2003 und den Widerspruchsbescheid vom 5. Juni 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine höhere Altersrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren AlR für schwerbehinderte Menschen. Die Anwendung der Regelung des § 266 SGB VI iVm §§ 311 ff SGB VI führt nicht zu einem geringeren Anrechnungsbetrag aufgrund des Zusammentreffens mit der Verletztenrente. Der Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Juni 2003 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Zu Recht haben die Beklagte und die Vorinstanzen den Anrechnungsbetrag in Anwendung der für den Kläger günstigeren Regelung des § 93 SGB VI bestimmt. Nach Gegenüberstellung der Grenzbeträge nach § 93 Abs 3 SGB VI und nach den §§ 266, 311 Abs 5 SGB VI erweist sich der Anrechnungsbetrag in Anwendung des Grenzbetrags nach § 93 Abs 3 SGB VI als um durchschnittlich € 4 niedriger und daher für den Kläger günstiger als derjenige in Anwendung der §§ 266, 311 Abs 5 SGB VI. Die Vergleichsberechnung des LSG und der Beklagten ist zutreffend.
1. Ein Ausnahmefall von der Anwendung des § 93 SGB VI im Sinne des § 300 Abs 5 SGB VI (§§ 311, 312 SGB VI) ist hier nicht gegeben. Eine Ausnahme regelt § 311 SGB VI für eine bereits vor dem 1. Januar 1992 bestehende Rente nur, wenn sie über diesen Stichtag hinaus weiter gezahlt wird (sog Bestandsrente). Dann führt diese Vorschrift die alte Rechtslage des § 1278 RVO fort (Senatsbeschluss vom 20. Juli 2005 – B 13 RJ 38/04 R – unter II 1b bb der Gründe – veröffentlicht in Juris). Hier handelt es sich jedoch um keine Bestandsrente, denn die vor dem 1. Januar 1992 gezahlte Rente wegen BU wird seit 1. April 1995 nicht mehr gezahlt; im Anschluss hieran erhielt der Kläger – als erste sog Folgerente – eine Rente wegen EU. Die hier allein gegenständliche AlR hat erst am 1. Juni 2002 begonnen (zweite Folgerente).
2. Ebenfalls zu Recht hat die Beklagte neben § 93 SGB VI auch die §§ 266 und 311 SGB VI im Sinne der vergleichenden Gegenüberstellung zur Ermittlung des für den Kläger günstigeren Anrechnungsbetrags herangezogen.
a) Für diese Auslegung spricht bereits der Wortlaut des § 266 SGB VI. Die Vorschrift lautet:
Bestand am 31. Dezember 1991 Anspruch auf eine Rente nach den Vorschriften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet und auf eine Rente aus der Unfallversicherung, ist Grenzbetrag für diese und eine sich unmittelbar anschließende Rente mindestens der sich nach den §§ 311 und 312 ergebende, um die Beträge nach § 93 Abs 2 Nr 1 Buchstabe b und Nr 2 Buchstabe a geminderte Betrag.
Entgegen der Ansicht des SG beschränkt dieser Wortlaut die Anwendung des § 266 SGB VI nicht auf die erste Folgerente, welche sich an eine bereits vor dem 1. Januar 1992 nach den Vorschriften der RVO entstandene Rente anschließt. Zwar heißt es “eine sich unmittelbar anschließende Rente”. Dies ist aber nicht als “nur eine” bzw “die erste” zu verstehen. Ein “unmittelbarer” Anschluss iS des § 266 SGB VI liegt demgemäß auch bei einer Folge mehrerer Renten jedenfalls dann vor, wenn zwischen dem Ende der weggefallenen Rentenleistung und dem Beginn der nachfolgenden kein Tag ohne Anspruch auf eine der aufeinander folgenden Rentenleistungen liegt (Gürtner in Kasseler Komm, § 266 SGB VI RdNr 5 – Stand 2001). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Kläger bezog zunächst über den 31. Dezember 1991 hinaus eine Rente wegen BU nach der RVO. Dieser Rente schloss sich am 1. April 1995 ohne Unterbrechung eine Rente wegen EU an und dieser wiederum nahtlos ab 1. Juni 2002 die hier allein streitige AlR.
b) Die vom Senat gefundene Auslegung entspricht ferner den Gesetzesmaterialien. In der einschlägigen Beschlussempfehlung (BT-Drucks 11/5530 S 56 zu § 260a des Entwurfs ≪jetzt § 266≫) heißt es: “Die Regelung ist erforderlich, um den sich aus den §§ 302, 303 (jetzt: §§ 311, 312) ergebenden Besitzschutz auch für den Fall der Neufeststellung für spätere Renten desselben Berechtigten, bei dem sich der Grenzbetrag ansonsten nach § 92 (jetzt: § 93) bestimmt, zu gewährleisten” (Hervorhebung nur hier). Mit der Verwendung der Mehrzahl “Renten” erfasst die Gesetzesbegründung alle weiteren, unmittelbar aufeinander folgenden Renten (vgl Gürtner aaO RdNr 2; Hauck in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 266 RdNr 7 – Stand 1991; ferner: Brähler in GemeinschaftsKomm, § 266 RdNr 15 – Stand 2000; Boecken in Wannagat, SGB VI, § 266 RdNr 5 – Stand 1997).
c) Schließlich spricht Sinn und Zweck der Regelung des § 266 SGB VI für ihre Anwendung auf weitere Folgerenten. Mit der Auslegung des Senats werden Zufälligkeiten bei der Aufeinanderfolge der Renten vermieden. Andernfalls wären vor Stellung des Antrages auf eine zweite Folgerente Vergleichsberechnungen vorzunehmen, um feststellen zu können, ob sich der Versicherte nicht mit der bisherigen, niedrigeren Rente, jedoch unter Anwendung günstigerer Anrechnungsvorschriften, besser steht. Dies würde eine zusätzliche, kaum nachvollziehbare Komplizierung der Rechtsanwendung mit vorhersehbaren Streitfällen nach sich ziehen.
3. Die Auslegung der Vorschriften der §§ 266, 311 SGB VI durch die Beklagte und die Vorinstanz ist nicht zu beanstanden. Bei Folgerenten modifiziert § 266 SGB VI entgegen der Ansicht des Klägers die Grundregel des § 93 SGB VI (Senatsurteil vom 29. März 2006 – B 13 RJ 13/05 R – zur Veröffentlichung vorgesehen), nicht den Ausnahmetatbestand des § 311 SGB VI. Die vom Kläger zitierte, anders lautende Ansicht (Urteil des BSG vom 31. März 1998 – B 4 RA 118/95 R – SozR 3-2600 § 311 Nr 2) ist zwischenzeitlich aufgegeben (auf Anfrage des erkennenden Senats mit Beschluss vom 20. Juli 2005 – B 13 RJ 38/04 R – durch Beschluss vom 20. Oktober 2005 – B 4 RA 7/05 S; s ferner Senatsurteil vom 8. Dezember 2005 – B 13 RJ 38/04 R).
Zunächst wird daher in einem ersten Schritt nach § 93 Abs 1 und 2 SGB VI die Summe der Renten unter Berücksichtigung eines Freibetrages in Höhe der Grundrente des BVG ermittelt. Im zweiten Schritt wird in Ergänzung durch die Vorschrift des § 266 SGB VI der sich aus den §§ 311 und 312 SGB VI ergebende, um die Grundrente nach dem BVG geminderte Grenzbetrag errechnet und dem Grenzbetrag nach § 93 Abs 3 SGB VI gegenübergestellt. Da dieser Freibetrag bereits bei dem ersten Schritt im Rahmen der Ermittlung der Summe der Rentenbeträge abgezogen worden ist, muss er bei der Bestimmung des Grenzbetrags nach §§ 311, 312 SGB VI wieder abgesetzt werden. Andernfalls wäre der Berechtigte durch die Kumulation von Freibetrag und höherem Grenzbetrag im Vergleich zum Zugangsrentner doppelt begünstigt. Dies hat der Gesetzgeber nicht gewollt, worauf das LSG zutreffend hinweist. Deshalb wird durch Abzug des Freibetrags in Höhe der Grundrente nach dem BVG von dem Grenzbetrag des § 311 Abs 5 SGB VI die Besonderheit des neuen Rechts wieder neutralisiert (Senatsbeschluss aaO unter II 1b cc ≪1≫ der Gründe). Durch diese gesetzliche “Korrektur” entspricht die Höhe des so ermittelten Anrechnungsbetrags nach den §§ 266, 311 (312) SGB VI – trotz höheren Grenzbetrags nach § 311 Abs 5 SGB VI – im Ergebnis genau der Höhe des Anrechnungsbetrags in Anwendung des alten Rechts nach § 1278 RVO.
§ 93 SGB VI findet daher bei der Ermittlung des Anrechnungsbetrags mit der Maßgabe des § 266 SGB VI Anwendung, “mindestens” den um einen Betrag nach § 93 Abs 2 Nr 2a SGB VI geminderten Grenzbetrag nach § 311 Abs 5 SGB VI zugrunde zu legen. Aus dem Wort “mindestens” folgt weiter, dass der so geminderte Grenzbetrag des § 311 Abs 5 SGB VI mit demjenigen des § 93 Abs 3 SGB VI zu vergleichen ist und nur der höhere und damit günstigere Betrag für die Ermittlung des Anrechnungsbetrags maßgeblich ist (Hauck aaO K § 266 RdNr 4). Dies ist hier derjenige nach § 93 Abs 3 SGB VI.
4. Zu Recht weist das LSG darauf hin, dass die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bis März 1995 nur deshalb anrechnungsfrei gezahlt worden ist, weil die bis dahin gezahlte Rente wegen BU niedriger war als die anschließende Rente wegen EU. Folglich war die Summe der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen UV ab April 1995 höher und überstieg nunmehr erstmalig den Grenzbetrag. Auch bei Fortgeltung der RVO wäre nunmehr eine Anrechnung vorzunehmen gewesen. Im Ergebnis stellen also die neuen Rechtsvorschriften den Kläger sogar besser als das alte Recht der RVO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen