Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines belastenden Verwaltungsakts. Erteilung eines Zugunstenbescheides nach Prozeßvergleichen
Orientierungssatz
1. Wie der Große Senat des BSG durch Beschluß vom 1982-12-15 GS 2/80 = SozR 1300 § 44 Nr 3) entschieden hat, ist in Fällen, in denen der angefochtene Verwaltungsakt vor dem 1.1.1981 erlassen wurde, bei noch fortdauerndem gerichtlichen Verfahren über den Verwaltungsakt, dessen Aufhebung begehrt wird, seit dem Inkrafttreten des SGB 10 nicht mehr der am 31.12.1980 außer Kraft getretene § 627 RVO, vielmehr § 44 SGB 10 anzuwenden.
2. Nach Wortlaut und Sinn des § 44 Abs 1 SGB 10 steht einer Rücknahme nicht entgegen, daß der Rentenentziehungsbescheid in der Form des Prozeßvergleichs unanfechtbar geworden ist.
Normenkette
RVO § 627 Fassung: 1963-04-30; SGB 10 § 44 Abs 1 S 1 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 Art 2 § 40 Abs 1 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 26.11.1981; Aktenzeichen L 7 U 1910/79) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 26.04.1979; Aktenzeichen S 3 U 658/76) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 26.04.1979; Aktenzeichen S 3 U 490/79) |
Tatbestand
Der im Jahre 1914 geborene Kläger begehrt die Wiedergewährung einer Verletztenrente. Er erlitt am 9. Dezember 1955 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich einen Schädelbasisbruch und eine gedeckte Hirnverletzung zuzog. Die Beklagte gewährte ihm eine vorläufige Rente zunächst in Höhe der Vollrente, sodann in Höhe von 60 vH der Vollrente (Bescheid vom 27. August 1956) und vom 1. Februar 1958 an eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH (Bescheid vom 28. Januar 1958).
Durch Bescheid vom 26. November 1959 entzog die Beklagte die Dauerrente mit Ablauf des Monats Dezember 1959, da sich die Folgen der Kopfverletzung restlos zurückgebildet hätten, so daß wesentliche Folgen des Unfalls nicht mehr vorlägen. Die hiergegen gerichtete Klage wies das Sozialgericht (SG) Mannheim ab (S 6 U 399/58, Urteil vom 11. April 1961). Im Berufungsverfahren schlossen die Beteiligten vor dem Landessozialgericht (LSG) -L 2a Ua 907/61- in der mündlichen Verhandlung am 18. September 1963 einen Vergleich, in dem sich die Beklagte verpflichtete, dem Kläger über den 31. Dezember 1959 hinaus bis zum 31. Dezember 1961 noch eine Rente nach einer MdE um 20 vH zu gewähren.
Im Dezember 1974 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Wiedergewährung der Rente. Zur Begründung führte er aus, seit Mai 1973 sei er arbeitsunfähig und in der Folge erwerbsunfähig infolge des Arbeitsunfalls vom 9. Dezember 1955. Seit dem 1. Juni 1973 bezieht der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der Arbeiterrentenversicherung.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 26. März 1976 die Wiedergewährung einer Rente ab. Zur Begründung führte sie aus, in den für den Vergleich vom 18. September 1963 maßgebend gewesenen Verhältnissen sei eine wesentliche Änderung (Verschlimmerung) nicht eingetreten.
Nach Erhebung der Klage gegen diesen Bescheid erteilte die Beklagte am 22. Februar 1979 einen Widerspruchsbescheid, in dem sie die Voraussetzungen für einen (Zugunsten-)Bescheid nach § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verneinte, da eindeutige Hinweise dafür fehlten, daß die unfallbedingte Hirnschädigung eine bleibende Beeinträchtigung der Hirnfunktion hinterlassen habe. Die auf Gewährung einer Rente nach einer MdE um mindestens 20 vH ab 1. Januar 1962, hilfsweise auf Verurteilung der Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides gerichtete Klage hat das SG abgewiesen, da eine wesentliche Verschlimmerung nicht eingetreten sei und die Beklagte wegen der unterschiedlichen Auffassungen der ärztlichen Gutachter auch nicht davon überzeugt sein müsse, daß sie die Zahlung der Rente zu Unrecht eingestellt habe (Urteil vom 26. April 1979).
Dem im Berufungsverfahren allein noch gestellten Antrag des Klägers, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26. März 1976 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 1979 zu verurteilen, ihm einen Neufeststellungsbescheid über die Gewährung einer Unfallrente zu erteilen, hat das LSG stattgegeben (Urteil vom 26. November 1981). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: In den Verhältnissen, die dem Vergleich vom 18. September 1963 zugrunde gelegen hätten, sei eine wesentliche Änderung nicht eingetreten. Streitig sei nur, ob die seinerzeitige Regelung der tatsächlichen und rechtlichen Lage entsprochen habe. Der Kläger habe zwar nicht die Möglichkeit wahrgenommen, die Unwirksamkeit des Vergleichs geltend zu machen oder diesen anzufechten, sondern eine Neufeststellung beantragt. Mit diesem Anspruch habe sich die Beklagte vorbehaltlos auseinandergesetzt und damit auf die Einhaltung der Vorschriften verzichtet, die zur Beseitigung oder Änderung eines Vergleichs üblicherweise vorgesehen seien. Wie in der Kriegsopferversorgung (s BSG SozR 3900 § 40 Nr 2) sei auch in der Unfallversicherung das Verfahren über den Erlaß eines sog Zugunstenbescheides zulässig, wenn der voraufgegangene Rechtsstreit durch gerichtlichen Vergleich beendet worden sei. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Neufeststellungsbescheides zugunsten des Klägers nach § 627 RVO in der bis zum 31. Dezember 1980 geltenden Fassung seien entgegen der Auffassung der Beklagten gegeben. § 627 RVO aF sei hier noch anzuwenden, weil das Verwaltungsverfahren aus der Sicht der Beklagten in diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen gewesen sei (BSGE 51, 139). Die Beklagte habe als überzeugt zu gelten, daß sie die Leistung zu Unrecht entzogen habe. Maßgebender Zeitpunkt für die Prüfung der Rechtmäßigkeit sei der 18. September 1963 (Vergleichsabschluß). Nach Hirnverletzung (contusio) hätten als Unfallfolgen damals bestanden: 1. Ein verheilter Schädelriß, der sich bis auf die Basis und das rechte Felsenbein erstreckt hatte, 2. eine erhebliche rechtsseitige Hörstörung, 3. eine leichte Herabsetzung des Geruchsvermögens rechts (möglicherweise als Folge des privaten Unfalls von 1947), 4. vegetative Störungen in Form von Kopfschmerzen, gelegentlichen Schwindelerscheinungen und allgemeinen Befindensstörungen als Folge der Hirnnarbe.
Diese Störungen hätten weiterbestanden, würden allerdings jetzt durch die Folgen einer Cerebralsklerose derart überdeckt, daß die Nichtunfallfolgen im Vordergrund stünden; für eine wesentliche Besserung der Unfallfolgen oder eine sog Verschiebung der Wesensgrundlage bestehe kein Anhalt. Die zutreffende Würdigung der seinerzeit bekannten und jetzt noch bestehenden Unfallfolgen hätte zur Rentengewährung führen müssen. Auch vegetative Störungen leichterer Art könnten in der Unfallversicherung zu einer MdE bis zu 30 vH führen (s Günther/Hymmen, Unfallbegutachtung, 7. Aufl, S 91 f). Bei dem Kläger hätten - ungeachtet der Hörstörung - vegetative Störungen in Form von Kopfschmerzen, gelegentlichen Schwindelerscheinungen und allgemeinen Befindensstörungen bestanden, so daß sich die Schätzung von Dr. R. in seinem Gutachten vom 21. Mai 1962, es liege eine unfallbedingte MdE um 20 vH vor, im üblichen Rahmen bewegt habe. Prof. Dr. P. und Prof. Dr. M. (Gutachten vom 26. November 1980 und 13. Juli 1981) stimmten mit dieser Bewertung überein. Ein wichtiges Indiz dafür, daß diese Beurteilung in einem solchen Maße zutreffend sei, daß die Beklagte von der Unrichtigkeit der früheren Regelung als überzeugt zu gelten habe, seien die für andere Rechtsgebiete getroffenen Regelungen vergleichbarer Fälle. In der KOV beginne die MdE für eine Kontusion mit dem Unterwert von 30 vH (Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973, Nr 88 Abs 1 und 2 sowie Seite 183 f). Im Schwerbehindertenrecht betrage die MdE selbst dann 30 vH, wenn bei späteren Untersuchungen keine hirnorganischen Funktionsstörungen mehr zu erkennen seien (Nr 31 der Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem Schwerbeschädigtengesetz, Ausgabe 1977). Hieraus folge in Verbindung mit den gutachtlichen Äußerungen für den vorliegenden Fall, daß bei fortbestehenden Hör- und vegetativen Störungen des Klägers die MdE nicht unterhalb des rentenberechtigenden Mindestgrades liege.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und trägt ua vor: Der Prozeßvergleich sei für die Beteiligten bindend, da auch der Kläger ihn nicht angefochten oder die Unwirksamkeit geltend gemacht habe. Die Voraussetzungen des § 627 RVO aF lägen nicht vor. Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß sie - die Beklagte - von der Unrechtmäßigkeit der Rentenentziehung hätte überzeugt sein müssen. Das LSG habe darüber hinaus die Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) überschritten und die objektive Beweislast verkannt. Rechtsfehlerhaft sei die Auffassung des LSG, die MdE-Bewertung im KOV-Recht könne zumindest ein Indiz dafür sein, daß auch für die gesetzliche Unfallversicherung eine MdE in einem rentenberechtigenden Grade vorgelegen habe.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat im Ergebnis keinen Erfolg.
Gegenstand des Rechtsstreits ist der vom Kläger im Dezember 1974 erhobene Anspruch auf Wiedergewährung der bis zum 31. Dezember 1961 gezahlten Verletztenrente wegen der Folgen des am 9. Dezember 1955 erlittenen Arbeitsunfalls. Eine wesentliche Änderung (Verschlimmerung) der Unfallfolgen ist nicht eingetreten, wie das LSG für das Bundessozialgericht -BSG- bindend (§ 163 SGG) festgestellt hat. Nach der Auffassung des LSG muß aber die Beklagte als davon überzeugt gelten, daß sie zu Unrecht die Verletztenrente nach einer MdE um 60 vH durch den Bescheid vom 26. November 1959 mit Wirkung vom 31. Dezember 1959 entzogen und aufgrund des Prozeßvergleichs vom 18. September 1963 nach einer MdE um 20 vH nur bis zum 31. Dezember 1961 gezahlt hat, weil nach den Feststellungen des LSG auch über den 31. Dezember 1961 hinaus unverändert Folgen des Arbeitsunfalls vorgelegen haben, durch die der Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit um 20 vH gemindert ist. Bei der rechtlichen Beurteilung ist das LSG von der mit Wirkung vom 1. Januar 1981 außer Kraft getretenen Vorschrift des § 627 RVO ausgegangen (s Art II §§ 4 Nr 1, 40 Abs 1 des Sozialgesetzbuches -Verwaltungsverfahren- SGB X). Nach § 627 RVO aF hatte der Träger der Unfallversicherung eine Neufeststellung vorzunehmen, wenn er sich bei erneuter Prüfung davon überzeugte, daß die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt worden war. Diese Vorschrift ist jedoch entgegen der von der Beklagten geteilten Auffassung des LSG auf den vorliegenden Fall nicht mehr anzuwenden. Wie nach Erlaß des angefochtenen Urteils der Große Senat des BSG (Beschluß vom 15. Dezember 1982 - GS 2/80 -) entschieden hat, ist in Fällen der vorliegenden Art wegen des noch fortdauernden gerichtlichen Verfahrens über den Verwaltungsakt, dessen Aufhebung begehrt wird, seit dem Inkrafttreten des SGB X (1. Januar 1981, s Art II § 40 Abs 1 SGB X) vielmehr § 44 SGB X anzuwenden. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit (s hierzu § 44 Abs 4 SGB X) ua zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Obwohl das LSG die rechtliche Beurteilung nach § 627 RVO aF vorgenommen hat, reichen die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil aus, um eine Entscheidung unter den hier maßgebenden Voraussetzungen des § 44 Abs 1 SGB X zu treffen.
Daß der Rentenentziehungsbescheid vom 26. November 1959 in der Form des Prozeßvergleichs vom 18. September 1963 - Weiterzahlung der Rente nach einer MdE um 20 vH für die Dauer von zwei Jahren - unanfechtbar geworden ist, steht nach Wortlaut und Sinn des § 44 Abs 1 SGB X einer Rücknahme nicht entgegen. Eine Neufeststellung zugunsten des Klägers ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Streit über die Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung nicht durch Urteil, sondern durch Prozeßvergleich abgeschlossen worden war. Dies hat das BSG, worauf schon das LSG hingewiesen hat, für das Kriegsopferrecht bereits entschieden (SozR 3900 § 40 Nr 2). Von der Beklagten angeführte Unterschiede zwischen dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung und dem Kriegsopferrecht geben keinen Anlaß, hinsichtlich der Wirkung eines Prozeßvergleichs auf die Zulässigkeit eines Zugunstenbescheides grundsätzlich anders zu entscheiden. Ebenso ist es im Rahmen des § 44 SGB X - wie schon nach § 627 RVO aF - unerheblich, ob die Beklagte eine erneute Sachprüfung vorgenommen oder ob sie sich schlicht auf die Bindungswirkung berufen hat. Im letzteren Fall ist insbesondere entgegen der Auffassung der Revision keine "Einrede" gegeben. Eine uneingeschränkte Sachprüfung wurde zum Teil lediglich als wesentlich dafür angesehen, ob die Entscheidung im Rahmen des § 627 RVO aF oder unabhängig hiervon unter den Voraussetzungen einer Erstentscheidung zu fällen sei (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl, S 730d).
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG haben beim Kläger auch über den 31. Dezember 1961 hinaus unverändert, wenn auch inzwischen durch die Folgen einer unfallunabhängigen Cerebralsklerose überdeckt, Unfallfolgen fortbestanden, durch welche die Erwerbsfähigkeit des Klägers um 20 vH gemindert ist. Damit hat sich der Sachverhalt als unrichtig erwiesen, von dem bei der Entziehung der Rente zum 31. Dezember 1961 ausgegangen worden ist (s § 44 Abs 1 SGB X). Die nach § 627 RVO aF maßgebend gewesenen Erwägungen, ob die Unrechtmäßigkeit der Rentenentziehung so offensichtlich war, daß die Beklagte als davon überzeugt zu gelten hat, sind im Rahmen der Prüfung nach dem hier anzuwendenden § 44 Abs 1 SGB X insoweit ohne rechtliche Bedeutung. Die Revision erachtet zwar ein anderes Beweisergebnis als das LSG für zutreffend. Sie hat aber gegen die tatsächlichen Feststellungen über den Fortbestand von Unfallfolgen mit einer MdE um 20 vH nach der Auffassung des Senats keine durchgreifende Verfahrensrüge vorgebracht, aus der sich eine Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 SGG) ergibt (§ 170 Abs 3 Satz 1 SGG).
Bei der Neufeststellung ist zu beachten, daß gemäß § 44 Abs 4 SGB X Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht werden und, wenn die Rücknahme -wie hier- auf Antrag erfolgt, der Zeitpunkt der Antragstellung für die Berechnung maßgebend ist.
Die Revision ist danach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen