Leitsatz (redaktionell)

Nach allgemeiner Lebenserfahrung und nach medizinischen Erfahrungssätzen sind in aller Regel ärztliche Gutachten, bei denen alte Krankenunterlagen verwertet worden sind, überzeugender als Gutachten, die ohne Kenntnis der früheren Befunde erstattet worden sind.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Oktober 1959 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger, geboren 1910, leistete von Januar 1940 an (nicht, wie im Urteil des LSG. angegeben, vom 1. Oktober 1940 an) Wehrdienst. Am 20. Juni 1940 hatte er einen Unfall, er wurde dabei am Kopf verletzt; vom 20. bis 30. September 1940 war er deshalb im Beobachtungslazarett - Neurologische Abteilung - in B, als Schädigungsfolge wurde vom Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsamt F. "Zustand nach Gehirnerschütterung infolge Schädelprellung durch Unfall" mit Versehrtenstufe I festgestellt; am 30. Juni 1941 wurde der Kläger aus dem Wehrdienst entlassen. Durch Bescheid vom 20. Juni 1950 erkannte die Landesversicherungsanstalt Hessen - KB.-Abt. - das Leiden des Klägers mit derselben Bezeichnung wie bisher als Leistungsgrund nach dem Hessischen Körperbeschädigtenleistungsgesetz (KBLG) an, sie gewährte vom 1. Februar 1947 an Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. Am 24. März 1952 erging ohne vorherige ärztliche Untersuchung der Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA.) G nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG (Umanerkennung)), es wurde bei gleicher Leidensbezeichnung vom 1. Oktober 1950 an Rente nach einer MdE. um 30 v.H. bewilligt. Nach einer Nachuntersuchung im Juli/August 1952 durch einen Ohrenfacharzt (Dr. H) und zwei Nervenfachärzte (Dr. K und Dr. St) erließ das VersorgA. Gießen am 9. Februar 1953 einen Bescheid, den es auf § 86 Abs. 3 BVG stützte; es stellte als Schädigungsfolge fest: "Leichte Innenohrschwerhörigkeit rechts"; die Rente wurde vom 1. April 1953 an entzogen, da die MdE. infolge dieses Leidens nicht mehr wenigstens 30 v.H. betrage; der Bescheid enthält den Satz: "Folgen der Gehirnerschütterung liegen nicht mehr vor". Die Berufung des Klägers (alten Rechts) ging als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Gießen über; das SG. zog die Krankenpapiere des Beobachtungslazaretts B bei, die übrigen alten Versorgungsakten waren nicht mehr aufzufinden; es ließ den Kläger im Versehrtenheim D beobachten und untersuchen.

Auf Grund des Gutachtens der Nervenfachärzte Dr. P und Dr. F vom 20. März 1958 hob das SG. den Bescheid vom 9. Februar 1953 auf und verurteilte den Beklagten, dem Kläger wegen Hirnverletzungsfolgen mit leichten Ausfallerscheinungen Rente nach einer MdE. von 30 v.H. ab 1. April 1953 zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten hob das Hessische Landessozialgericht (LSG.) durch Urteil vom 27. Oktober 1959 das Urteil des SG. auf und wies die Klage ab: Das SG. habe sich zu Unrecht fast ausschließlich auf das Gutachten von Dr. P und Dr. F vom 20. März 1958 gestützt; dieses Gutachten sei nicht überzeugend, die Anamnese, die diesem Gutachten zugrunde liege, weiche wesentlich von der Anamnese ab, auf der das Gutachten der Nervenfachärzte Dr. K und Dr. St vom 19. August 1952 beruht habe; die "unbefangene Beurteilung" in dem Gutachten von 1952, bei der die Krankenblätter von 1940 nicht bekannt gewesen seien, habe die Reflexdifferenzen - auf die Dr. P und Dr. F unter Bezug auf die übereinstimmenden Befunde in den Krankenblättern von 1940 wesentlich abgehoben hatten - nicht erwähnt; die Beschwerden des Klägers seien durch die Befunde in dem Gutachten von Dr. H leicht zu erklären. Das Urteil wurde dem Kläger am 5. November 1959 zugestellt. Am 12. November 1959 legte der Kläger Revision ein, er beantragte,

das Urteil des Hessischen LSG. vom 27. Oktober 1959 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger eine Rente nach einer MdE. von 30 v.H. für "Hirnverletzung mit leichten Ausfallerscheinungen und Innenohrschwerhörigkeit rechts" zu gewähren.

Zur Begründung trug er - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 2. Februar 1960 vor: Das Urteil des LSG. leide an Mängeln des Verfahrens. Dr. K und Dr. St seien zunächst zu dem Ergebnis gekommen, der Kläger habe durch den Unfall eine "Gehirnerschütterung mit einer Hirnschädigung" erlitten; auf Ersuchen des LandesversorgA . Hessen habe Dr. K die Worte "mit einer Hirnschädigung" nachträglich gestrichen, dies sei eine unzulässige Beeinflussung des Gutachters gewesen; wenn das LSG. dieses Gutachten nicht für schlüssig gehalten habe, habe es ein weiteres Gutachten einholen müssen. Das LSG. habe auch wegen der Widersprüche in den Befunden der Gutachten von 1952 und 1958 den Sachverhalt medizinisch weiter aufklären und noch ein ärztliches Gutachten einholen müssen; es habe die schwierige Frage, ob eine Hirnschädigung infolge des Unfalls vorliege, nicht selbst entscheiden dürfen. Das LSG. habe dem Gutachten aus dem Jahre 1952 auch deshalb nicht folgen dürfen, weil damals die früheren Krankenunterlagen nicht vorlagen, während sie den Gutachtern im Jahre 1958 bekannt gewesen seien.

Der Beklagte beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Der Kläger rügt zu Recht Mängel im Verfahren des LSG.

Der Bescheid vom 24. März 1952, in dem, ebenso wie in dem Bescheid vom 20. Juni 1950 nach dem KBLG, auch nach dem BVG das Leiden des Klägers, das als "Zustand nach Gehirnerschütterung infolge Schädelprellung durch Unfall" bezeichnet worden ist, als Schädigungsfolge festgestellt (anerkannt) und Rente gewährt worden ist, ist für die Beteiligten bindend geworden (§ 77 SGG). Dieser Bescheid ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, der Beklagte hat diesen Bescheid mit dem angefochtenen Bescheid vom 9. Februar 1953 auch für die Zukunft nur dann zurücknehmen dürfen, wenn er "durch Gesetz" (§ 77 SGG, 2. Halbs.) hierzu ermächtigt gewesen ist. Das LSG. hat in dem angefochtenen Urteil nicht geprüft, ob die Vorschrift des § 86 Abs. 3 BVG, auf die sich der Beklagte in dem Bescheid vom 9. Februar 1953 berufen hat, diesen Bescheid auch rechtfertigt, es hat diesen Bescheid offenbar deshalb für rechtmäßig angesehen, weil es der Meinung gewesen ist, der "Zustand nach Gehirnerschütterung infolge Schädelprellung", der in dem Bescheid vom 24. März 1952 festgestellt worden ist, liege nicht vor; das Urteil läßt nicht erkennen, ob das LSG. davon ausgegangen ist, dieser Zustand liege - wie der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid angenommen hat - "nicht mehr" vor, oder ob es angenommen hat, das Leiden des Klägers bestehe zwar noch, es sei aber keine Schädigungsfolge, es sei vielmehr in dem Bescheid vom 20. Juni 1950 und damit auch in dem Bescheid vom 24. März 1952 zu Unrecht "anerkannt" worden. Nach § 86 Abs. 3 BVG hat der Beklagte den Bescheid vom 24. März 1952 auch dann zurücknehmen dürfen, wenn Schädigungsfolgen überhaupt nicht mehr bestehen (Urteil des BSG. SozR. Nr. 5 zu § 86 BVG). Wenn das LSG. den Bescheid vom 9. Februar 1953 nach § 86 Abs. 3 BVG für rechtmäßig gehalten hat, hat es deshalb feststellen müssen, daß der "Zustand nach Gehirnerschütterung infolge Schädelprellung" jedenfalls bei Erlaß des Bescheids vom 9. Februar 1953 abgeklungen gewesen ist. Der Kläger hat mit Recht gerügt, daß das LSG., wenn es dies festgestellt hat, insoweit keine ausreichenden Unterlagen gehabt hat, daß es nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens gewürdigt und daß es damit insoweit auch die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 SGG; BSG. 2 S. 236 ff.), überschritten hat. Das LSG. hat sich im wesentlichen auf das Gutachten der Dres. K und St vom 19. August 1952 gestützt. Daß es aber dieses Gutachten für überzeugender gehalten hat als das Gutachten der Dres. P und F vom 20. März 1958, verstößt gegen die allgemeine Lebenserfahrung und auch gegen medizinische Erfahrungssätze; es kann nicht davon ausgegangen werden, daß Dr. K und Dr. St ihr Gutachten deshalb "unbefangen" erstattet haben, weil ihnen die Krankenpapiere von 1940 nicht bekannt gewesen sind; in aller Regel werden ärztliche Gutachten, bei denen frühere Befunde verwertet werden können, überzeugender sein als Gutachten, die ohne Kenntnis der früheren Befunde erstattet worden sind. Die "eindeutigen Reflexdifferenzen", die in dem Gutachten vom 20. März 1958 beschrieben sind, sind nach diesem Gutachten bei mehrfachen Kontrollen an verschiedenen Tagen und nach "sehr kritischen und mehrfachen Untersuchungen" beobachtet worden, das LSG. hat deshalb nicht davon ausgehen dürfen, diese Reflexdifferenzen seien in dem Gutachten von 1958 nur deshalb erwähnt, weil solche Reflexdifferenzen nach den Krankenpapieren auch schon im September 1940 beobachtet worden seien; die Beobachtungen, die dem Gutachten von 1958 zugrunde liegen, sind auch nicht schon deshalb unbeachtlich, weil die Eigenanamnese des Klägers im Jahre 1958 nicht voll übereinstimmt mit der Anamnese im Jahre 1940; die Gutachter haben sich erkennbar ihre Überzeugung nicht nur nach der Eigenanamnese, sondern im wesentlichen nach den objektiven Befunden gebildet und diese Befunde haben im wesentlichen mit den Befunden von 1940 übereingestimmt. Wenn die Reflexdifferenzen in dem Gutachten vom 19. August 1952 nicht beschrieben sind, so hat das LSG., wenn ihm das Gutachten von 1958 deshalb nicht überzeugend erschienen ist, Anlaß gehabt, die Psychiatrische und Nervenklinik Gießen oder einen anderen ärztlichen Sachverständigen zu den Befunden von 1958 und den Krankenblättern von 1940, die der Klinik in Gießen im Jahre 1952 nicht bekannt gewesen sind, zu hören. Daß das Gutachten von 1952 möglicherweise unzulänglich ist, hat das LSG. auch deshalb in Erwägung ziehen müssen, weil aus den Akten erkennbar ist, daß der abschließende Befund des einen der beiden Gutachter auf Anregung des LandesversorgA . von dem anderen Gutachter nachträglich ohne Angabe von Gründen geändert worden ist. Zwar hat es sich bei der Änderung nicht, wie der Kläger meint, um eine "unzulässige Beeinflussung der Sachverständigen" und auch nicht um einen Mangel im Verfahren des LSG. gehandelt, das LSG. hat das Gutachten von 1952 nur so würdigen dürfen, wie es nach der Änderung gewesen ist; jedenfalls hat das LSG. aber ein Gutachten, das nach den aktenkundigen und bereits im Berufungsverfahren erwähnten Vorgängen möglicherweise unzureichend gewesen ist, nicht für überzeugender halten dürfen als ein Gutachten, das auf sorgfältig erhobenen Befunden beruht, auch insoweit hat das LSG. die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen, überschritten; das LSG. hat auch keine ausreichende eigene Sachkunde dafür gehabt, um festzustellen, daß die 1958 von Nervenfachärzten beobachteten Reflexdifferenzen nach dem ohrenfachärztlichen Gutachten von Dr. H aus dem Jahre 1952 mit der Verbiegung der Nasenscheidenwand des Klägers zu erklären sind, dem Ohrenfacharzt sind die Reflexdifferenzen nicht bekannt gewesen. Soweit das LSG. also festgestellt hat, daß die Folgen der Gehirnerschütterung durch den Unfall "nicht mehr" vorliegen, ist diese Feststellung für das Bundessozialgericht (BSG.) nicht bindend (§ 163 SGG). Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, sie ist, da sie auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden ist, sonach zulässig.

Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG., wenn es weitere Erhebungen anstellt, zu dem Ergebnis kommt, daß die Schädigungsfolgen, die ohne ärztliche Nachuntersuchung aus dem Bescheid vom 20. Juni 1950 in den Bescheid vom 24. März 1952 nach dem BVG übernommen worden sind, auch jetzt noch bestehen und daß sie auch jetzt noch die Erwerbsfähigkeit des Klägers um wenigstens 25 v.H. mindern. Der Bescheid vom 9. März 1953 ist auch nicht schon dann rechtmäßig, wenn das LSG. davon überzeugt ist, ein "Zustand nach Gehirnerschütterung" sei schon in dem Bescheid vom 20. Juni 1950 und damit auch in dem Bescheid vom 24. März 1952 zu Unrecht festgestellt worden, die damaligen Beschwerden des Klägers seien in Wirklichkeit schon damals Folgen der Verbiegung der Nasenscheidenwand und nicht Folgen des Unfalles gewesen. Wenn dies der Fall wäre, hätte der Beklagte den Bescheid vom 9. Februar 1953 nicht auf § 86 Abs. 3 BVG stützen dürfen, er hätte vielmehr den Bescheid vom 24. März 1952 nach Art. 30 Abs. 4 KBLG deshalb zurücknehmen müssen, weil die Voraussetzungen, die diesem Bescheid zugrunde gelegen haben, sich nachträglich als unzutreffend erwiesen haben. Dies hat der Beklagte indessen in dem angefochtenen Bescheid nicht geltend gemacht. Da das LSG. infolge des Verstoßes gegen Verfahrensvorschriften sonach möglicherweise § 86 Abs. 3 BVG unrichtig angewandt hat, ist das Urteil aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da der medizinische Sachverhalt nicht ausreichend geklärt ist. Die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325589

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