Leitsatz (amtlich)
Stirbt der Beschädigte an einem Leiden, das nur im Sinne der Verschlimmerung als Schädigungsfolge anerkannt ist, so trifft die Rechtsvermutung der BVG §§ 36 Abs 1 S 3, 38 Abs 1 S 2 zu, wenn die Verschlimmerung für den Tod ursächlich (im Sinne des Versorgungsrechts) geworden ist; dies gilt auch dann, wenn die als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerung als "einmalig" bezeichnet und nur mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 % bewertet worden ist (Fortführung BSG 1958-03-12 11/9 RV 1138/55 = BSGE 7, 53).
Normenkette
BVG § 36 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1956-06-06, § 38 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 6. Oktober 1959 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Kläger sind die Witwe und die Kinder des R G (G.); sie begehren Hinterbliebenenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Das Versorgungsamt A erkannte mit Bescheid vom 14. August 1951 bei G. "Herzklappenfehler mit Herzinsuffizienz im Sinne einer einmaligen Verschlimmerung" als Schädigungsfolge nach dem BVG an; es gewährte G. eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. Einen Antrag des G. auf höhere Rente wegen Verschlimmerung seines Leidens lehnte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 8. November 1952 ab, da die MdE., soweit sie über 30 v.H. hinausgehe, als schicksalsmäßige Weiterentwicklung des vordienstlichen Leidens anzusehen sei. Am 23. Dezember 1952 starb G. an seinem Herzleiden. Die Versorgungsbehörden lehnten den Antrag der Kläger, ihnen Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, mit den Bescheiden vom 21. Januar 1954 und vom 8. Juni 1954 ab, da das Herzleiden nur im Sinne einer einmaligen Verschlimmerung als Schädigungsfolge anerkannt worden sei. Das Sozialgericht (SG.) Gießen holte ein Gutachten des Prof. Dr. F vom Institut für gerichtliche und soziale Medizin der Universität M ein. Prof. Dr. F vertrat die Auffassung, die Prognose des Herzleidens des G. sei auch ohne die Schädigung durch den Wehrdienst ungünstig gewesen, eine Lebensverkürzung durch die Wehrdienstbedingte Verschlimmerung des Leidens sei jedoch wahrscheinlich; ergänzend führte Prof. Dr. F aus, "unter der mit Wahrscheinlichkeit zu bejahenden Lebensverkürzung" sei "eine wesentliche Lebensverkürzung gemäß höchstrichterlicher Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts um mindestens ein Jahr zu verstehen."
Mit Urteil vom 16. Mai 1956 entschied das SG.: Der Beklagte wird verurteilt, den Tod des Ehemannes der Klägerin als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG anzuerkennen.
Der Beklagte legte Berufung ein. Er machte geltend, es sei nicht wahrscheinlich, daß das anerkannte Versorgungsleiden des G. eine wesentliche Lebensverkürzung bedingt habe; das SG. habe im übrigen nicht nur eine Feststellung treffen dürfen, es habe vielmehr über den Anspruch auf Hinterbliebenenrente entscheiden müssen. Die Kläger legten Anschlußberufung ein; sie beantragten, den Beklagten zu verurteilen, ihnen Hinterbliebenenrente zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG.) holte auf Antrag der Kläger nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten des Prof. Dr. Sch von der Medizinischen und Nervenklinik der Universität G ein. Prof. Dr. Sch führte aus, durch die wehrdienstbedingte Verschlimmerung des Herzleidens sei der Tod des G. vorzeitig eingetreten; die Lebenserwartung sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durch die anerkannte Schädigungsfolge um mindestens ein Jahr verkürzt worden.
Das LSG. entschied mit Urteil vom 6. Oktober 1959: "Auf die Anschlußberufung der Kläger wird das Urteil des SG. Gießen vom 16. Mai 1956 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, ab 1. August 1953 Hinterbliebenenrente zu gewähren. Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen." Es führte aus, die anerkannte Schädigungsfolge des G., nämlich die durch den Kriegsdienst verursachte Verschlimmerung seines Herzklappenfehlers mit Herzinsuffizienz, habe seinen Tod um wenigstens ein Jahr früher herbeigeführt, als es ohne die Schädigungsfolge der Fall gewesen wäre. Der Versorgungsanspruch der Hinterbliebenen sei daher nach § 38 BVG begründet. Das LSG. ließ die Revision zu.
Das Urteil des LSG. wurde dem Beklagten am 26. Oktober 1959 zugestellt. Der Beklagte legte am 24. November 1959 Revision ein. Er beantragte,
das Urteil des Hessischen LSG. vom 6. Oktober 1959 und das Urteil des SG. Gießen vom 16. Mai 1956 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Der Beklagte begründete die Revision am 16. Dezember 1959:
Das LSG. habe der Frage der Lebensverkürzung keine Bedeutung beimessen dürfen; der Tod des G. sei die Folge seines alten Leidens gewesen, das nur im Sinne einer einmaligen Verschlimmerung anerkannt worden sei; der anerkannte Verschlimmerungsanteil sei für den Tod nicht ursächlich gewesen. Die Feststellungen des LSG. beruhten auf unzureichenden medizinischen Unterlagen; die ärztlichen Gutachten, auf die das LSG. seine Feststellungen gestützt habe, enthielten keine überzeugende Begründung "für den schwierigen medizinischen Tatbestand", das LSG. habe sich veranlaßt sehen müssen, ein weiteres fachärztliches Gutachten einzuholen.
Die Kläger beantragten, die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Der Beklagte hat sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet. Die Revision ist sonach auch zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.
Die Kläger haben Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn G. an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG gestorben ist (§ 38 Abs. 1 Satz 1 BVG). Der Tod gilt als Folge einer Schädigung, wenn G. an einem Leiden gestorben ist, für das ihm im Zeitpunkt des Todes Rente zuerkannt war (§ 38 Abs. 1 Satz 2 BVG). Die Prüfung des Anspruchs der Hinterbliebenen beschränkt sich sonach darauf, ob das Leiden, das zum Tode geführt hat, auch das Leiden ist, das für die Zuerkennung bestimmend gewesen ist (BSG. 7 S. 53 (55)). G. hat wegen "Herzklappenfehler mit Herzinsuffizienz im Sinne einer einmaligen Verschlimmerung" eine Rente nach einer MdE. von 30 v.H. bezogen; er ist an seinem Herzfehler gestorben. Die Anerkennung eines Leidens im Sinne der Verschlimmerung bedeutet, daß nicht das Grundleiden als solches mit allen seinen Folgen als Schädigungsfolge anerkannt wird, sondern nur der gegenwärtige und künftige Anteil des Leidens, der dem Einfluß des Wehrdienstes auf das Leiden und seinen weiteren Verlauf zuzurechnen ist; bei jeder weiteren Verschlimmerung des Leidens ist zu prüfen, ob und inwieweit diese auch noch Schädigungsfolge ist oder ob andere, von Wehrdiensteinflüssen unabhängige Umstände ursächlich dafür sind. Ebenso wie in dem Verfahren, in dem es um die Versorgung des Beschädigten selbst geht, die Anerkennung "im Sinne der Verschlimmerung" - mit welcher MdE. sie auch zunächst bewertet sein mag - nicht die Prüfung entbehrlich macht, ob eine später auftretende, weitere Verschlimmerung noch Schädigungsfolge ist, so ist auch in dem Verfahren, in dem es um die Versorgung der Hinterbliebenen geht, zu prüfen, ob der Tod des Beschädigten noch auf die anerkannte Schädigungsfolge zurückgeht. G. ist "an" seinem als Schädigungsfolge anerkannten Leiden, d.h. "an" der wehrdienstbedingten Verschlimmerung seines Herzleidens gestorben, wenn diese Verschlimmerung für seinen Tod ursächlich geworden ist, d.h. wenn sie eine wesentliche Bedingung und damit Ursache im Sinne der für das Gebiet der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm für den Tod gewesen ist (BSG. 1 S. 72 (76)). Ob sich im Einzelfall in dem weiteren Verlauf eines seiner Natur nach fortschreitenden Leidens - zu diesem Leiden gehört auch das Herzleiden des G. - der wehrdienstbedingte und als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerungsanteil und die natürliche Steigerung des Leidens trennen lassen und inwieweit beurteilt werden kann, in welchem Ausmaß jeder dieser Faktoren den jeweiligen Leidenszustand bestimmt und letztlich zu dem Tod beiträgt, ist bei der Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen zu klären. Im vorliegenden Falle hat das LSG. auf Grund der medizinischen Erörterungen festgestellt, daß sich die wehrdienstbedingte Verschlimmerung des Leidens nicht nur vorübergehend ausgewirkt habe, daß sie vielmehr bleibend und den weiteren Verlauf des Leidens bestimmend (richtunggebend) gewesen sei und daß diese Verschlimmerung damit wahrscheinlich den Tod des G. um wenigstens ein Jahr früher herbeigeführt habe, als er ohne diese Verschlimmerung, d. h. bei dem der Natur des Leidens entsprechenden Fortschreiten eingetreten wäre.
An die tatsächlichen Feststellungen, die das LSG. auf Grund seiner medizinischen Erörterungen getroffen hat, ist das Bundessozialgericht gebunden, da der Beklagte in Bezug auf diese Feststellungen zutreffende und begründete Revisionsrügen nicht vorbringt (§ 163 SGG). Der Beklagte rügt zwar, die Feststellung des LSG., der Tod des G. sei durch die wehrdienstbedingte Verschlimmerung um wenigstens ein Jahr früher eingetreten, beruhe auf unzureichenden medizinischen Unterlagen, das LSG. habe insoweit § 103 SGG verletzt; diese Rüge trifft jedoch nicht zu. Das LSG. hat seine Feststellungen zu Recht auf die Gutachten der ärztlichen Sachverständigen Prof. Dr. F vom Institut für gerichtliche und soziale Medizin der Universität M und Prof. Dr. Sch von der Medizinischen und Nervenklinik G gestützt. Es trifft wohl zu, daß die ärztliche Beurteilung der Frage, inwieweit sich ein Verschlimmerungsanteil auf den weiteren Verlauf eines Leidens ausgewirkt und letztlich zu dem Tod beigetragen hat, an den medizinischen Sachverständigen besondere Anforderungen stellt und daß diese Frage kaum mit "einiger Sicherheit" und "restlos überzeugend" beantwortet werden kann. Das LSG. hat jedoch annehmen dürfen, daß Prof. Dr. F und Prof. Dr. Sch die Beweisfrage so beurteilt haben, wie es nach den Erfahrungen und Erkenntnisquellen der medizinischen Wissenschaft überhaupt möglich ist. Das LSG. hat sich deshalb bei der Bildung seiner Überzeugung von den Gutachten dieser Ärzte leiten lassen dürfen, es hat diese Gutachten auch als ausreichende Beweisgrundlage ansehen dürfen. Verfahrensmängel bei der Feststellung der Tatsachen nach § 103 oder § 128 SGG liegen somit nicht vor.
Aus den Tatsachen, die das LSG. verfahrensrechtlich einwandfrei festgestellt hat, ergibt sich, daß die anerkannte Schädigungsfolge, d.h. die wehrdienstbedingte Verschlimmerung, für den (vorzeitigen) Tod des G. ursächlich im Rechtssinne geworden ist. Diese Schädigungsfolge ist eine wesentliche Bedingung und damit Ursache des Todes gewesen, weil der Tod ohne diese Schädigungsfolge innerhalb einer absehbaren Zeitspanne wahrscheinlich nicht eingetreten wäre (vgl. Hierzu BSG. 2, 265 (271)) G. ist daher "an" seinem als Schädigungsfolge anerkannten Leiden, d.h. "an" der wehrdienstbedingten Verschlimmerung des Leidens gestorben.
Die Voraussetzungen für den Anspruch der Hinterbliebenen nach § 38 Abs. 1 BVG sind daher gegeben; daran ändert auch nichts, daß in dem Bescheid vom 24. August 1952 das Leiden des G. nur im Sinne einer "einmaligen" Verschlimmerung als Schädigungsfolge anerkannt und nach einer MdE. um 30 v.H. berentet worden ist; es kommt nicht darauf an, wie die Auswirkungen des "Verschlimmerungsanteils" damals bewertet worden sind (vgl. auch BSG. 7 S. 53 (57)).
Die Rechtsanwendung des LSG. ist hiernach nicht zu beanstanden; die Revision ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen