Leitsatz (redaktionell)
1. Die Berufung auf den Ablauf der Ausschlußfrist für die Stellung der Schlechtwettergeldanträge ist rechtsmißbräuchlich, wenn der Baubetrieb berechtigt ist zu verlangen, so gestellt zu werden, als wären die Anträge rechtzeitig eingegangen (sozialrechtlicher Schadensersatzanspruch.
2. Ein solcher Anspruch ist gegeben, wenn die Arbeitsverwaltung von der Verwaltungsübung, vor Ablauf der Ausschlußfrist alle diejenigen Bauunternehmer, die Arbeitsausfall angezeigt, aber noch keine Anträge gestellt haben, auf den drohenden Fristablauf aufmerksam zu machen, ohne Ankündigung abgeht oder sie im Einzelfall versäumt.
Normenkette
AFG § 79 Abs. 2 Fassung: 1969-06-25; BGB § 130 Abs. 1 Fassung: 1896-08-18, § 242 Fassung: 1896-08-18
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 20.06.1974; Aktenzeichen L 9 Al 27/73) |
SG München (Entscheidung vom 18.01.1973; Aktenzeichen S 18 Al 64/72) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 1974 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die in § 79 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 25. Juni 1969 (BGBl I, 582) - AFG a. F. - vorgesehene Ausschlußfrist für die Einreichung von Schlechtwettergeldanträgen als gewahrt anzusehen ist, wenn die rechtzeitige Absendung mit der Post nachgewiesen werden kann.
Die Klägerin führte u. a. im März 1971 Bauarbeiten aus und zahlte für die Tage, an denen die Arbeit aus witterungsbedingten Gründen ausfiel, an ihre Arbeitnehmer Schlechtwettergeld (SWG). Bei einer Betriebsprüfung im September 1971 stellte sich heraus, daß der Antrag auf Erstattung des SWG für den Monat März dem Arbeitsamt nicht vorlag. Die Klägerin übersandte daraufhin mit Schreiben vom 16. September 1971 eine Zweitschrift der Schlechtwettergeldabrechnungsliste für den Monat März 1971 und teilte mit, daß die Originalunterlagen bereits am 15. April 1971 eingesandt worden seien.
Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, daß es sich bei der Frist des § 79 Abs. 2 AFG a. F. um eine Ausschlußfrist handele, die am 1. Juni 1971 abgelaufen sei (Bescheid vom 29. September 1971). Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 1972). Das Sozialgericht (SG) München hat demgegenüber nach Vernehmung der mit der Bearbeitung des SWG-Antrages befaßten Betriebsangehörigen der Klage stattgegeben (Urteil vom 18. Januar 1973). Es hielt den Nachweis einer ordnungsgemäßen Aufgabe des Antrages bei der Post für ausreichend.
Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (LSG-Urteil vom 20. Juni 1974). Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß es für die Wahrung der Ausschlußfrist auf den Zugang des Antrages bei der Behörde ankomme. Dieser Nachweis könne aber nicht geführt werden, da der Antrag nicht nur bei der Beklagten, sondern auch auf dem Postwege verlorengegangen sein könne.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 79 AFG a. F. Es möge zwar zutreffen, daß es für die Wahrung der Ausschlußfrist nicht auf die Absendung, sondern auf den Eingang des Antrages ankomme. Wenn aber die ordnungsgemäße Absendung nachgewiesen sei, treffe die Behörde die Beweislast, daß der Antrag bei ihr nicht eingetroffen sei. Die Beklagte führe aber offenbar keine Listen über eingehende Anträge. Selbst wenn aber ein Antrag auf dem Postwege verloren gehe, so könne dieses Risiko nicht dem Arbeitgeber aufgebürdet werden. Er trage ohnehin schon erhebliche Lasten und Risiken im Rahmen des SWG-Verfahrens. Es widerspreche Treu und Glauben, ihn auch noch mit dem Risiko der Postbeförderung zu belasten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 1974 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 18. Januar 1973 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie beruft sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil und mehrere Urteile des Bundessozialgerichts - BSG - (BSGE 22, 257; BSG SozR Nr. 3 zu § 143 1 AVAVG und Urteil vom 26.2.1969 - 7 RAr 23/67).
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG. Zu Recht hat das LSG entschieden, daß § 79 Abs. 2 AFG a. F. für die Einreichung der Anträge auf SWG eine materielle Ausschlußfrist vorsieht. Dies ergibt sich bereits ohne weiteres aus dem Wortlaut. Das LSG ist ferner zutreffend davon ausgegangen, daß es sich bei dem Antrag um eine zugangsbedürftige Willenserklärung handelt und deshalb die Ausschlußfrist nur durch rechtzeitigen Zugang des Antrages beim Arbeitsamt gewahrt werden kann. § 130 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), insbesondere dessen Absatz 3, findet hier entsprechende Anwendung. Dieses Ergebnis entspricht der bisherigen Rechtsprechung des BSG (BSGE 22, 257, 258; BSG SozR Nr. 3 zu § 143 1 AVAVG). Es besteht keine Veranlassung, hiervon abzuweichen. Inzwischen eingetretene Änderungen der sprachlichen Fassung sind ohne Bedeutung (BSG, Urteil vom 23. Juni 1976 - 12/7 RAr 80/74).
Das LSG hat nicht feststellen können, daß innerhalb dieser gesetzlich vorgesehenen materiell-rechtlichen Ausschlußfrist, die am 1. Juni 1971 endete, ein Antrag der Klägerin auf Zahlung von SWG für den Monat März 1971 eingegangen ist. Damit fehlt es an einer Voraussetzung für die beantragte Leistung.
Die Berufung auf die danach feststehende Versäumung der Ausschlußfrist könnte jedoch Rechtsmißbrauch sein. Allein die Tatsache, daß die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, nimmt der Beachtung der Ausschlußfrist allerdings nicht ihren Sinn. Ihre Funktion liegt darin, sicherzustellen, daß die Beklagte zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Überblick über den Umfang der zu gewährenden Leistungen erhält (BSG SozR Nr. 3 zu § 143 1 AVAVG und zu der Neufassung: BT-Drucks. V/2291, S. 75 zu § 73 Abs. 2 und S. 77 zu § 79 Abs. 3). Rechtsmißbrauch kann insoweit allenfalls dann vorliegen, wenn die Einhaltung der Ausschlußfrist für die Verwaltung von geringer Bedeutung ist und ganz erhebliche langfristig wirksame Interessen des Bürgers auf dem Spiel stehen (BSG 14, 246 ff; ferner Urt. vom 26. Mai 1971 - 12/11 RA 118/70 - SozEntsch. X/E, Art. 2 § 5 ANVNG Nr. 1). Das ist hier jedoch nicht der Fall.
Die Beklagte würde jedoch auch dann rechtsmißbräuchlich handeln, wenn sie der Klägerin die für ihre Arbeitnehmer begehrten SWG-Leistungen aus anderen Gründen ohnehin gewähren müßte. Das wäre der Fall, wenn die Klägerin berechtigt ist zu verlangen, so gestellt zu werden als wären die Anträge rechtzeitig eingegangen. Ein solcher Anspruch könnte gegeben sein, wenn die Beklagte eine ihr obliegende Betreuungspflicht verletzt und dadurch die Versäumung der Ausschlußfrist verursacht hätte (vgl. das zur Veröffentlichung bestimmte Urt. des erkennenden Senats vom 18. Dezember 1975 - 12 RJ 88/75 -). Eine solche Verletzung von Betreuungspflichten könnte vorliegen, wenn die Beklagte versäumt hätte, den Kläger entgegen einer bisher ständig geübten Praxis noch vor Ablauf der Antragsfrist darauf aufmerksam zu machen, daß zu den von ihr angezeigten Schlechtwettertagen noch keine Anträge eingegangen sind. Eine derartige Verpflichtung würde jedenfalls dann bestehen, wenn die Beklagte seit vielen Jahren so verfahren wäre. Sollte dies der Fall sein, so besteht eine Verwaltungsübung, die die Beziehungen zwischen der Beklagten und den für ihre Arbeitnehmer treuhänderisch auftretenden Bauunternehmern in dem sie verbindenden Sozialrechtsverhältnis konkretisiert. Während ohne diese Übung u. U. den Unternehmern im eigenen Interesse und im Interesse der anspruchsberechtigten Arbeitnehmer obläge, sich über den Eingang der SWG-Anträge zu vergewissern (z. B. durch Postzustellungsurkunde, Einschreiben-Rückschein, Empfangsbestätigung oder Rückfragen), könnten sie aufgrund einer solchen Übung darauf vertrauen, zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Hinweis zu erhalten, daß noch keine Anträge beim Arbeitsamt eingegangen seien. Dem Schweigen der Beklagten kann so die Bedeutung einer Erklärung zukommen, daß alles in Ordnung ist. Durch das so erweckte Vertrauen wird der Bauunternehmer veranlaßt, davon abzusehen, von sich aus für eine Eingangsbestätigung zu sorgen. Wenn die Beklagte dann ohne Ankündigung von dieser Übung abgeht oder sie im Einzelfall versäumt und dadurch eine Fristversäumnis bewirkt, kann sie sich darauf nicht berufen. Wenn sie den Unternehmer weiterhin im Glauben beläßt, er werde rechtzeitig von dem fehlenden Zugang erfahren, tatsächlich aber solche Hinweise unterläßt, setzt sie sich in einer gegen Treu und Glauben verstoßenden Weise in Widerspruch zu ihrem früheren Verhalten (venire contra factum proprium). Das gilt, wenn eine solche Übung allgemein festzustellen ist, selbst dann, wenn die Klägerin nie erinnert werden mußte, da eine solche Übung in den beteiligten Kreisen bekannt wird und deshalb auch das Verhalten der Nichtbetroffenen bestimmt. Gleiches gilt selbst dann, wenn sich diese Übung nur auf die Klägerin bezog, d. h. die Klägerin selbst in den vergangenen Jahren stets zu einem bestimmten Zeitpunkt an ausstehende SWG-Anträge erinnert wurde. Ein solcher Verstoß der Beklagten gegen ihre Pflichten würde bewirken, daß die Klägerin im Rahmen des zwischen ihr als Treuhänderin der Arbeitnehmer und der Beklagten bestehenden Sozialrechtsverhältnisses aufgrund eines sozialrechtlichen Schadensersatzanspruchs so zu stellen wäre, als hätte die Beklagte ihrer Pflicht genügt. Es ist davon auszugehen, daß die Klägerin im Falle einer Erinnerung vor Ablauf der Ausschlußfrist die Anträge erneut eingereicht hätte, wie dies später bei Bekanntwerden des Verlustes auch tatsächlich geschehen ist. Das bedeutet, daß die Beklagte die Klägerin so behandeln muß, als wenn die Anträge vor Ablauf der Ausschlußfrist eingegangen wären.
Da die für diese Entscheidung erforderlichen Feststellungen fehlen, muß sie das LSG noch treffen.
Die Sache war deshalb an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen