Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Schlußfolgerungen
Orientierungssatz
Entnimmt das Gericht einer Erklärung des Klägers und einer Auskunft der Handwerkskammer über den Grund der Aufgabe des Handwerksbetriebs Angaben, die in Erklärung und Auskunft nicht enthalten sind, und kommt es infolgedessen zu verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Schlußfolgerungen über die Gründe der zu dem Einkommensverlust führenden Aufgabe der Tätigkeit des Klägers als selbständiger Bäckermeister, so ist § 128 SGG verletzt.
Normenkette
SGG § 128
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 06.02.1968) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 6. Februar 1968 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Gründe
Der Kläger, der das Bäckerhandwerk erlernt und 1940 die Meisterprüfung abgelegt hat, bezieht u. a. wegen Verlustes des rechten Fußes und einer Veränderung des linken Kniegelenks Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. Sein Antrag auf Erhöhung der Rente wegen besonderer beruflicher Betroffenheit war mit Bescheid vom 23. August 1963 abgelehnt worden. Im Februar 1964 stellte der Kläger Antrag auf einen Berufsschadensausgleich, der mit Bescheid vom 21. Juli 1965 ebenfalls abgelehnt wurde, weil bereits in dem Bescheid vom 23. August 1963 rechtsverbindlich festgestellt worden sei, daß die angegebenen wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten nicht auf die anerkannten Schädigungen zurückzuführen seien. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 4. Oktober 1965). Das Sozialgericht (SG) sprach dem Kläger einen Berufsschadensausgleich zu, weil der anhaltende Einkommensverlust auf den infolge der Verwundung schlechten Gesundheitszustand des Klägers zurückgeführt werden müsse.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 6. Februar 1968 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das LSG hat ausgeführt, der Anspruch des Klägers könne nicht wegen der rechtsverbindlichen Ablehnung der Erhöhung der MdE gemäß § 30 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) durch den Bescheid vom 23. August 1963 versagt werden, weil es sich bei dem Berufsschadensausgleich um einen ganz anderen, selbständigen Versorgungsanspruch handle. Dieser Anspruch sei jedoch deshalb nicht begründet, weil die zu dem Einkommensverlust führende Aufgabe des Berufes als selbständiger Bäckermeister nicht auf die anerkannten Schädigungsfolgen zurückzuführen sei. Durch diese sei der Kläger an der Ausübung seines erlernten oder eines gleichwertigen Berufes nicht gehindert gewesen. Er habe sein vor der Schädigung angestrebtes Berufsziel erreicht, da er die Meisterprüfung im Bäckerhandwerk abgelegt und dann zwölf Jahre eine Bäckerei betrieben habe. Diese Tätigkeit habe der Kläger aber nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern nach seinen eigenen Angaben gegenüber dem Versorgungsamt (VersorgA) am 14. April 1950 wegen der schlechten Einkommensverhältnisse und nach der Auskunft der Handwerkskammer H wegen des Ablaufs des Pachtverhältnisses aufgegeben. Die Verschlechterung seiner finanziellen Verhältnisse habe aber nicht auf den Versorgungsleiden beruht; sonst hätte der Kläger nach Aufgabe seines erlernten Berufes nicht neun Jahre lang die Tätigkeit eines Handelsvertreters ausüben können, die an sein Geh- und Stehvermögen mindestens die gleichen Anforderungen wie im erlernten Beruf stelle. Nach den Ausführungen des ärztlichen Sachverständigen Dr. S könne der Kläger auf jeden Fall die dem Inhaber eine Konditorei zukommenden Tätigkeiten verrichten und nach dem Attest von Dr. K habe er seine Tätigkeit als Gastwirt wegen erheblicher Herz- und Kreislaufbeschwerden aufgeben müssen. Die Aufgabe des Berufes als Gastwirt sei daher nicht auf die Folgen der Verwundung, sondern auf andere Krankheiten zurückzuführen, so daß ein durch die anerkannten Schädigungsfolgen verursachter Einkommensverlust im Sinne des § 30 Abs. 3 BVG nicht vorliege. Die Revision ist nicht zugelassen worden.
Gegen dieses am 15. Februar 1968 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 5. März 1968, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 6. März 1968, Revision eingelegt.
Er beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils vom 6. Februar 1968 zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen zurückzuverweisen.
In der Revisionsbegründung vom 17. April 1968, die innerhalb der verlängerten Begründungsfrist am 18. April 1968 beim BSG eingegangen ist, rügt der Kläger vornehmlich eine Verletzung des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG habe die Feststellung, daß die Aufgabe der Tätigkeit als selbständiger Bäckermeister nicht auf die anerkannten Schädigungsfolgen zurückzuführen ist, nicht auf die Angaben des Klägers vom 14. April 1950 und auf die Auskunft der Handwerkskammer Hildesheim stützen können. In jener Erklärung habe er sich zur Aufgabe seiner Tätigkeit als selbständiger Bäckermeister überhaupt nicht geäußert, sondern nur angegeben, daß er wegen einer Verschlechterung seiner wirtschaftlichen Lage zur Abmeldung seines Gewerbes als selbständiger Gastwirt gezwungen gewesen sei. Das LSG hätte bei seiner Beweiswürdigung auch die Angaben des Klägers in seinem Schriftsatz vom 23. November 1966 berücksichtigen müssen, daß er das Pachtverhältnis im Jahre 1949 deshalb nicht mehr verlängert habe, weil eine erhebliche Verschlimmerung der Veränderungen des linken Kniegelenkes eingetreten sei, die 1950 als Schädigungsfolgen anerkannt worden seien. Die Auskunft der Handwerkskammer könne nicht zugrunde gelegt werden, weil sie Angaben nur über den Ablauf des Pachtverhältnisses, aber nicht über die Gründe enthalte, die eine Verlängerung des Pachtverhältnisses verhindert hätten. Infolgedessen fehle es an Feststellungen über die Gründe, die zur Aufgabe des Berufes als Bäckermeister geführt haben. Sie können auch nicht aus den Erwägungen über die von dem Inhaber einer Konditorei zu erfüllenden Anforderungen hergeleitet werden, da der Kläger weder den Beruf eines Konditormeisters noch eine entsprechende Tätigkeit ausgeübt habe.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und auch rechtzeitig begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da sie aber nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen worden ist und das LSG auch nicht über die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG entschieden hat, ist sie nur statthaft, wenn zutreffend ein wesentlicher Verfahrensmangel des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird (BSG 1, 150). Der Kläger hat als wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG eine Verletzung des § 128 SGG gerügt, die er darin erblickt, daß das LSG der Erklärung gegenüber dem VersorgA vom 14. April 1950 und der Auskunft der Handwerkskammer Hildesheim vom 20. September 1966 Angaben entnommen habe, die darin nicht enthalten sind. Diese Rüge greift auch durch.
Nach § 128 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es hat in seinem Urteil die Gründe anzugeben, die für seine Überzeugung leitend gewesen sind. Ein Verfahrensmangel liegt insoweit dann vor, wenn das Gericht die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten hat (BSG 2, 236). Dies ist auch der Fall, wenn es den der Entscheidung zugrunde gelegten Unterlagen Angaben entnimmt, die nicht darin enthalten sind, und infolgedessen zu verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Schlußfolgerungen gelangt (vgl. BSG in SozR SGG § 128 Nr. 12). In seiner Begründung hat das LSG bei der Würdigung der nach den Angaben des Klägers zum Einkommensverlust führenden Aufgabe seiner Tätigkeit als selbständiger Bäckermeister festgestellt, diese Tätigkeit sei nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern nach den Angaben des Klägers gegenüber dem VersorgA am 14. April 1950 wegen der schlechten Einkommensverhältnisse und nach Auskunft der Handwerkskammer H wegen des Ablaufs des Pachtverhältnisses aufgegeben worden. Die Aufgabe des erlernten Berufes als Bäckermeister sei infolgedessen nicht auf die anerkannten Schädigungsfolgen, sondern auf eine davon unabhängige Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zurückzuführen. Zu einer derartigen Feststellung ist das LSG auf Grund der Angaben in den genannten Unterlagen aber nicht befugt gewesen. Nach der bei den Versorgungsakten befindlichen Niederschrift über die Verhandlung vom 14. April 1950 hat der Kläger bei der Schilderung seiner Einkommensverhältnisse erklärt, er habe vom 1. August 1947 bis zum 30. August 1949 aus dem Gewerbebetrieb als selbständiger Bäcker ein durchschnittliches Nettoeinkommen von 300.- RM monatlich gehabt, als selbständiger Gastwirt ein monatliches Nettoeinkommen vom 1. September 1949 bis zum 31. Januar 1950 von 100,- DM und habe wegen Verschlechterung seiner wirtschaftlichen Lage am 11. April 1950 sein Gewerbe als selbständiger Gastwirt abgemeldet, um die Tätigkeit als Versicherungsvertreter aufnehmen zu können. In der Mitteilung der Handwerkskammer H an das Landesversorgungsamt vom 20. September 1966 heißt es, der Kläger sei am 19. Juni 1944 in die Handwerksrolle als Inhaber eines Bäckereibetriebes eingetragen worden, diese Eintragung habe bis zum 25. November 1949 bestanden und in dem Antrag auf deren Löschung vom 27. Oktober 1949 sei als Grund "Beendigung des Pachtverhältnisses" angegeben worden. Diese Unterlagen enthalten jedoch keine Angaben über die Gründe, die den Kläger zur Aufgabe seiner Tätigkeit als selbständiger Bäckermeister bestimmt haben. In der Niederschrift über die Verhandlung mit dem VersorgA vom 14. April 1950 sind Gründe für die Aufgabe dieser Tätigkeit überhaupt nicht angeführt. Sie enthält nur Angaben über die aus verschiedenen Tätigkeiten in bestimmten Zeiträumen erzielten Einkünfte. Die Erklärung über die zusehends verschlechterte wirtschaftliche Lage stellt ausdrücklich nur die Begründung für die Abmeldung der Tätigkeit als Gastwirt beim Finanzamt dar. Diese Angaben lassen keine Feststellungen über die im vorliegenden Falle zu entscheidende Frage zu, ob und inwieweit die anerkannten Schädigungsfolgen zur Aufgabe der Tätigkeit als selbständiger Bäckermeister und im Zusammenhang damit zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage geführt haben. Auch die als Grund für den Antrag auf Löschung der Eintragung in der Handwerksrolle angegebene "Beendigung des Pachtverhältnisses" berechtigt nicht zu dem Schluß, daß nur der Ablauf des Pachtverhältnisses nicht aber die Versorgungsleiden die Aufgabe der Tätigkeit als selbständiger Bäckermeister erzwungen hätte. Insbesondere fehlt es an Angaben darüber, welche Gründe - wie etwa die Versorgungsleiden - zur Beendigung des Pachtverhältnisses geführt oder dessen Fortsetzung verhindert haben. Das LSG hat die Auskunft der Handwerkskammer für seine Begründung um so weniger verwerten dürfen, als der Kläger in seinem Schriftsatz vom 23. November 1966 dazu ausdrücklich bemerkt hatte, daß er im Jahre 1949 das Pachtverhältnis nicht mehr verlängert habe, weil eine ganz erhebliche Verschlimmerung der Veränderungen des linken Kniegelenkes eingetreten und diese Gesundheitsstörung 1950 auch als Schädigungsfolge anerkannt worden sei. Das LSG hat somit der Erklärung des Klägers vom 14. April 1950 und der Auskunft der Handwerkskammer vom 20. September 1966 Angaben entnommen, die nicht darin enthalten sind, und ist infolgedessen zu verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Schlußfolgerungen über die Gründe der zu dem Einkommensverlust führenden Aufgabe der Tätigkeit des Klägers als selbständiger Bäckermeister gelangt. Die Rüge einer Verletzung des § 128 SGG trifft somit zu. Die Revision ist aus diesem Grunde statthaft. Das angefochtene Urteil beruht auch auf dem gerügten Verfahrensmangel, weil das LSG möglicherweise anders entschieden hätte, wenn es die Beweise verfahrensrechtlich einwandfrei gewürdigt hätte. Das Urteil war daher aufzuheben. In der Sache selbst konnte der Senat nicht entscheiden, weil es infolge der Rüge des Klägers an einer verfahrensrechtlich einwandfreien Feststellung über die Gründe fehlt, die zur Aufgabe der Tätigkeit als selbständiger Bäckermeister und damit zu einem Einkommensverlust im Sinne des § 30 Abs. 3 BVG geführt haben. Die Sache war daher zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen