Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisung eines Hilfsarbeiters
Leitsatz (amtlich)
Bei der Verweisung eines Versicherten mit dem bisherigen Beruf des Hilfsarbeiters auf Arbeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes (RVO § 1246 Abs 2 S 2) bedarf es grundsätzlich keiner konkreten Benennung von Verweisungstätigkeiten (Abgrenzung und Weiterführung von BSG 1981-02-18 1 RJ 124/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 75).
Orientierungssatz
1. Bei Versicherten mit dem bisherigen Beruf des Hilfsarbeiters besteht bei zumutbarer Verweisung auf eine andere nicht qualifizierte Tätigkeit (§ 1246 Abs 2 S 2 RVO) im Vergleich zB mit dem Facharbeiter grundsätzlich keine Gefahr, "berufsfremd" und damit uU auf eine Arbeit verwiesen zu werden, die in der Wirklichkeit der Berufswelt nicht oder kaum aufzufinden ist.
2. Etwas anderes gilt dann, wenn der Versicherte selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch mit vielfältigen und/oder erheblichen Einschränkungen ausführen kann. Es kann nämlich sein, daß der allgemeine Arbeitsmarkt für solche überdurchschnittlich stark leistungsgeminderte Personen schlechthin keine Arbeitsstelle bereithält; soziale Wirklichkeit und soziales Leistungsrecht dürfen aber bei Anwendung des § 1246 Abs 2 S 2 RVO nicht auseinanderfallen. Um dies zu vermeiden, haben Versicherungsträger oder Gerichte mindestens eine konkrete Tätigkeit anzugeben. Entsprechendes muß für Versicherte gelten, die nach ihrem bisherigen Beruf in die Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten gehören und daher nicht auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden können.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 19.11.1979; Aktenzeichen L 2 J 26/79) |
SG Speyer (Entscheidung vom 05.12.1978; Aktenzeichen S 7 J 123/78) |
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Die 1926 geborene Klägerin war während ihres Berufslebens als Schneiderlehrling, als Verkäuferin und - ua - von 1970 bis 1976 als Arbeiterin in einer Schuhfabrik beschäftigt und versichert.
Ihren Antrag auf Versichertenrente von August 1976 lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) nach ärztlicher Untersuchung und Begutachtung ab: Die Klägerin könne noch Arbeiten ohne besondere Anforderungen an das Sehvermögen verrichten und sei daher nicht berufsunfähig (bu; Bescheid vom 10. Februar 1977 und bestätigender Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 1978).
Mit der hiergegen erhobenen Klage ist die Klägerin in den Vorinstanzen nicht durchgedrungen. Im angefochtenen Urteil vom 19. November 1979 hat das Landessozialgericht (LSG) ihre Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 5. Dezember 1978 mit folgender Begründung zurückgewiesen: Die Klägerin sei nach ihrem bisherigen Beruf ungelernte Arbeiterin. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auf medizinischem Gebiet könne sie noch leichte körperliche Arbeiten vorwiegend im Sitzen vollschichtig verrichten, soweit sie an das Sehvermögen keine besonderen Anforderungen stellten. Sie könne daher insbesondere in größeren Fertigungsbetrieben eine Vielzahl von Tätigkeiten verrichten (zB Klebearbeiten, Sortieren und Verpacken von Kleinteilen, Bedienen von Apparaten und ähnliches).
Gegen dieses Urteil hat der Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 24. April 1980).
Die Klägerin macht mit der Revision geltend: Das LSG hätte aufgrund der bei ihr vorliegenden erheblichen Gesundheitsstörungen nicht zu dem Ergebnis gelangen dürfen, daß sie noch leichte Arbeiten vollschichtig verrichten könne; sie könne höchstens noch halbtags arbeiten. In jedem Fall sei ihr der Arbeitsmarkt verschlossen. Die vom LSG angeführten Arbeitsverrichtungen setzten durchweg ausreichendes räumliches Sehen voraus. Sie seien überdies nicht konkret genug, nämlich an Hand tarifvertraglicher Lohngruppen bezeichnet. Dem Zeitdruck fabrikmäßiger Arbeiten sei sie nicht mehr gewachsen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts
Rheinland-Pfalz vom 19. November 1979 den Bescheid
der Beklagten vom 10. Februar 1977 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 1978
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr
- Klägerin - Rente wegen Berufsunfähigkeit seit
Antragstellung zu zahlen,
ferner,
der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Die Beklagte hat sich nicht geäußert.
Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Nach § 1246 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat Anspruch auf Versichertenrente nur, wer zumindest bu im Sinne von Abs 2 aaO ist. Nach dessen Satz 1 ist bu ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung oder gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Dabei umfaßt nach Satz 2 aaO der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist - auf die er also unter Ablehnung von BU noch "verwiesen" werden kann -, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Entscheidend ist mithin der "bisherige Beruf" (= "bisherige Berufstätigkeit") der Klägerin und dessen "besondere Anforderungen", dh im Ergebnis der qualitative Wert des bisherigen Berufs; ihm muß der Beruf, auf den verwiesen wird, angemessen entsprechen (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG-, vgl zB den erkennenden Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 55). Bisheriger Beruf ist regelmäßig die Tätigkeit, die der Versicherte zuletzt und nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt hat (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl mit zahlreichen Nachweisen den erkennenden Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 62 und 66). Zuletzt, nämlich von 1970 bis zum Rentenantrag im Jahre 1976, hat die Klägerin nach den unangegriffenen, für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) als ungelernte Kraft in einer Schuhfabrik gearbeitet. Von dem früheren Beruf einer Verkäuferin hat sich die Klägerin deshalb auch im Rechtssinne gelöst; er kann daher nicht bisheriger Beruf sein (vgl BSGE 38, 14, 15 = SozR 2600 § 45 Nr 6 und den erkennenden Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 29).
Es bedarf keiner Darlegung, daß der Klägerin, bezogen auf den qualitativen Wert ihres "bisherigen Berufs" als unqualifizierte Arbeitern, noch jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsfeldes "zugemutet" im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO werden kann, sofern sie nur ihren gesundheitlichen - körperlichen und geistigen - Kräften entspricht. Anders als die qualifizierten Berufstätigkeiten - Tätigkeiten mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters und des angelernten Arbeiters (vgl den erkennenden Senat zB in SozR 2200 § 1246 Nr 29 und 51) - entziehen sich die nicht oder nur ganz wenig qualifizierten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit einer Anlernung von weniger als drei Monaten - sonst fielen sie schon in die Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten (vgl zB mit weiteren Nachweisen BSG in SozR 2200 § 1246 Nr 25) - einer knappen und kennzeichnenden Benennung. Die ungelernten, die "Hilfsarbeiten" unterscheiden sich von den qualifizierten Tätigkeiten gerade dadurch, daß sie nicht bereits unter ihrer Bezeichnung deutlich einen Komplex charakteristischer beruflicher Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen erkennen lassen, die in einer typischen Kombination zusammenfließen (vgl dazu Die Klassifizierung der Berufe, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden, Ausgabe 1975, 11; zB Bäcker, Maurer, aber auch: Büromaschinenmechaniker, Autoelektriker, Gerüstbauer-Vorarbeiter). Auch die Tarifverträge, dh die am Arbeitsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise, sind zumeist nicht in der Lage, aussagekräftige, Art und Anforderungen der Tätigkeit beschreibende kurze Bezeichnungen der unqualifizierten Hilfstätigkeiten zu finden; sie begnügen sich zumeist mit Abgrenzungen ohne speziellen Aussagegehalt (zB Arbeiten, die eine Einweisung von nicht mehr als einem Monat verlangen uä). Auch dort, wo Tarifverträge bestimmte Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters - nicht also eines Angelernten in den sogenannten Helferberufen - bezeichnen (zB Schlackenlader, Masselträger), handelt es sich vielfach um fach- oder gar betriebsspezifische Bezeichnungen, die nicht allgemein erkennen lassen, um welchen Komplex typischer Hilfsarbeiten es sich handelt. Die selbst für die Tarifpartner bestehende Unmöglichkeit, die Fülle der nicht durch Ausbildung und/oder Berufserfahrung qualifizierten Tätigkeiten kurz und charakterisierend zu benennen (vgl Die Klassifizierung der Berufe, aaO, 136 und das Alphabetische Verzeichnis der Berufsbenennungen in Blätter zur Berufskunde, herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeit, Band 4a; dagegen aber das Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe, Ausgabe 1980, herausgegeben und fortgeschrieben vom Bundesinstitut für Berufsbildung), enthebt die Versicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit der sonst bestehenden Pflicht, den in Frage stehenden Verweisungsberuf "konkret zu bezeichnen" (vgl zB BSG in SozR 2200 § 1246 Nr 30; 36 und 38 mwN). Rechtlich stehen dem keine Bedenken nicht nur insoweit entgegen, als - wie ausgeführt - der Ungelernte zumutbar auf das ganze weite Feld des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden kann; hinzu kommt, daß sich allgemeine Hilfsarbeiten wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Beseitigung von Abfällen, einfaches Bedienen einfacher Maschinen uä von Betrieb zu Betrieb, von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz nur wenig unterscheiden. Bei Versicherten mit dem bisherigen Beruf des Hilfsarbeiters besteht daher im Vergleich zB mit dem Facharbeiter wenig Gefahr, bei Verweisung auf eine andere Tätigkeit "berufsfremd" und damit uU auf eine Arbeit verwiesen zu werden, die in der Wirklichkeit der Berufswelt nicht oder kaum aufzufinden ist.
Etwas anderes gilt freilich dann, wenn der Versicherte selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch mit vielfältigen und/oder erheblichen Einschränkungen ausführen kann. Es kann nämlich sein, daß der allgemeine Arbeitsmarkt für solche überdurchschnittlich stark leistungsgeminderte Personen schlechthin keine Arbeitsstelle bereithält; soziale Wirklichkeit und soziales Leistungsrecht dürfen aber bei Anwendung des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO nicht auseinanderfallen. Um dies zu vermeiden, haben Versicherungsträger oder Gerichte mindestens eine konkrete Tätigkeit anzugeben. Hierzu können zB Tarifverträge herangezogen werden, wobei das Anforderungsbild der zu prüfenden Tätigkeit gegebenenfalls weiter aufzuhellen ist (vgl zu alledem auch die Entscheidung des erkennenden Senats vom 18. Februar 1981 - 1 RJ 124/79). Entsprechendes muß für Versicherte gelten, die nach ihrem bisherigen Beruf in die Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten gehören und daher nicht auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden können (vgl zB BSGE 43, 243, 246 = SozR 2200 § 1246 Nr 17).
Auch im konkreten Fall hat das LSG die Klägerin zutreffend auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen. Es ist daher unschädlich, wenn es die vom LSG aufgeführten Verrichtungen - Kleben, Sortieren, Verpacken von Kleinteilen, Zusammenbau von Kleinteilen, Bedienen einfacher Apparate - als ganz bestimmte Tätigkeit, als konkreten Arbeitsplatz nicht geben sollte. Dem Berufungsgericht ist es allein darum gegangen, das Restleistungsvermögen der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt näher zu beleuchten. Der Benennung konkreter Tätigkeiten bedurfte es auch nicht ausnahmsweise, weil die Klägerin zwar in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert ist, aber nach den den Senat bindenden Feststellungen des LSG nur in einem Umfang, der, bezogen auf die Bedingungen der Arbeitswelt, nicht außergewöhnlich ist. Die Klägerin kann noch vollschichtig leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen verrichten und ist durch eine Linsenoperation eines Auges zusätzlich nur noch insoweit behindert, als sie besonderen Anforderungen an das Sehvermögen nicht genügen kann. Die gegenteiligen Darlegungen der Klägerin sind unbeachtlich. Angriffe gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG hätte der Senat nur zu prüfen, wenn die Klägerin insofern Verfahrensrügen in der Form des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG zulässig und begründet erhoben hätte. Solche Verfahrensrügen enthält die Revisionsbegründung jedoch nicht; die Klägerin hat sich begnügt, das Gesamtergebnis des Verfahrens anders als das LSG zu würdigen. Bei vollschichtigem Arbeitsvermögen der Klägerin ist auch nicht ersichtlich, wieweit der Arbeitsmarkt verschlossen sein sollte.
Nach alledem trifft das angefochtene Urteil zu, so daß die Revision der Klägerin hiergegen als unbegründet zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Fundstellen