Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzung für Anspruch auf vorzeitiges Altersruhegeld. ernstliche Arbeitsbereitschaft. Verletzung der Sachaufklärungspflicht

 

Orientierungssatz

1. Der Anspruch auf Gewährung eines vorzeitigen Altersruhegeldes setzt neben Arbeitslosigkeit die ernstliche Arbeitsbereitschaft des Rentenantragstellers voraus. Hierzu reicht die Meldung beim Arbeitsamt nicht aus, vielmehr sind auch eigene Bemühungen nötig, um die Arbeitsbereitschaft zu dokumentieren.

2. Ein Gericht, das es unterläßt, nähere Ermittlungen über die Arbeitsbereitschaft eines Rentenantragstellers anzustellen und nur auf die Meldung beim Arbeitsamt abstellt, verstößt gegen den Grundsatz der Sachaufklärungspflicht und überschreitet sein Recht auf freie Beweiswürdigung.

 

Normenkette

AVG § 25 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVAVG §§ 75-76; SGG §§ 103, 128; RVO § 1248 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 26.03.1963)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 26. März 1963 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Das Landessozialgericht (LSG) hat dem Kläger, einem pensionierten Polizeibeamten, vorzeitiges Altersruhegeld wegen Arbeitslosigkeit zugesprochen. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der zugelassenen Revision. Sie meint, die Verfügbarkeit des Klägers für den Arbeitsmarkt sei unrichtig beurteilt worden; er sei nicht arbeitslos (Verletzung des § 25 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -); die tatsächlichen Umstände seien nicht ausreichend ermittelt worden.

Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG Berlin war der am 19. März 1900 geborene Kläger bis 1945 mit Beitragsentrichtung zur Arbeiterrentenversicherung (ArV) als Arbeiter, und zwar überwiegend als Radialbohrer, beschäftigt. Von Juni 1945 bis zur Ernennung als Beamter im September 1953 wurde er als Polizist im Angestelltenverhältnis beschäftigt. Am 1. April 1960 trat er wegen Erreichens der Altersgrenze von 60 Jahren in den Ruhestand. Am 5. April 1960 meldete er sich beim Arbeitsamt in Berlin arbeitslos. In der Folgezeit meldete er sich dort, bis auf eine Unterbrechung wegen Krankheit vom 22. März bis 18. April 1961, je einmal im Monat. Er bezog kein Arbeitslosengeld.

Im März 1961 beantragte der Kläger das vorzeitige Altersruhegeld wegen Arbeitslosigkeit. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 20. Juni 1961 den Antrag ab; sie führte aus, bei dem Kläger als pensioniertem Beamten mit Ruhegehalt könne eine ernstliche Arbeitsbereitschaft nicht angenommen werden.

Mit der Klage trug der Kläger vor, sein letztes Gehalt habe monatlich 615.- DM netto betragen, das Ruhegehalt zunächst nur 288.- DM, inzwischen sei es erhöht auf 340.12 DM; er sei deshalb zur Weiterverwertung seiner Arbeitskräfte gezwungen gewesen; er habe von September 1960 bis Juni 1961 zusammen 1.463.48 DM von seinem Postsparbuch abgehoben. Das Arbeitsamt IV, Berlin, erteilte dem Sozialgericht (SG) eine Auskunft (9. Dezember 1961) über die Meldung des Klägers und allgemein über Bemühungen des Amtes für Arbeitslose. Das SG Berlin verpflichtete die Beklagte zur Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes.

Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Das LSG Berlin führte in seinem Urteil aus, arbeitslos im Sinne des § 25 Abs. 2 AVG sei, wer berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegt, aber vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht, wer weiter ernstlich bereit, nach seinem Leistungsvermögen imstande und nicht durch sonstige Umstände gehindert ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes anzunehmen. Der Kläger stehe der Arbeitsvermittlung objektiv zur Verfügung; die Meldung beim Arbeitsamt sei der gesetzlich vorgesehene Weg zur Erlangung eines Arbeitsplatzes; werde er wahrgenommen, so seien damit die objektiven Voraussetzungen der Verfügbarkeit erfüllt, sofern sie nicht im Ausnahmefall durch besondere Umstände ausgeschlossen werde. Letzteres hat es verneint. Es sei davon auszugehen, daß ein Arbeitsuchender bei laufender monatlicher Meldung in die Arbeitsvermittlung des Arbeitsamtes einbezogen bleibe und somit dem Arbeitsmarkt objektiv zur Verfügung stehe. Der Kläger stehe auch subjektiv der Arbeitsvermittlung zur Verfügung. Die ernstliche Bereitschaft zur Ausübung einer Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes sei schwer nachprüfbar; sie werde in der Regel fehlen, wenn der Betreffende ein zumutbares Stellenangebot ablehne; eine Prüfungsmöglichkeit in dieser Richtung sei nicht gegeben, weil ältere Arbeitnehmer auf dem Berliner Arbeitsmarkt nur sehr schwer vermittelt werden könnten; zusätzliche eigene Bemühungen des Arbeitsuchenden seien nicht zu verlangen, wenn schon die amtliche berufene Stelle einen Arbeitsplatz nicht vermitteln könne. Aus der wirtschaftlichen Lage sei die ernstliche Arbeitsbereitschaft nicht abzuleiten, denn es widerspreche der Wertentscheidung nach Art. 12 des Grundgesetzes (GG), diese Arbeitsbereitschaft nur demjenigen zuzurechnen, der auf Grund wirtschaftlicher Lage zur Arbeit gezwungen sei. Die Revision wurde zugelassen.

Die Beklagte führt in ihrer Revision aus, der Kläger sei als Beamter nicht Arbeitnehmer im Sinne des § 75 Abs. 1 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG). Abgesehen davon sei die Meldung beim Arbeitsamt allein kein ausreichendes Indiz für die subjektive Arbeitsbereitschaft; außer der regelmäßigen Meldung beim Arbeitsamt seien keine Umstände, die für Arbeitslosigkeit sprechen, ersichtlich. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers hätten sich bei der Pensionierung nicht so sehr verändert; er habe eine Abfindung in Höhe des 7 1 / 2 -fachen der Dienstbezüge des letzten Monats erhalten und die Pension habe sich regelmäßig erhöht; es hätte geprüft werden müssen, ob der Kläger seiner Ehefrau hätte Unterhalt gewähren müssen. Hilfsweise rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 103, 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG habe zu Unrecht aus der Auskunft des Arbeitsamts die Folgerung gezogen, der Kläger sei für einen größeren Kreis von Arbeiten vermittlungsfähig; die genaue Bedeutung der Berufskennziffer hätte ermittelt werden müssen; sie stelle nur einen Hinweis an die Vermittlungsstelle dar, bedeute aber nicht, daß der Arbeitsuchende für einen großen Kreis von Arbeiten zur Verfügung stehe. Das LSG hätte die Zuständigkeit des befaßten Arbeitsamts IV prüfen müssen, da dieses nur eine Reihe gehobener Berufe betreue. Sie beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist infolge Zulassung statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie hat auch Erfolg. Die Feststellungen des LSG reichen für eine Entscheidung, ob der Kläger arbeitslos war (§ 25 Abs. 2 AVG, §§ 75, 76 AVAVG), nicht aus.

Die Arbeitnehmereigenschaft des Klägers ist entsprechend den in mehreren Entscheidungen des Bundessozialgerichts herausgestellten Grundsätzen zu bejahen (BSG 20, 190; Urteil vom 4. Februar 1965, 11/1 RA 220/63).

Das LSG war zu Recht der Auffassung, daß Arbeitslosigkeit im Sinne des § 25 Abs. 2 AVG die Tatbestandsmerkmale des § 75 und des § 76 AVAVG einschließt. Es hat aber das Tatbestandsmerkmal der ernstlichen Bereitschaft zur Aufnahme einer Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht in dem Sinn ausgelegt, wie dieser Begriff nach der ständigen Rechtsprechung des BSG aufzufassen ist. Den Anforderungen entspricht nur der Versicherte, dessen Arbeitsbereitschaft durch objektive Umstände so belegt ist, daß an ihr keine vernünftigen Zweifel bestehen (BSG 20, 190). Die Arbeitsbereitschaft ist ein subjektiver Vorgang und entzieht sich dadurch der unmittelbaren Feststellung. Sie läßt sich nur aus objektiven Gegebenheiten schließen. Welcher objektive Sachverhalt dabei die Arbeitsbereitschaft als ernstlich kennzeichnen muß, entscheiden die Umstände des Einzelfalles und zwar in erster Linie die gesamten Arbeitsbemühungen; die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse spielen nur eine ergänzende Rolle (BSG vom 4. November 1964 - 11/1 RA 219/61 -). Die Arbeitsbereitschaft darf nicht auf bestimmte Arbeiten beschränkt sein. Der Arbeitsuchende muß vielmehr bereit sein, Beschäftigungen zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts zu übernehmen (vgl. BSG in SozR § 1248 RVO Nr. 21). Die Arbeitsbemühungen des Versicherten müssen eindeutig erkennen lassen, daß er sich fortlaufend um eine Arbeitnehmertätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts bemüht, aber trotz aller Anstrengungen keine Arbeit gefunden hat (vgl. BSG vom 4. Februar 1964 in SozR § 1248 RVO Nr. 33).

In anderen Fällen, in denen pensionierte Polizeibeamte das vorzeitige Altersruhegeld wegen Arbeitslosigkeit begehrten, hat das BSG entschieden, daß die ernstliche Arbeitsbereitschaft durch die bloße Arbeitslosmeldung dann nicht hinreichend belegt ist, wenn das Arbeitsleben infolge Erreich der vorgesehenen Altersgrenze üblicherweise beendet ist und an die Stelle des bisherigen Arbeitseinkommens eine Versorgung auf öffentlich-rechtlicher Grundlage tritt (SozR § 1248 RVO Nr. 33; Urteil vom 4. Februar 1965 - 11/1 RA 220/63 -). Die bloße Arbeitslosmeldung soll in solchen Fällen möglicherweise nur den Anschein der Arbeitslosigkeit für das vorzeitige Arbeitsruhegeld schaffen, ohne daß der Versicherte wirklich einen neuen Arbeitsplatz anstrebt. Aus der üblichen wirtschaftlichen Verschlechterung mit der Pensionierung kann die Ernstlichkeit der Arbeitsbereitschaft nicht entnommen werden; denn diese Verschlechterung überrascht den Versicherten nicht. Sie ist schon lange Zeit vorherzusehen; ihr Ausmaß läßt sich im Voraus berechnen und der Beamte kann seine Lebensführung entsprechend einrichten. Andererseits ist die Situation bei einem mit 60 Jahren pensionierten Polizeibeamten, der gesund ist und auch in anderen Berufen jahrelang beschäftigt war, verschieden von den Fällen, in denen sich Hausfrauen nach langjähriger Betätigung nur im eigenen Haushalt arbeitslos melden. Bei einem Polizeibeamten ist es im Hinblick auf das bisherige Berufsleben verständlich, wenn er nach der Pensionierung eine andere Erwerbstätigkeit ausüben will.

Das LSG hat zur Bejahung der ernstlichen Arbeitsbereitschaft des Klägers die Meldung beim Arbeitsamt als ausreichend angesehen und die Notwendigkeit zusätzlicher eigener Bemühungen im Hinblick auf den amtlichen Charakter der Arbeitsvermittlung durch das Arbeitsamt verneint. Dies ist nicht richtig. Zwar ist das Arbeitsamt allein für die gewerbsmäßige Arbeitsvermittlung zuständig. Die Arbeitgeber sind aber nicht verpflichtet, offene Stellen beim Arbeitsamt anzumelden und Arbeitskräfte nur nach Zuweisung durch das Arbeitsamt einzustellen. Die Tagespresse zeigt, daß Arbeitgeber Arbeitskräfte häufig ohne Einschaltung des Arbeitsamts suchen. Gegen eine volle Einbeziehung des Klägers in die Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamts spricht, daß er kein Arbeitslosengeld bezogen hat. Es ist allgemein bekannt, daß das Arbeitsamt offene Stellen vordringlich den Empfängern von Arbeitslosengeld und -hilfe zu benennen hat, da diese im allgemeinen wirtschaftlich schwächer sind als pensionierte Beamte, die ihre Pension aufbessern wollen. Das Arbeitsamt muß in erster Linie die Unterstützungsempfänger unterbringen. Hinzu kommt, daß das LSG nicht festgestellt hat, ob der Kläger im Rahmen der Arbeitsvermittlung alle Möglichkeiten des Arbeitsmarkts erschöpfend in Anspruch genommen hat. Es ist nicht festgestellt, wie sich der Kläger gegenüber Bemühungen des Arbeitsamts verhalten hat. So ist nicht ermittelt worden, ob und mit welchem Ergebnis der Kläger sich hat arbeitsamtsärztlich untersuchen lassen, wie er auf Beratungsgespräche eingegangen ist, für welche Arbeiten er sich beim Arbeitsamt hat vormerken lassen, ob das Arbeitsamt ihm offene Stellen genannt hat und falls ja, um welche Art der Tätigkeit es sich dabei gehandelt hat, sowie was der Kläger auf Stellenbenennungen hin getan hat. Abgesehen davon ist zur Entscheidung über die ernstliche Arbeitsbereitschaft vor allem festzustellen, ob der Kläger außer der Meldung beim Arbeitsamt noch auf andere Weise versucht hat, einen Arbeitsplatz zu erlangen und was er hierzu im einzelnen unternommen hat.

Da diese Tatsachen nicht festgestellt sind, kann nicht entschieden werden, ob der Kläger imstande und ernstlich bereit war, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts auszuüben. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und der Rechtsstreit zu weiteren Ermittlungen und Feststellungen an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2375205

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