Orientierungssatz
Das Gericht ist nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn ein Richter vom Schlaf übermannt wird und dieser Zustand eine kurze, nach Lage des Falles unerhebliche Zeitspanne überschreitet (siehe auch RGSt 60, 63 und vergleiche BVerwG 1960-09-02 V l 102/60 (VB 85/60) = BVerwGE in DÖV 1961, 275).
Normenkette
SGG § 33 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Februar 1965 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Das Versorgungsamt I, Berlin, hatte der Klägerin mit Bescheid vom 19. März 1962 wegen chron. asthmatoider Bronchitis mit leichter Lungenblähung im Sinne der Verschlimmerung Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v. H. vom 1. Juni 1960 an gewährt. Mit ihrem weitergehenden Begehren hatte die Klägerin vor Verwaltung und Sozialgericht keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 23. Februar 1965 auf Grund mündlicher Verhandlung die Berufung der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt die Klägerin, daß der erkennende Senat des LSG Berlin deshalb nicht vorschriftsgemäß besetzt gewesen sei, weil der beisitzende Landessozialrichter, Industriekaufmann Walter R - R. - (aus dem Kreis der mit der Kriegsopferversorgung betrauten Personen), während der mündlichen Verhandlung am 23. Februar 1965 zeitweise geschlafen habe. Das Verfahren sei daher wegen Verletzung der §§ 33, 129 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) fehlerhaft gewesen (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Zum Beweise benennt die Klägerin ihren Prozeßbevollmächtigten im zweiten Rechtszug, Assessor Rudolf K und Fräulein Ursula B, Berlin ..., S ... a als Zeugen. Dieser Verfahrensmangel sei ein absoluter Revisionsgrund (§ 202 SGG i. V. m. § 551 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Zu der Behauptung der Klägerin könne er nicht Stellung nehmen.
Der Senat hat den Präsidenten des LSG Berlin ersucht, den Vorsitzenden des 14. Senats des LSG und den Landessozialrichter R. zu befragen, was sie zu dem behaupteten Vorgang in der Verhandlung vom 23. Februar 1965 wüßten. Die Erklärungen der befragten Richter vom 29. September und 13. Oktober 1965 sind den Beteiligten abschriftlich mitgeteilt worden. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die nicht zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 164 Abs. 1 SGG); sie ist auch begründet.
Die Klägerin hat einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt. Dieser Mangel liegt vor und macht die Revision statthaft sowie begründet.
Nach § 33 SGG hat das LSG in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Landessozialrichtern tätig zu werden. Das Urteil kann nur von den Richtern gefällt werden, die an der dem Urteil zugrunde liegenden mündlichen Verhandlung teilgenommen haben. Danach ist das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn einer der mitwirkenden Richter während der fortdauernden Verhandlung auch nur kurzfristig den Sitzungssaal verläßt (BAG 5, 170; BVerwGE in DÖV 1961 S. 558). Dasselbe gilt, wenn ein Richter unfähig ist, der mündlichen Verhandlung zu folgen, er also geistig abwesend ist. Das ist der Fall, wenn ein Richter vom Schlaf übermannt wird und dieser Zustand eine kurze, nach Lage des Falles unerhebliche Zeitspanne überschreitet (RGSt 60, 63). S. hierzu auch BVerwGE in DÖV 1961 S. 275, wonach bei kurzfristigen und vorübergehenden Ablenkungs- oder Ermüdungserscheinungen eines Richters das Gericht noch vorschriftsmäßig besetzt ist. Im vorliegenden Fall aber behauptet die Klägerin, daß der ehrenamtliche Richter R. während der Verhandlung der Streitsache zeitweise geschlafen habe und daß dieser Zustand durch wiederholtes Einnicken und ruckartiges Aufrichten auch deutlich erkennbar gewesen sei. Träfe die Behauptung der Klägerin zu, so wäre das Gericht in dieser Sache nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Dies wäre ein wesentlicher Mangel des Verfahrens.
Ob dieser wesentliche Verfahrensmangel vorliegt, hängt davon ab, ob das Revisionsgericht feststellen kann, daß einer der mitwirkenden Richter nicht nur von der Verhandlung abgelenkt worden war, sondern, wenn auch nur kurzfristig, vom Schlaf übermannt worden ist. Die vom Präsidenten des LSG Berlin eingeholten Auskünfte haben ergeben, daß der Vorsitzende des 14. Senats in dem fraglichen Verhandlungstermin nicht wahrgenommen hat, daß der Landessozialrichter R. zeitweilig geschlafen hat. Da der Vorsitzende sein Augenmerk auf die Ausführungen der Beteiligten in der Gerichtsverhandlung richten mußte, ist ihm nicht aufgefallen, daß ein Richter während der Verhandlung zeitweilig eingeschlafen sei. Der zur Sache gehörte Landessozialrichter erklärt in der Niederschrift vom 29. September 1965, daß er nicht eingeschlafen sei, sich vielmehr während der Verhandlung Notizen gemacht habe. Demgegenüber hat die Klägerin Beweise durch die Vernehmung der Zeugen Assessor R. K und der in der vorhergehenden Streitsache anwesenden Ursula B, beide in Berlin, dafür angeboten, daß der bezeichnete Richter sich keine Notizen gemacht habe und eindeutig erkennbar zeitweise eingeschlafen sei.
Die Zeugin Ursula B ist an dem Verfahren insofern beteiligt, als sie vor dem LSG Berlin unter L 14 V 35/12 ein Streitverfahren anhängig gemacht hatte, das jetzt bei dem Bundessozialgericht (BSG) unter 10 RV 393/65 schwebt, in welchem der gleiche Verfahrensmangel wie hier in bezug auf den Landessozialrichter R. geltend gemacht wird. Diese Zeugin ist also an dem Ausgang des Rechtsstreits interessiert. Anders ist es bei dem zugleich benannten Assessor K. Dieser Zeuge ist vor dem Revisionsgericht nicht mehr als Prozeßbevollmächtigter aufgetreten; er kann daher nicht mehr als am Ausgang des Rechtsstreits interessiert angesehen werden, wie dies bei einem Prozeßbeteiligten der Fall ist. Die Klägerin hat von diesem Zeugen eine eidesstattliche Versicherung vorgelegt, wonach Landessozialrichter R. während der Verhandlung wiederholt einnickte und ruckartig aufwachte. Der Zeuge berichtet darüber, daß er von seinem Platz im Verhandlungsraum aus die Richterbank genau habe übersehen können und den geschilderten Vorgang deshalb habe einwandfrei beobachten können, weil er genau dem Richter R. gegenüber stand.
Nach § 106 Abs. 3 SGG kann das Gericht Urkunden und Auskünfte beiziehen. Das Gericht ist also auch befugt, die von der Klägerin vorgelegte und dem Prozeßgegner mitgeteilte (§ 107 SGG) eidesstattliche Versicherung des Assessors K vom 2. November 1965 als Beweismittel heranzuziehen und zu würdigen; denn die eidesstattliche Versicherung ist ein geeignetes Mittel zur Erforschung des Sachverhalts (SozR SGG § 106 Nr. 4). Der Zeuge hat als Assessor die Befähigung zum Richteramt. Von ihm ist zu erwarten, daß er die Aussage in der eidesstattlichen Versicherung ebenso gefaßt hat, wie wenn sie aufgrund einer eidlichen Vernehmung niedergeschrieben worden wäre. Nach dieser Aussage ist Landessozialrichter R. zeitweise eingeschlafen.
Da Landessozialrichter R. das bestreitet, kann zwar nicht mit Sicherheit auf das Vorliegen der inneren (nicht ersichtlichen) Tatumstände geschlossen werden; das Gericht kann sich jedoch mit der Feststellung begnügen, daß nicht geklärt werden kann, daß Landessozialrichter R. ununterbrochen der Verhandlung habe folgen können und daß der Zustand des Einschlafens nicht nur für eine kurze, nach Lage des Falles unerhebliche Zeitspanne bestanden hat. Diese Feststellung genügt, um die Rechtsfolge darzutun, daß die Richterbank nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Da diese von der Prozeßordnung verlangte positive Feststellung einer ordnungsmäßigen Besetzung des Gerichts nicht erbracht werden kann, greift der gerügte wesentliche Verfahrensmangel (Verletzung der §§ 33, 129 SGG) durch. Das Urteil beruht auch auf diesem Mangel. Dies folgt aus § 202 SGG i. V. m. § 551 Nr. 1 ZPO. Die in § 551 ZPO genannten Verfahrensverstöße betreffen die Grundlagen des Verfahrens und werden als so wesentlich angesehen, daß ein Einfluß auf die Sachentscheidung unwiderlegbar vermutet wird. Ein solcher Verstoß begründet unbedingt die Revision gemäß § 162 Abs. 2 SGG. Er führt daher zwingend zur Aufhebung des angefochtenen Urteils (s. BSG 4, 288; 18, 18, 22).
Wegen des gerügten und tatsächlich vorliegenden Mangels in der Besetzung des Gerichts war daher das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen