Leitsatz (redaktionell)

Nimmt das LSG eine grobe Nachlässigkeit des Kläger nur deshalb an, weil von dem gerichtlichen Hinweis auf den Abschluß der Ermittlungen bis zu dem Antrag des Klägers auf Einholung eines Gutachtens "weit über einen Monat" (1 Monat und 1 Woche) verstrichen war, ohne die Gründe für die späte Antragstellung zu klären, liegt eine Verletzung des SGG § 109 Abs 2 vor.

 

Normenkette

SGG § 109 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. November 1964 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Durch Bescheid vom 23. November 1960 entzog die Beklagte dem Kläger die Rente, die sie ihm wegen Berufsunfähigkeit gewährt hatte, weil kein Anzeichen eines organischen Nervenleidens mehr vorhanden und der Kläger wieder berufsfähig sei. Die Klage und die Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg.

Mit der nicht zugelassenen Revision beantragte der Kläger,

die Urteile der Vorinstanzen und den Entziehungsbescheid aufzuheben,

hilfsweise

die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Er rügte Verletzungen der §§ 103, 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und macht u. a. geltend, das Landessozialgericht (LSG) hätte seinen Antrag, noch ein Gutachten des Chefarztes der Nervenabteilung des Moabiter Krankenhauses, Dr. B, einzuholen, nicht nach § 109 Abs. 2 SGG ablehnen dürfen; entgegen der Annahme des LSG habe er den Antrag nicht aus grober Nachlässigkeit erst kurz vor der mündlichen Verhandlung gestellt. Zu bemängeln sei ferner, daß das LSG die erbetene Übersendung der Fotokopie einer früheren Röntgendiagnose (aus dem Jahre 1960) ebenfalls abgelehnt habe, wodurch ihm eine rechtzeitige und sachgerechte Stellungnahme zum Beweisergebnis unmöglich geworden sei.

Die Beklagte beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II.

Die Revision ist zulässig. Sie ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil der Kläger ordnungsgemäß (§ 164 Abs. 2 SGG) und mit Recht einen wesentlichen Mangel in dem Verfahren des LSG, nämlich eine Verletzung des § 109 SGG rügt. Ob auch die anderen Verfahrensrügen die Revision statthaft machen würden, kann dahingestellt bleiben.

Den am 28. Oktober 1964 von den damaligen Prozeßbevollmächtigten des Klägers (VdK) gestellten, am 30. Oktober 1964 beim LSG eingegangenen und in der mündlichen Verhandlung vom 3. November 1964 wiederholten Antrag auf gutachtliche Anhörung von Dr. B hat das LSG in den Entscheidungsgründen seines Urteils abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Als den Prozeßbevollmächtigten des Klägers durch Verfügung vom 16. September 1964 das von Amts wegen erhobene Gutachten des Orthopäden Dr. F übersandt worden sei, sei ihnen zugleich mitgeteilt worden, daß die Einholung eines weiteren Gutachtens nicht beabsichtigt sei; daraufhin hätte der Kläger bei ordnungsgemäßer Prozeßführung den Antrag nach § 109 SGG innerhalb angemessener Frist stellen müssen; wenn er ihn erst nach weit über einem Monat, unmittelbar vor dem Verhandlungstermin gestellt habe, so liege darin eine grobe Nachlässigkeit.

Mit dieser Begründung allein hat das LSG den Antrag des Klägers nicht ablehnen dürfen. Grobe Nachlässigkeit ist das Außerachtlassen jeder zur ordnungsgemäßen Prozeßführung erforderlichen Sorgfalt (BSG 2,261; 7,221). Ein solches Maß mangelnder Sorgfalt ergibt sich noch nicht aus dem Umstand, daß zwischen der Verfügung vom 16. September 1964 und der Antragstellung eine Zeit von "weit über einem Monat" liegt, zumal sich die Zeitspanne noch verkürzt, wenn die am 18. September 1964 abgesandte Verfügung - wie der Kläger vorträgt - seinen damaligen Prozeßbevollmächtigten erst am 22. September 1964 zugegangen ist. Ob der Antrag aus "grober Nachlässigkeit" so spät gestellt worden ist, läßt sich erst entscheiden, wenn die Gründe für die späte Antragstellung geklärt sind. Die Gründe müssen jedenfalls dann ermittelt werden, wenn es sich - wie hier - um verhältnismäßig kurze "Verspätungen" handelt. Das LSG hätte daher feststellen müssen, ob der Kläger einleuchtende oder gar triftige Gründe für die späte Antragstellung besaß; erst wenn er keine solche Gründe anführen konnte, hätte das LSG eine grobe Nachlässigkeit des Klägers bejahen dürfen.

Die unzureichende Begründung der Antragsablehnung vermag die Revision freilich nicht ohne weiteres statthaft zu machen. Im Hinblick auf § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG ist vielmehr erforderlich, daß der Kläger Tatsachen und Beweismittel angibt, die eine grobe Nachlässigkeit ausschließen. Solche - durch die Akten des LSG belegten - Tatsachen hat der Kläger aber ebenfalls vorgetragen. Aus ihnen ergibt sich, daß der Kläger, nachdem er durch seine Prozeßbevollmächtigten von dem Gutachten des Dr. F Kenntnis erhalten hatte, zunächst den Rat eines Facharztes einholen wollte und daß dieser Facharzt hierzu einen Röntgenbefund vom 17. Oktober 1960 benötigte. Deshalb hat sich der Kläger mehrfach, zuerst am 21. Oktober 1964, beim LSG um eine Fotokopie der damaligen Röntgendiagnose bemüht; erst als er keinen Erfolg damit hatte, hat er unter Hinweis hierauf am 28. (30.) Oktober "vorsorglich" - weil er "eine endgültige fachärztliche Stellungnahme noch nicht vorlegen" könne - den Antrag auf Einholung eines Gutachtens von Dr. B gestellt. Diese Tatsachen sind geeignet, eine grobe Nachlässigkeit auszuschließen, weil dem Kläger vor der Entschließung über die Antragstellung nach § 109 SGG die Möglichkeit einer ausreichenden fachärztlichen Beratung verbleiben mußte; die dadurch bedingte Verzögerung darf ihm nicht zum Nachteil gereichen.

Die Revision des Klägers ist somit statthaft. Sie ist auch begründet, weil sich nicht ausschließen läßt, daß das LSG zu einer anderen Sachentscheidung gekommen wäre, wenn es die Gründe für die späte Antragstellung geklärt und den Antrag zugelassen hätte.

Das Urteil des LSG ist mithin aufzuheben und der Rechtsstreit, weil das Bundessozialgericht nicht in der Sache entscheiden kann, an das LSG zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2149210

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